Tänzer Alan Brooks über seine Arbeit an Schulen: »Es zählt, dass du es versuchst«
Seit mehr als zehn Jahren reist der Choreograph und Tänzer Alan Brooks an bayerische Schulen und arbeitet mit Klassen, in denen es hakt. Die Lehrkräfte sind von der Wirkung des Mannes begeistert. Ein Gespräch über zerbrochenes Selbstbewusstsein von Kindern, die Funktion von Ehrgeiz und die Sache mit dem Universum. Portraits: Gerald von Foris
Die Turnhalle der Theodor-Heuss-Mittelschule in Deggendorf an einem Mittwochvormittag. 20 Schülerinnen und Schüler einer fünften Klasse üben gemeinsam mit Alan Brooks: Sie wärmen sich auf, rennen, greifen nach der Decke, angetrieben von Musik. Alan Brooks wird laut, wenn er seine Kommandos ruft. Sein Englisch gefärbtes Deutsch hallt laut und fordernd durch den Raum.
»Ladies and Gentlemen« ruft er den Kindern zu und bittet sie, die Brust zu recken, Selbstbewusstsein zu signalisieren. Wer quatscht oder stört oder keinen Bock hat, dem rückt Brooks nah: »Wenn du dich falsch verhältst, nimmst du den anderen Energie. Du bist besser als das. Du kannst Energie geben, indem du zuhörst.« Einen Schüler hat er vorher mit den fröhlichen Worten »Willkommen in der Hölle, ich bin dein persönlicher Teufel« begrüßt.
Alan Brooks kam in London zur Welt, wurde Tänzer und lernte die Schönheiten und Qualen seines Berufes kennen. Er ist »Community & Youth Dance Advisor« der National Dance Company in Wales und Dozent an der Professur für Kunstpädagogik und Kunstdidaktik an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Dort leitet er das Projekt »Tanz an Bayerischen Schulen«. In vielen Wochen des Jahres unterrichtet er von Montag bis Donnerstag in ausgewählten Schulklassen die Schritte einer Performance, welche am Freitag vor der versammelten Schule zur Aufführung kommt. Unser Gespräch beginnt während einer Trinkpause.
Herr Brooks, wie läuft es mit der Klasse?
Alan Brooks: Der Tanz, den wir üben, gehört zu den Leichtesten in meinem Repertoire. Trotzdem versuchen mich die Kinder zu überzeugen, dass sie es nicht können – obwohl sie es können! Dabei ist es mir sogar wurscht, ob sie schön oder richtig tanzen. Es geht mir um die Energie, das Gefühl von: Ich bin dabei, gemeinsam mit meinen Klassenkameradinnen und -kameraden. Ich würde Geld drauf wetten, dass sie es bis Freitag schaffen.
Sie fordern die Kinder immer wieder zu einem aufrechten Stand auf: Schultern breit, Brust raus, ein gedachter Faden zieht den Kopf an die Decke. Warum ist Ihnen diese Pose so wichtig?
Das Stehen ist eine meiner Hauptbotschaften: Die Kinder selbst können bestimmen, wie die Welt sie wahrnimmt. Sie selbst müssen der Welt sagen, dass sie etwas wert sind. Vielleicht werden sie später nicht mehr Tanzen, doch alle werden sie ein Vorstellungsgespräch haben, sie werden flirten, sie werden Stress erfahren. Sie werden in diesen Situationen die Wahl haben, mit gebeugtem Rücken ein leises »Hallo, ich bin da« zu hauchen – oder mit gestrecktem Rücken ein lautes »Hallo, ich bin da!«
»Ich gebe den Kindern nicht, was sie wollen, sondern was sie brauchen.«
Die Klassleiterin sagte mir, dass es vor allem in der fünften Klasse darum gehe, das Selbstbewusstsein der Kinder zu stärken. Viele begreifen sich als Verlierer der Übertrittsphase in der vierten Grundschulklasse. Sie denken, die Noten würden ihre Persönlichkeiten beschreiben.
