Kommunizieren heißt gemeinsam Atmen und wer zuhört, schenkt Energie: Was ich 2021 mit der Meisterstunde gelernt habe

Seit drei Jahren frage ich auf dieser Seite erfahrene oder ausgezeichnete Menschen eines Faches nach den Lehren aus ihrer Arbeit. Hier die 34 auffälligsten, schönsten oder hilfreichsten Sentenzen aus den Gesprächen der vergangenen Monate. Alle Bilder machte Gerald von Foris.

1

Der Aortenchirurg Maximilian Pichlmaier
Der Aortenchirurg Maximilian Pichlmaier

Die Vorbereitung auf wichtige Aufgaben geschieht im Unterbewussten, sagt Aortenchirurg Maximilian Pichlmaier: »Ich erkläre dem Patienten immer, dass die Planung für einen komplexen Eingriff in der Nacht zuvor entsteht, weil ich dann die Operation im Kopf durchlaufe; während ich schlafe reift mein Vorgehen im Unterbewusstsein. Auf den Ansatz mit der Schlauchschelle bin ich während der Operation gekommen, aber ich behaupte, dass er schon vorher in meinem Kopf vorhanden war. Ich wusste mir in jenem Moment nicht anders zu helfen und probierte es aus. Es funktionierte und seitdem haben wir es ein paarmal gemacht. Ich lebe mit meiner Arbeit, sie begleitet mich die ganze Zeit. Vor einer komplexen Operation wache ich morgens auf und habe vor Augen, wie sie vor sich gehen wird, inklusive Plan B und C, falls Plan A scheitert. Ich sehe auch die Weichen, an denen ich von A nach B wechsle oder von B nach C.«

2
Erst die Summe der hinzugewonnenen Fertigkeiten und Erfahrungen macht unsere Arbeit gut, sagt Maximilian Pichlmaier: »Wenn ich bei einem Patienten die Herzklappe, die aufsteigende Hauptschlagader und einen Teil des vorderen Aortenbogens ersetzen muss, ist das eine Menge Zeug! Und doch rechnen wir mit einem ernsthaften Komplikationsrisiko von weniger als fünf Prozent. Das ist für die Größenordnung des Eingriffes, bei dem wir den menschlichen Kreislauf für 20 Minuten komplett anhalten, nur noch das Hirn mit Blut versorgen und den Körper auf 25 Grad kühlen, extrem wenig. Das geht nur, weil wir ein unglaubliches Maß an Standardisierung und Routine erreicht haben – und den Eingriff häufig genug machen. Unsere Arbeit verbessert sich mit unserer Erfahrung und Routine.«

3

Katja Zukic und Raphaela Knein von der Bayerischen Hofglasmalerei »Gustav van Treeck«
Katja Zukic und Raphaela Knein von der Bayerischen Hofglasmalerei »Gustav van Treeck«

Kreative Arbeit verlangt immer wieder Distanzierung vom Objekt, sagen Raphaela Knein und Katja Zukic von den Werkstätten für Mosaik und Glasmalerei »Gustav van Treeck«, die von Gerhard Richter entworfene Fenster für die Abtei Tholey herstellte:
Knein:
Glasmalerinnen müssen es schaffen, gedanklich Abstand nehmen. Es tut aber gut, wenn jemand einen dabei an der Hand nimmt.
Zukic: Das war bei den Fenstern für Tholey häufig meine Aufgabe: Ich habe darauf hingewiesen, dass wir uns nicht im Detail verlieren dürfen, dass wir die Wirkung des Ganzen im Blick halten müssen. Unsere Malerinnen habe ich außerdem immer wieder auf bestimmte erkennbare Formen in den Mustern von Gerhard Richters Bildern hingewiesen. Das war die große Herausforderung: Sie mussten in der komplexen Ornamentik die Formen wahrnehmen, an denen sie sich orientieren konnten und diese buchstäblich großzügig malen.
Knein: Wir haben die Gläser zwischenzeitlich immer wieder ins Fenster gestellt. Wir lagen auch alle mal auf dem Boden und schauten durch die Scheiben in den Himmel. Das tat der Qualität so gut: Dass wir uns die Zeit genommen haben, unsere Arbeit kritisch zu hinterfragten. (…) Manchmal arbeite ich an einer Scheibe und da ist ein Aspekt, eine Stelle, ein klitzekleiner Punkt, der mich stört, schon die ganze Zeit, aber ich bekomme ihn nicht weg. Dann kommt häufig Frau Zukic und sagt »Lös’ dich von dem Detail und schau aufs Ganze!«