Dieses System war mal anders gedacht. Die Mittelschule, die Realschule und das Gymnasium waren Bildungswege, die horizontal nebeneinander lagen, um unterschiedlichen Talenten gerecht zu werden. Es waren drei verschiedene Wege, ohne Wertung. Und heute? Heute nehmen wir das System vertikal wahr: oben das Gymnasium, darunter die Realschule und unten die Mittelschule.
Was geht mit dieser veränderten Sicht einher?
Kinder leiden unter dieser Veränderung. Im Gymnasium haben sie Angst zu versagen, in der Mittelschule hören sie auf zu träumen. Ich frage mich: Wann wurde es weniger erstrebenswert, in einer Bäckerei zu arbeiten? Wann wurde eine akademische Ausbildung mit Erfolg gleichgesetzt? Diese veränderte Deutung kommt auch bei den Kids an, sie müssen sie verarbeiten. Die Schule allein kann diese Dynamik häufig nicht auflösen. Also brauchen wir Projekte wie »Tanz an bayerischen Schulen«, wir brauchen Theaterprojekte, wir brauchen Sozialarbeiter, um das zu heilen.
Sie reisen meist montags für Ihren fünftägigen Workshop an. Können Sie den Verlauf der Woche beschreiben?
Montag ist es wild und crazy. Ich bin neu, die Halle und die Gruppe sind es für mich auch. Das Aufwärmen ist wichtig, dann fangen wir an, choreografische Elemente zu finden, zu bauen. Dienstag erweitern wir das Programm und die Kinder sehen: Es ist Arbeit, richtige Arbeit. Mittwoch kommt häufig ein Tiefpunkt, es ist der letzte spielerische Tag. Donnerstag baue ich die Performance. Freitag wird geübt und präsentiert.
Sie achten darauf, dass Ihnen die Kinder zuhören: Eben bei der Besprechung im Sitzen haben Sie lange gewartet, ehe ein Junge erkannte, dass er mit seinem Geplauder stört. Wie stellen Sie Autorität her?
Ich kann nur reagieren. In manchen Gruppen muss ich mich klein und chillig machen, in anderen muss ich der schreiende Boss sein. Ich kann nur spiegeln, was sie brauchen. Ich gebe den Kindern nicht, was sie wollen, sondern was sie brauchen.
Arbeiten Sie oft an Gymnasien?
Das Projekt ist für Mittelschulen, Förderschulen und Realschulen gedacht. An Gymnasien gehe ich nur, wenn diese mit den genannten Schularten kooperieren. Natürlich mache ich auch anderes, ich arbeite für die Roland Berger-Stiftung, unterrichte Menschen mit Fluchterfahrung oder angehende Lehrerinnen und Lehrer. Die überwiegende Zeit aber verbringe ich an der Mittelschule – because they are the most fun!
Das heißt?
Die Kinder an der Mittelschule treiben mich in den Wahnsinn, aber sie sind lebendig. Ich mag lieber zu viel Emotion, zu viel Feuer als das Perfekte, das Brave. Ich habe eine Schwäche für Klassen, in denen alles in die Hose geht, wo keine Gemeinschaft entstehen will und keiner weiß, wie es weitergehen soll. Ich versuche dort hinzugehen, wo meine Arbeit etwas bedeutet.
»Plötzlich erkennen die Mitschüler: Hm, vielleicht ist mein Klassenkamerad doch nicht so stark, wie er immer tut – und die Klassenkameradin stärker als gedacht.«
In einer Übung versammeln Sie die Gruppe im Mittelkreis der Halle und bitten an vier Seiten je ein Kind, aus dem Kreis zu treten. Sie selbst stellen sich nacheinander vor jedes Kind, das dann zu ruhiger Musik, Blick zu Ihnen, sanfte Tanzbewegungen beginnt. Die Schülerinnen und Schüler im Hintergrund vollziehen alles nach. Eine bewegende Szene.