4

Schauspieler und Schriftsteller Christian Berkel, fotografiert von Gerald von Foris
Der Schriftsteller Christian Berkel

Schreiben ist ein unbewusster Vorgang, sagt der Schauspieler und Schriftsteller Christian Berkel: »Eigentlich fängt es immer schon im Bett an, wenn ich daliege, so kurz nach dem Aufwachen, in einer Art Halbschlaf, wenn ich noch nicht so wahnsinnig bewusst und intellektuell da bin. In dieser halben Stunde entwerfe ich den Beginn des Textes. Ganz diffus setzt sich in diesen Minuten zusammen, wo es hingehen könnte. (…) Fast jeder würde sagen, Schreiben sei ein intellektueller Vorgang des Nachdenkens und Niederschreibens. Das ist, nehme ich an, zumindest in Teilen ein Irrtum. Wenn ich zu analytisch arbeite, finde ich bestimmte Dinge nicht. Ich muss, finde ich, beim Schreiben einen möglichst starken Bezug zu meinem Unbewussten herstellen, zu Ideen und Bildern. Je mehr der Tag voranschreitet, je mehr der Tag mit seinen ganz normalen Anforderungen da ist, desto mehr fange ich an, buchstäblich nachzudenken und zu analysieren. Und dann schließt sich die Tür zum Unbewussten.«

5
Eine Arbeit wird dort interessant, wo sich Widerstand regt, sagt Christian Berkel: »Das Lesen von Marcel Prousts »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« vermittelte mir Durchhaltevermögen. Die ersten Versuche unternahm ich mit 16 Jahren, in der Schule, in Paris. Dort stand es halt auf dem Programm. Ich fand das Buch furchtbar und langweilig. Mit Anfang 20 las ich wieder darin und kam ein bisschen weiter. Erst mit Mitte dreißig überwand ich den toten Punkt. Das war eine Erfahrung, die ich wahrscheinlich ins Schreiben mit hinüber genommen habe: dieses sichere Gefühl, dass es dort interessant wird, wo sich Widerstand regt. Wenn Sie zu einem Projekt sagen »Prima, das kann ich, das mache ich sofort«, wird es vermutlich nicht spannend werden. Aber wenn Sie plötzlich dieses Gefühl bekommen, etwas machen zu müssen und es doch nicht recht zu können, dann verbirgt sich eine Erkenntnis dahinter, die tief sinken will.«

6

Der Astrophysiker Stefan Gillessen, fotografiert von Gerald von Foris
Der Astrophysiker Stefan Gillessen

Erkenntnisse entstehen, indem wir uns hochkorrigieren, sagt der Astrophysiker Stefan Gillessen aus dem Team des Physik-Nobelpreisträgers Reinhard Genzel: »Erkenntnis entsteht nicht auf einen Schlag, Erkenntnisse entstehen, indem wir uns hochkorrigieren. Wir schmeißen laufend schlechte Ergebnisse weg, um sie durch bessere zu ersetzen.«

7

Die Architektin Anna Heringer, fotografiert von Gerald von Foris
Die Architektin Anna Heringer

Gemeinsame Arbeit erzeugt Sinn, sagt die Architektin und Lehmbauexpertin Anna Heringer: »Unsere Idee von Partizipation ist kopfgesteuert: Wir reden, diskutieren und kritisieren, aber selten kommen wir physisch zusammen und bewegen etwas. Das ist so schade, weil ich immer wieder die Zufriedenheit erleben darf, wie sie während gemeinsamer Projekte entsteht. So wie in Worms zum Beispiel, wo wir gemeinsam mit einer Kirchengemeinde einen Altar aus Lehm gestampft haben. Der Altar ist, wenn Sie genau hinschauen, leicht aus dem Lot geraten, weil beim Stampfen die Schalung nachgab. Aber kein Mensch übte Kritik, weil ja alle mitgestaltet hatten. Eine Teilnehmerin sagte nachher: »Wir streiten so viel in unserer Gemeinde. Bei diesem Projekt aber hat kein Mensch gestritten. Um das zu schaffen, mussten wir alle für diese eine Sache zusammenhelfen.« Schon früher wurde mir bei meiner Zeit in Bangladesh die Kraft des Prozesses bewusst, die Sinnhaftigkeit der gemeinsamen Arbeit, weil sie gute zwischenmenschliche Beziehungen erzeugt. Diese Erfahrung wollte ich auch nach Europa bringen: Der Sinn meiner Arbeitsweise steckt im Prozess und nicht allein im Resultat.

8
Recherchiere für neue Projekte in dir selbst, rät Anna Heringer: »So sage ich das auch meinen Studierenden: Recherchiert für jedes neue Projekt zuerst in euch selbst. Dort sitzt noch ein Kind und ein Wissen davon, welche Räume ihr mögt und braucht. Atmosphären, die wir als Kinder mochten, tun uns auch als Erwachsene gut; Höhle und Nische sind archaische Muster, genauso wie das Baumhaus, von dem aus wir die Landschaft überblicken. Bislang habe ich in jedem meiner Projekte versucht, eine Art Höhle unterzubringen. Auch in meinem neuesten Bau für das Studienseminar St. Michael der Erzdiözese München-Freising in Traunstein: Dort gibt es dicke Fensternischen, gefüllt mit Kissen, versehen mit Schiebewänden zum Zurückziehen.«

9
Was ich mit Liebe mache, ist automatisch schön, sagt Anna Heringer: »Bauen in Entwicklungsländern bedeutete aus Sicht europäischer Architekten und Ingenieure immer schon Effizienz, Schönheit wurde als unnötiger Luxus empfunden. Das ist aber so, als würde ich Medizin ohne Empathie denken. Wie soll das gehen? Wie die Empathie in der Medizin ist die Schönheit beim Bauen ein formaler Ausdruck von Liebe: Wenn ich etwas mit Liebe mache, mit Achtung der Natur und Umwelt gegenüber, ist es auch nachhaltig.«

10
Nachhaltigkeit bedeutet, loszulassen, sagt Anna Heringer: »Das Zulassen der Vergänglichkeit, das habe ich gelernt, ist Kern von Nachhaltigkeit. Wenn wir im Einklang mit der Natur bauen wollen, müssen wir auch die Vergänglichkeit zulassen. Wenn wir partizipativ bauen wollen, müssen wir Imperfektion zulassen.«

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Nur Ideale spornen uns an, sagt Anna Heringer: »Erst gestern diskutierte ich mit Studierenden über einen Entwurf zu einer Siedlung in Vorarlberg im Rahmen des »Neuen Europäischen Bauhaus«, weil sie gleich vornweg Kompromisse schließen und Parkplätze für Autos einplanen wollten. »Nein«, sagte ich. »Wir fangen nicht bei der Realität an, wir planen ohne Autos! Wir fangen mit unseren Ideen immer beim Ideal an, nur das Ideal zieht uns weiter.« Wenn wir mit unseren Planungen auf der realistischen Ebene dümpeln, begeistert uns nix mehr; dann spornt uns nix an, dann gibt es keine Entwicklung. Wir brauchen in allem was wir tun ein Ideal, das uns anspornt, das Beste aus uns rauszuholen.«

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Landlust-Herausgeberin und Gründungschefredakteurin Ute Frieling-Huchzermeyer, fotografiert von Gerald von Foris
Landlust-Gründungschefredakteurin Ute Frieling-Huchzermeyer

Die Kombination unterschiedlicher Fähigkeiten führt zu einem besseren Ergebnis, sagt Ute Frieling-Huchzermeyer, Gründerin des Magazins Landlust: »Ich sah in der Redaktion immer ein Start-up. Meine Aufgabe begriff ich immer darin, die gewollt unterschiedlichen Fähigkeiten der Kollegen zu fördern und daraus das beste Gesamtergebnis entstehen zu lassen. Erfolg entsteht durch die unterschiedlichen Fähigkeiten verschiedener Menschen und Charaktere. Diese zu fördern und zu einem Team zusammenzubringen ist eine lohnende Aufgabe.«

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Der Ruderweltmeister Oliver Zeidler

Hochleistung setzt ein Gefühl von Sicherheit voraus, sagt Ruderweltmeister Oliver Zeidler: »Nur wenn ich mich in einer Situation komfortabel und sicher fühle, gebe ich meine komplette Leistung frei. Ich wusste zum Beispiel von Beginn an, dass ich mit Rudern niemals meinen Lebensunterhalt verdienen werde, dafür sind die Prämien und die Sponsorengelder zu niedrig. Deswegen habe ich auch entsprechend früh vorgesorgt und eine Ausbildung gemacht und neben dem Sport studiert, deshalb arbeite ich bei Deloitte. So bin ich für den Fall der Fälle aufgefangen. Es gibt mir Sicherheit, dass ich für meinen Lebensunterhalt arbeiten gehe – und nicht rudern. Sport ist wirklich mein Hobby. Wahrscheinlich bin ich der einzige Hobbysportler in der Weltspitze.«