Für diese Gruppe war die Übung wichtig. Manche sind glücklich, dass sie vorne stehen, dass die Gruppe ihnen folgt. Andere sind plötzlich in Not, weil ihnen die Bestätigung fehlt: Bin ich cool? Wie reagieren die anderen in meinem Rücken auf meine Bewegungen? Plötzlich erkennen die Mitschüler: Hm, vielleicht ist mein Klassenkamerad doch nicht so stark, wie er immer tut – und die Klassenkameradin stärker als gedacht. Auch für die Lehrkräfte stecken Hinweise darin.
Melden sich Lehrkräfte nach dem Ende der Projekte wieder bei Ihnen?
Ja.
Mit welchem Feedback?
Ich hatte in Düsseldorf eine Gruppe an einer Förderschule für schwer Erziehbare. Eine heftige Gruppe, die Kinder waren immer an der Grenze zum Ausrasten. Ein Junge hatte das schlimmste ADHS ever. Ohne seine Pillen konnte er kaum sitzen, alles zog seine Aufmerksamkeit an, er war ungreifbar. Und doch: Es wurde das erste Projekt an der Schule, das 13 Kids begannen und 13 Kids beendeten. Die Schulleiterin sagte mir, es gebe nun eine Zeit vor dem Tanzprojekt und eine Zeit nachher.
Was änderte sich mit Ihrer Arbeit?
Die Kinder wissen nun, dass sie etwas können. Die Lehrer wissen besser, wozu die Kinder in der Lage sind. Sie können die Kinder ansprechen: »Du hast Träume und Kraft – sag mir nicht, du kannst nichts, ich hab es doch gesehen.« Oder: »Stell dich so hin, als wäre Alan hier!« Ich lege während des Workshops Wert darauf, dass die Kinder aktiv zuschauen, wenn die anderen vortanzen. Sie sollen sie nicht beurteilen, sondern ihnen im Zuschauen Energie schenken. Diese Aufmerksamkeit behalten viele Klassen bei. Und, das ist das vielleicht schönste Feedback, das ich bekommen kann: Einige Kids arbeiten heute als Tanz- oder Theaterpädagogen.
Wie wurden Sie Tänzer?
Als ich mit 16 Jahren in London meine A-Levels machte – die in etwa mit dem Abitur in Deutschland vergleichbar sind –, durfte ich wie alle anderen ein Zusatzfach belegen. Ich entschied mich für Tanz. Und verliebte mich komplett.
Aus dieser Liebe wuchs Ihr Beruf: Sie wurden nach Ihrem Schulabschluss an der »Rambert School of Ballet and Contemporary Dance« in London aufgenommen, einer bekannten Schule für zeitgenössischen Tanz.
Es war der Himmel! Heaven! Rambert ist eine der Top-3-Schulen in Großbritannien, die perfekte Schule für mich und eine ausgezeichnete Schule für Männer. Ich habe dort alle Angebote genutzt, die es gab, und jede Stunde aufgesogen, als sei sie meine letzte unter der Sonne.
Warum war die Schule so gut für Sie und für Männer im Speziellen?
Die Männer dort kamen traditionell aus sozial schwierigen Verhältnisse, die Gruppe war sehr gemischt. Anders als die Frauen steckten die meisten von uns im Ballettunterricht zum ersten Mal in Strumpfhosen.
Und Sie wurden dennoch aufgenommen?
Natürlich hatten einige schon Tanzerfahrung. Die Frage bei der Aufnahme war aber nicht, was du bereits kannst, sondern wieviel du bereit bist zu geben! Ich erinnere mich an ein Mädchen, zwei Jahre über uns, Godiva, großartig im zeitgenössischen Tanz. Für das Ballett aber hatte sie den falschen Körper. Wenn sie im Tutu Schwanensee tanzte, sahen wir: Das ist nicht sie. Aber sie machte und schaffte es dennoch, mit purer Macht und Willenskraft. Ich werde diese eine Aufführung mit ihr nie vergessen …
Weshalb?
Godivas Balance im Ballett war wacklig, sie stand nicht auf Spitze – und war doch so schön, so stur, so bockig. Sie kämpfte, der Schweiß tropfte von ihrem Körper, sie gab nicht auf. Godiva zeigte uns, wie sehr der Wille zählt, der Geist einer Tänzerin. An ihr sahen wir, dass es im Tanz nicht wichtig ist, wie hoch du deine Beine bringst. Es zählt, dass alle sehen, dass du es versuchst. Die Seele dieser Performance werde ich nie vergessen. Ein Geschenk für uns als Zuschauer, sie zu erleben. Das war Rambert.
Welche Lehrerin oder welcher Lehrer beeinflusste Sie am meisten?
Im Ballett unterrichtete uns Hope Keelan, eine Lehrerin der Royal Ballet School. Wenn wir mit ihr übten, konntest du nachher das Kondenswasser von den Wänden streichen. Es war »the work«, die Arbeit, es war der Himmel!
Was machte Hope Keelan so besonders?
Sie tanzte selbst mit, sie peitschte uns auf und war persönlich beleidigt, wenn wir nicht alles gaben.
Tanzten die Lehrkräfte immer mit?
Nein, das nicht. Richard Glaston zum Beispiel war ein legendärer Ballettlehrer in meinem Jahrgang, damals schon alt und körperlich eingeschränkt. Er war hart und sehr besonders und unterrichtete ausschließlich verbal.
»Es war als würde mir jemand den Schlüssel zu meinem wahren Zuhause in die Hand drücken.«
Wie stelle ich mir das vor?
Er formulierte präzise. Er sagte zu mir: »Ich hasse deine zweite Position.«
Oh.
Ich sagte verunsichert: »Okay …« Er fragte: »Willst du es besser machen?« Ich sagte: »Ja.« Also nahm er mein Bein und bewegte mich, fühlte die Muskeln, rief mich auf, erst diesen und dann jenen Muskel zu bewegen. Er fragte: »Spürst du die richtige Bewegung? Mach es nun wieder falsch. Spürst du den Unterschied?« Du musst im Ballett sehr genau arbeiten, sehr genau hinschauen. Ein Laie erkennt zwischen verschiedenen Haltungen häufig den Unterschied nicht. Es geht immer wieder um Kleinigkeiten – die Holländer nennen diese Arbeit Ameisenficken. Das beschreibt es ganz gut.
Das klingt irre mühsam.
Das ist es auch. Und meine second Position war nicht plötzlich perfekt. Ich bemühte mich und machte sie zumindest nie mehr falsch. Richard Glaston sah: Mit diesem Mann kann ich arbeiten. Wir wurden nicht in Rambert aufgenommen, weil wir schon gut waren, sondern weil wir hungrig waren, mit dem Herzen dabei, weil wir es versuchen wollten. Oh, diese Zeit war so glorreich!
Es ist schön, Sie so schwärmen zu hören. Was glauben Sie, weshalb ragt diese Zeit so sehr aus Ihrer Erinnerung hervor?
Die Schulzeit war für mich als Kind und Jugendlicher die Hölle, weil ich sehr stark gemobbt wurde, wirklich heftig. Als ich dann mit 16 Jahren den Tanz für mich entdeckte, fühlte es sich an wie Heimkommen: Es war als würde mir jemand den Schlüssel zu meinem wahren Zuhause in die Hand drücken.
Das wahre Zuhause war Rambert?
Ich war damals auf der Suche nach einem Platz in dieser Welt, an den ich wirklich gehöre. Rambert gab mir diesen Platz. Ich fühlte mich bis dahin wie ein kompliziertes Puzzleteil, das in kein Bild passt. Bis ich nach Rambert kam: Plötzlich, klick, fand ich meinen Ort. Was für ein wertvolles Geschenk! Ich lernte in Rambert, was Tanz sein kann und sein sollte. Es geht nicht darum, zur Musik zu hüpfen und schön aussehen. Die Bedeutung von Tanz geht weit, weit über die bloße Darstellung hinaus, sie reicht tief ins Leben.
Sie tanzten nach der Ausbildung zwei Jahre am Scottish Dance Theater in Dundee und unterrichteten nebenbei im Rahmen von Community Dance Projects in schwierigen Vierteln. Weshalb?