14

Der Dirigent Cornelius Meister
Der Dirigent Cornelius Meister

Kunst verträgt keine Kompromisse, sagt der Dirigent Cornelius Meister: »Ich glaube in der Kunst nicht an Kompromisse. Große Kunstwerke sind aus Einzelentscheidungen entstanden – und manchmal vielleicht durch eine gewisse Dickköpfigkeit. Ein Richard Wagner hätte das Bayreuther Festspielhaus sicherlich nicht zustande gebracht, wenn er vorher mehrere Kommissionen und Gremien darüber hätte abstimmen lassen, welches Modell des Baus am besten geeignet wäre. Natürlich braucht es eine Lust daran, Menschen zusammenzubringen und zu überzeugen. Aber es muss am Anfang doch immer eine ganz klare Vision stehen: Wo möchte ich eigentlich hin? Über im engeren Sinne künstlerische Fragen kann ich diskutieren und habe eine große Freude daran. Aber wenn ich als Richtung A oder B vorgebe, wird es kein C geben – es sei denn, die Synthese ist wirklich besser als die These und die Antithese und nicht bloß der kleinste gemeinsame Nenner.

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Das Was ist wichtiger als das Wie, sagt Cornelius Meister: »Wenn ich anfange als Musiker, ist die Hauptfrage: Was will ich ausdrücken? Mich wundert manchmal, dass es beim Dirigieren und auch im Unterrichten häufig darum geht, wie ich etwas ausdrücke? Dabei müsste es doch erstmal darum gehen: Was möchte ich denn ausdrücken? Das »Wie« wird sich aus dem »Was« ergeben, nicht umgekehrt.«

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Gutes entsteht, indem wir in der Kreation Kopf und Bauch zugleich verwenden, so Cornelius Meister: »Mich persönlich interessiert überhaupt bei Kunstwerken in allererster Linie das Emotionale, wie es mich berührt und dadurch andere berühren kann. Natürlich ist es wichtig, dass ich mich mit der Stilistik von Mozart beschäftige, dass ich vielleicht auch die eine oder andere Quelle gelesen habe, die beschreibt, wie Verzierungen oder Triller in jener Zeit gemacht wurden. Eine nur wissenschaftliche Interpretation aber lässt mich kalt. Ich gehe am Ende ja musikantisch an die Sache, es geht um ein sinnliches Fest. Um dieses sinnliche Fest zu erzeugen, brauche ich zugleich Zugang zu meinem Wissen und zu meinen Emotionen.«

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Sprecher Axel Wostry, fotografiert von Gerald von Foris
Der Sprecher Axel Wostry

Mit diesem Trick kommen wir perfekt in unsere Vortragsstimme, sagt der Sprecher Axel Wostry: »Einmal musste ich in einer Produktion einen Vierzeiler lesen – und Vierzeiler sind wirklich wahnsinnig schwer zu lesen. Bis Sie in den Text finden, ist das Gedicht schon zu Ende. Der Regisseur sagte damals aber etwas Entscheidendes, das ich noch heute beherzige. Er riet mir, gedanklich jeden Text mit den Worten »Sie müssen sich das folgendermaßen vorstellen« einzuleiten. Und dann beginnen Sie mit dem Text, den Sie vortragen wollen. »Sie müssen sich das folgendermaßen vorstellen« ist noch heute mein Mantra, der Satz ist mein Tor zum Inhalt: Er sorgt dafür, dass ich nicht an den Worten klebe, sondern an die Bedeutung der Worte komme. Der Satz hilft Ihnen, hinter die Worte zu kommen, er hievt Sie auf die Erzählebene.«

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Kommunikation bedeutet gemeinsames Atmen, sagt Axel Wostry: »Bezogen auf das Sprechen auf jeden Fall! Vor allem im direkten Gespräch höre ich Ihnen zu, wie Sie Ihren Part sprechen, weil ich aus Ihrem Gedanken meinen Gedanken entwickle. Zwei Stimmen erzählen eine Geschichte und atmen gemeinsam.«

19
Bereite dich nicht zu 100 Prozent vor, rät Axel Wostry: »Es gibt ein tolles Gemälde eines japanischen Künstlers. Es zeigt ein Viereck, das aber an einer Stelle nicht geschlossen ist. Dieses Bild beschreibt meine Arbeit gut: Wäre mein Viereck beziehungsweise mein Vortrag geschlossen und perfekt, hätte ich ein Problem. Wenn ich das Viereck beim Lesen schließe, wenn ich es zu 100 Prozent so umsetze, wie ich es mir vielleicht am Tag vorher gedacht habe, nehme ich das Leben aus dem Text. Herbert von Karajan sagte den schönen Satz: »Wir müssen so proben, dass wir am Abend musizieren können.« Ähnlich ist es beim Sprechen. Ich bereite mich so vor, dass ich am Tag darauf noch Lust auf den Text habe.«

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Zuhören macht dein Gegenüber besser, sagt Axel Wostry: »Ich erlebe es, wenn ich Regie führe: Allein dadurch, dass ich mich hinsetze und wirklich zuhöre, wird mein Gegenüber, werden die Sprecherinnen und Sprecher besser. Weil Sie spüren, dass ihnen Interesse entgegengebracht wird.«

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Die Innovationsexpertin Deepa Gautam-Nigge
Die Innovationsexpertin Deepa Gautam-Nigge

Diversität erlaubt unerwartete Verknüpfungen und dadurch mehr Fortschritt, sagt Innovationsexpertin Deepa Gautam-Nigge: »Wer Diversität leben will, muss unbedingt weg von der industriell geprägten, arbeitsteiligen Organisationsform, in der alle über Jahre hinweg in ihren Silos schmoren. Wenn Teams hierarchiefreier, flexibler und gemischter arbeiten, können sie einfacher Innovationen vorantreiben. Viele Studien belegen den Wert gemischter Teams, in denen Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen verschiedene Positionen und Lebenserfahrungen einbringen und dadurch bessere Produkte erarbeiten. Neue Ideen entstehen durch unerwartete Verknüpfungen, nicht durch die Verbindung des Naheliegenden.«

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Es ist nicht schwierig, Einfluss zu nehmen, sagt Deepa Gautam-Nigge: »Ich habe aber auch etwas Elementares mitgenommen: Ich muss nur ein kleines bisschen über meinen eigenen Tellerrand schauen, um etwas zu verändern. Jedes Intro, das ich mache, jeder Hinweis, den ich gebe, jede Empfehlung, die ich ausspreche – all das ist mein Beitrag zur Veränderung. Es ist nicht schwierig, Einfluss zu nehmen. Viele kleine Schritte führen dazu, dass sich etwas bewegt.«

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Der Tänzer Alan Brooks, fotografiert von Gerald von Foris
Der Tänzer Alan Brooks

Du kannst im Zuschauen Energie schenken, sagt Tänzer und Tanzpädagoge Alan Brooks, der vor allem mit Schüler:innen an Mittelschulen arbeitet: »Ich lege während des Workshops Wert darauf, dass die Kinder aktiv zuschauen, wenn die anderen vortanzen. Sie sollen sie nicht beurteilen, sondern ihnen im Zuschauen Energie schenken. Diese Aufmerksamkeit behalten viele Klassen bei.«

24
Es zählt, dass du es versuchst, sagt Alan Brooks: »Ich erinnere mich an ein Mädchen, zwei Jahre über uns an der Tanzschule, Godiva, großartig im zeitgenössischen Tanz. Für das Ballett aber hatte sie den falschen Körper. Wenn sie im Tutu Schwanensee tanzte, sahen wir: Das ist nicht sie. Aber sie machte und schaffte es dennoch, mit purer Macht und Willenskraft. Ich werde diese eine Aufführung mit ihr nie vergessen … Godivas Balance im Ballett war wacklig, sie stand nicht auf Spitze – und war doch so schön, so stur, so bockig. Sie kämpfte, der Schweiß tropfte von ihrem Körper, sie gab nicht auf. Godiva zeigte uns, wie sehr der Wille zählt, der Geist einer Tänzerin. An ihr sahen wir, dass es im Tanz nicht wichtig ist, wie hoch du deine Beine bringst. Es zählt, dass alle sehen, dass du es versuchst. Die Seele dieser Performance werde ich nie vergessen. Ein Geschenk für uns als Zuschauer, sie zu erleben. Das war Rambert.«