Alle Tänzer an staatlichen Theatern in Großbritannien müssen Projekte mit Schulen machen, sonst erhält das Ensemble keine Förderung.
Ein Blick auf Alan Brooks‘ Arbeit mit der fünften Klasse an der Theodor-Heuss-Mittelschule in Deggendorf. Es fotografierte Julia Reicher:
Ich nehme an, das ist nicht jedermanns Sache.
Manche Tänzer hassen es, manche dulden es, bei ein paar Freaks passt es wie die Faust aufs Auge. Eine Kollegin in Dundee und ich gehörten zu den Freaks. Wir meldeten uns für immer neue Projekte, because it made sense, es erschien uns richtig. Als ich dann ins Ensemble des Münchner Gärtnerplatztheaters kam, war meine erste Frage: Wo sind die Community Dance Programs? Die gab es nicht. Also fing ich an, das Projekt »Tanz in der Schule« aufzubauen. Als es zu Ende ging, sprang das Bayerische Kultusministerium ein und führte es fort. Heute arbeite ich als Dozent an der Katholischen Universität Eichstätt und das Kultusministerium fördert »Tanz an Bayerischen Schulen«.
Heißt das auch, dass Sie Ihre Tanzkarriere für die Arbeit an Schulen an den Nagel hängten?
Ich hatte für die Zeit nach dem Gärtnerplatztheater das Angebot, in der Tanzcompany von Carolyn Carlson in Frankreich zu tanzen – sie ist eine der Göttinnen des zeitgenössischen Tanzes. Das Kultusministerium wollte aber dringend meine Arbeit mit den Schulen fortsetzen und bot mir an, beides parallel zu machen. Und das tat ich: Über Jahre hinweg pendelte ich zwischen Frankreich und Bayern, kehrte Sonntagabend vielleicht von einem Gastspiel in Paris zurück und fuhr Montagmorgen nach Unterfranken in eine Schulturnhalle und schrie Kinder an. Dann kam ein Punkt, an dem ich mich für das eine oder das andere entscheiden musste. Ich blieb bei den Schulen.
»Tanz ist nonverbal. Du kannst ein Leben ohne Gesang oder bildende Kunst verbringen, aber an deinem Körper kommst du nicht vorbei: Du schleppst diesen Fleischsack immer mit dir.«
Wie haben Sie sich als Tanzpädagoge in den vergangenen 20 Jahren verändert?
Ich bin strenger geworden. Ich habe mehr innere Ressourcen und Lebenserfahrung. Wenn ich als Zwanzigjähriger mit Sechzehnjährigen arbeite, bin ich der große Bruder. Später wurde ich der schräge Onkel, heute bin ich der komische Opa.
Warum ist gerade Tanzen so geeignet, den Kindern dieser fünften Klasse neues Selbstbewusstsein zu vermitteln?
Tanz ist nonverbal. Du kannst ein Leben ohne Gesang oder bildende Kunst verbringen, aber an deinem Körper kommst du nicht vorbei: Du schleppst diesen Fleischsack immer mit dir. Vor allem junge Menschen in der Pubertät spüren das. Alles wird anders, der Körper verrät dauernd mehr als du willst. Tanz hilft, diesen Umbruch zu verarbeiten. Tanz vermittelt den Jugendlichen Werkzeuge, den Umbruch in dieser Zeit zu bewältigen. Sie brauchen nur sich selbst, Mucke und ein bisschen Mut.
Sie wurden selbst in Ihrer Schulzeit gemobbt. Warum zieht es Sie immer wieder an die Schulen zurück? Oder ist es gerade deshalb?
Falls ich mich Künstler nennen darf: Das ist typisch Künstler. Die Löcher in meiner Seele begleiten mich. Ich arbeite an etwas. Ich bringe mich mit und bin ehrlich. Auch als Tänzer war es mir superwichtig, ehrlich zu sein. Ehrlichkeit in der Bewegung ist alles. Wenn ich unterrichte, bin ich ehrlich. Meine Verantwortung ist ehrlich. Klar ist es pervers, wieder in der Schule zu sein. Wenn ich in England unterrichte, zucke ich beim Schulgong zusammen. In Deutschland habe ich mehr Distanz – der Gong, der zur Rückkehr ins Klassenzimmer auffordert, hört sich hier anders an.