25
Wissenshungrige Schüler:innen finden immer einen guten Lehrer, sagt Alan Brooks: »Richard Glaston zum Beispiel war ein legendärer Ballettlehrer in meinem Jahrgang an der Tanzschule in London. Er war damals schon alt und körperlich eingeschränkt. Er war hart und sehr besonders und unterrichtete ausschließlich verbal. Er formulierte präzise. Er sagte zu mir: »Ich hasse deine zweite Position.« Ich sagte verunsichert: »Okay …« Er fragte: »Willst du es besser machen?« Ich sagte: »Ja.« Also nahm er mein Bein und bewegte mich, fühlte die Muskeln, rief mich auf, erst diesen und dann jenen Muskel zu bewegen. Er fragte: »Spürst du die richtige Bewegung? Mach es nun wieder falsch. Spürst du den Unterschied?« Du musst im Ballett sehr genau arbeiten, sehr genau hinschauen. Ein Laie erkennt zwischen verschiedenen Haltungen häufig den Unterschied nicht. Es geht immer wieder um Kleinigkeiten – die Holländer nennen diese Arbeit Ameisenficken. Das beschreibt es ganz gut. Und meine second Position war nicht plötzlich perfekt. Ich bemühte mich und machte sie zumindest nie mehr falsch. Richard Glaston sah: Mit diesem Mann kann ich arbeiten. Wir wurden nicht an der Tanzschule aufgenommen, weil wir schon gut waren, sondern weil wir hungrig waren, mit dem Herzen dabei, weil wir es versuchen wollten. Oh, diese Zeit war so glorreich!«

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Wir brauchen Ehrgeiz, wenn wir als Mensch besser werden wollen, sagt Alan Brooks: »Generell fehlt im Umfeld dieser Kinder Ehrgeiz oder die Idee, dass sie etwas leisten könnten. Ehrgeiz braucht es aber nicht nur in Wettbewerben, wir brauchen Ehrgeiz beim Zuhören, beim Mutigsein oder wenn wir einander unterstützen. Wir brauchen Ehrgeiz, wenn wir als Mensch besser werden wollen. Ich hasse es, wenn die Kinder es nicht einmal versuchen. Wenn sie kämpfen und verlieren, ist es okay. Aber sie müssen es versuchen! Wenn du nix erwartest, bekommst du nix. Wenn ich eine Gruppe Fünftklässler habe, die davon ausgehen, dass sie versagen, geht das in ihre DNA. Aber vorher komme ich und frage sie: »Willst du kein gutes Leben, nur weil du in der Mittelschule bist? Willst du nur ein okayes Apartment, einen okayen Job, eine okaye Frau, okaye Kinder? Nein! Du willst ein Leben, das du liebst? Dann brauchst du Ehrgeiz.«

27
Verändere das Universum, sagt Alan Brooks: »Wissen Sie, die beste Correction, also die beste Anleitung oder den besten Verbesserungsvorschlag bekam ich von Carolyn Carlson, dieser großartigen Tänzerin. Es war, glaube ich, die einzige Correction, die für mich jemals wahrlich Sinn ergab: »Alles was du machen musst: Change the Universe.« Das ist alles: Du wachst jeden Morgen auf, veränderst das Universum und gehst nach Hause. In einer seltsamen Art ergab das immer Sinn für mich. Verändere einfach das Universum. Lösch es nicht aus, starte es nicht neu. Verändere es. Das versuche ich zu machen. Jeden Tag.«

28

Die Kabarettistin Martina Schwarzmann, fotografiert von Gerald von Foris
Die Kabarettistin Martina Schwarzmann

Die beste Weiterentwicklung ist, wenn du immer mehr zu der wirst, die du schon bist, sagt Kabarettistin Martina Schwarzmann: »Mein Sohn hat neulich einen Kommunionsanzug gebraucht. Meine Nachbarin hat drei Buben, die alle schon Kommunion hatten. Ich bin zu ihr rüber und hab’ gefragt, ob sie sie was in der Größe da hat? Sie hatte ein Kommunionsgewand da, ich hab’s mir für das Wochenende geliehen und zurückgebracht und mir einen Tag rumfahren und 500 Euro gespart. So versuche ich durchs Leben zu gehen: Wie ist es am einfachsten? Kühlschrank aufmachen, schauen, was da ist – und dann was kochen. Ganz einfach. Es ist sicher so, dass ich mit den Jahren gelassener werde, egal ob privat oder auf der Bühne. Ich bin immer mehr zu der geworden, die ich eh schon bin. Weil ich mich traue, die auch zu sein. Ich fahre zum Beispiel ein Auto, das ist bunt angemalt, immer dreckig, 400.000 Kilometer auf dem Tacho. Vor zehn Jahren wäre ich mit dem Auto nicht zum Auftritt gefahren, jetzt finde ich es extralustig, wenn ich den fertigsten Karren habe. Mir ist wurscht, was die Leute denken, wenn ich mit einem solchen Auto daherkomme.«

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Die beste Arbeit entsteht, wenn du Verschiedenes verknüpfst, sagt Martina Schwarzmann: »Kennen Sie mein Lied, wo der Pinguin am Bahnsteig steht? So denke ich: »Der Pinguin steht am Bahnsteig / und sucht nach’m Winter. Aber der Fahrplan geht nur bis Herbst / und dann kommt nix mehr dahinter.« Das mag ich: Verschiedenspurig denken in verschiedenspurigen Welten, mit verschiedener Logik. Das Ergebnis kombiniere ich dann zu etwas, über das man nachdenken kann.«

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Die Dioramenbauerin Elisabeth Straßer
Die Dioramenbauerin Elisabeth Straßer

Das Bewusstsein über den Kern einer Arbeit entsteht durch Praxis, sagt die Dioramenbauerin Elisabeth Straßer vom Deutschen Museum: »Ich habe immer gezeichnet, ich wollte schon als Kind Disney-Zeichnerin werden, dann Polizei-Zeichnerin. Im Zeichnen entstand mein Katalog an Bildern und Perspektiven, aus dem ich heute alles hole. Ich kann durch meine Vorerfahrung die Welt in geometrischen Figuren wahrnehmen, die ich dann auf Anfrage unterschiedlich in jeden Raum stelle. Wenn ich den Boden dieser Werkstatt hier zeichnen will, muss er im Bild nach hinten ansteigen. Das klingt einfach, aber diesen Umstand muss ich mir für die Umsetzung irgendwann bewusst machen. Die vielen gespeicherten Bilder und die Erfahrung im Zeichnen sind nur das eine. Das andere ist das Bewusstsein darüber, wie Motive zusammengesetzt sind. Dieses Bewusstsein entsteht mit den Jahren. Dadurch kann ich mit den Bildern aus meinem Katalog frei assoziieren und arbeiten.«

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Die eigene Begeisterung spiegelt sich in der Qualität einer Arbeit, sagt Elisabeth Straßer: »Es macht Spaß, weil immer Neues kommt. Wir haben für die Abteilung Chemie zum Beispiel einen Kalkofen gebaut und dabei gelernt, dass früher entlang der Isar viele Kalköfen standen – der Erstgeborene bekam den Bauernhof, der Zweitgeborene den Kalkofen. Das Kalkbrennen wurde dann per Dekret verboten, weil für die Kalkgewinnung so gigantisch viel Wald gerodet worden war. Mit diesem Thema hätte ich mich normalerweise nie auseinandergesetzt. Gleiches gilt für die Protonenpumpe, die ich für die Chemie gebaut habe. Im Moment lese ich mich in die Quantenphysik ein. Diese Abwechslung ist toll, es gibt kein Thema, das nicht als interessant herausstellt. Meine Begeisterung macht meine Arbeit gut. Das ist das erste und wichtigste. Wenn ich Spaß habe, wird das später im Werkstück spürbar.«

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Souveränität und Energie bringen ein Werkstück zum Leben, sagt Elisabeth Straßer: »Manche malen ganz langsam und bedächtig an einer Linie – wenn ich das sehe, geht mir die Luft aus. Ich will, dass ein Strich schnell gesetzt ist, mit Schwung. Selbst wenn er eine Nuance verschoben ist, erst diese Energie erweckt ihn zum Leben. Ein Motiv wird überhaupt nur lebendig, wenn ich es locker und sicher setze; wenn ich es tot male, verschwindet alles Lebendige. Wenn Erfahrung und Herzblut zusammenkommen, geht etwas auf; wenn ich nicht nur für einen Auftrag male, sondern ich etwas von meiner Arbeit will und erwarte, dann entsteht diese Sicherheit, diese Souveränität, die sich schließlich im Werk spiegelt.«

Fotos: Gerald von Foris