»Generell fehlt im Umfeld dieser Kinder Ehrgeiz oder die Idee, dass sie etwas leisten könnten. Ehrgeiz braucht es aber nicht nur in Wettbewerben, wir brauchen Ehrgeiz beim Zuhören, beim Mutigsein oder wenn wir einander unterstützen.«
Mir fällt auf, dass Sie alle Kinder direkt anreden, immer ins Du gehen, selten von der Gruppe als ganzer sprechen. Weshalb?
Die Kinder werden häufig mit »ihr« angesprochen. »Ihr seid schlecht, ihr müsst besser sein, ihr habt das falsch gemacht«. Dieses »ihr« ist bedeutungslos, das »du« ist viel wichtiger: »Du hast es gut gemacht. Du kannst mehr. Ich meine nicht alle, ich meine dich.« Jedes Kind, das ist meine Botschaft, trägt Verantwortung für sich selbst, sein Verhalten, seine Träume.
»Gib mir Gold, nicht Silber« sagen Sie zu den Kindern, um sie zu motivieren. Warum reicht nicht auch Silber?
Generell fehlt im Umfeld dieser Kinder Ehrgeiz oder die Idee, dass sie etwas leisten könnten. Ehrgeiz braucht es aber nicht nur in Wettbewerben, wir brauchen Ehrgeiz beim Zuhören, beim Mutigsein oder wenn wir einander unterstützen. Wir brauchen Ehrgeiz, wenn wir als Mensch besser werden wollen. Ich hasse es, wenn die Kinder es nicht einmal versuchen. Wenn sie kämpfen und verlieren, ist es okay. Aber sie müssen es versuchen! Vielleicht muss ich es so sagen: Versuchen ist Gold. Wenn dabei Silber herauskommt – großartig!
Das mit dem Versuchen ist eine schöne Parallele zu dem, was Sie an der Rambert School erfahren haben.
Wenn du nix erwartest, bekommst du nix. Wenn ich eine Gruppe Fünftklässler habe, die davon ausgehen, dass sie versagen, geht das in ihre DNA. Aber vorher komme ich und frage sie: »Willst du kein gutes Leben, nur weil du in der Mittelschule bist? Willst du nur ein okayes Apartment, einen okayen Job, eine okaye Frau, okaye Kinder? Nein! Du willst ein Leben, das du liebst? Dann brauchst du Ehrgeiz.«
»Das ist alles: Du wachst jeden Morgen auf, veränderst das Universum und gehst nach Hause. In einer seltsamen Art ergab das immer Sinn für mich.«
Die Klassleiterin sagte mir eben, nachdem sie Ihnen zugesehen hatte, Sie würden mit Ihrer Arbeit Lichtpunkte auf der Seele der Kinder hinterlassen.
Das ist schön! Ich bin vor allem froh, wenn die Kinder erkennen, dass sie etwas wert sind.
Sie geben seit Jahren viel Energie in diese Arbeit. Nach allem was ich sehe und weiß, scheint diese Energie unerschöpflich. Wie erklären Sie mir das?
Wissen Sie, die beste Correction, also die beste Anleitung oder den besten Verbesserungsvorschlag bekam ich von Carolyn Carlson, dieser großartigen Tänzerin. Es war, glaube ich, die einzige Correction, die für mich jemals wahrlich Sinn ergab: »Alles was du machen musst: Change the Universe.« Das ist alles: Du wachst jeden Morgen auf, veränderst das Universum und gehst nach Hause. In einer seltsamen Art ergab das immer Sinn für mich.
Was heißt es für Sie?
Verändere einfach das Universum. Lösch es nicht aus, starte es nicht neu. Verändere es. Das versuche ich zu machen. Jeden Tag.
Fotos: Gerald von Foris
Hinweis: Vom Fotografen Gerald von Foris erschienen jüngst zwei Bildbände, die wir hier vorstellen und freundlich zum Kauf empfehlen.