Die Klinikseelsorgerin sagt: »Trost bedeutet einen Menschen wahrzunehmen und im Leiden nicht allein zu lassen«

Die Pfarrerin Ilka Wieberneit arbeitet als Klinikseelsorgerin am Rot-Kreuz-Klinikum München. Ein Gespräch über Krisen und die Frage, was uns tröstet

Hinweis: Das Gespräch stammt aus dem Jahr 2016 und ist Teil der aktuell zusammengestellten Interview-Miniserie »Projekt Trost«. Die begleitenden Bilder stammen von Gerald von Foris

Frau Wieberneit, was ist Trost?
Das ist nicht einfach zu erfassen. Trost ist so vielfältig wie die Menschen. Eben hatte ich eine palliativ betreute Patientin mit Magenkrebs. Sie weiß, dass sie auf den Tod zugeht, morgen wird sie verlegt und wir haben uns verabschiedet. Ich gab ihr ein kleines Holzkreuz in die Hand. Das mache ich ganz gerne in solchen Situationen, weil es vielleicht hilft, das bevorstehende Kreuz des Todes anzunehmen und zu begreifen, indem man es befühlen und sich selbst daran halten kann. Dann wollte ich noch ein bisschen den Horizont weiten und sagte ihr, das Kreuz sei ja auch Zeichen unserer christlichen Hoffnung. Da erschrak sie und sagte: »Bitte, nicht noch ein Leben!«

Ein Satz für die Ewigkeit.
Sie hat große Furcht, dass da noch ein solches Leben kommen könnte, wie sie es erlebt hat.

Wie alt ist die Frau?
Ende Siebzig. Sie hat den Punkt erreicht, an dem sie denkt: Jetzt ist dann auch irgendwann Ruhe. Andere aber finden genau diesen Punkt beängstigend.

Was meinen Sie damit?
Ich komme auf Ihre Eingangsfrage zurück: Wenn den einen die Hoffnung auf Leben tröstet, bedeutet das nicht, dass das auch einen anderen tröstet. Ich erlebe Menschen, in deren Leben soll kein Trost sein, die sind untröstlich.

Was machen Sie als Seelsorgerin dann?
Die Tatsache ernst nehmen, dass es dafür vielleicht wirklich keinen Trost gibt.

Fällt Ihnen ein Beispiel ein?
Meine eigene Mutter: ein Leben, das sich nur übers Leiden definiert. Wer inhaliert hat, dass er im Leben ein Opfer ist, für den kann es kaum einen Trost geben.

Auf dem Weg in Ihr Büro bin ich in den obersten Stock des Rot-Kreuz-Krankenhauses gefahren, wir sitzen in einem Zimmer gleich neben der Kapelle. Es ist schon ein Schritt, sich hier oben, im äußersten Winkel des Hauses einem Seelsorger anzuvertrauen, oder?
Es kommt nicht so oft vor, dass Menschen hierher zu mir kommen. Viele besuchen die Kapelle, ganz in der Stille, nur für sich. Zünden eine Kerze an. Schreiben ihr Gebet ins Buch. Meine Arbeit ist hauptsächlich das Zugehen auf die Menschen. Ich klopfe an die Tür ihres Zimmers und wende mich ihnen zu.

Mit welchem Ergebnis?
Viele freuen sich und sind dankbar, weil Pfleger und Ärzte kaum Luft für Gespräche haben. Ich kann mir Zeit nehmen und ihnen Aufmerksamkeit schenken. Da ist dann Gelegenheit und Raum für so ziemlich alles, was einem Menschen auf der Seele brennt: Ängste oder Ärger, Sorgen und Fragen wie es weiter gehen kann, das ganze Chaos von Gefühlen und Gedanken. Wenn Menschen darin wahr- und ernstgenommen werden, wenn sie das mit jemandem teilen können, erleichtert das schon. Durch das Erzählen oder durch die Fragen, die ich stelle, sortieren und gewichten manche Patienten viele Dinge in ihrem Leben neu.

Was ist die Voraussetzung für wirksamen Trost?
Es muss einem etwas fehlen, sonst braucht man ja keinen Trost. Wer seine Bedürftigkeit spürt, der kann auch Trost empfangen. Im normalen Leben sehen wir uns nicht besonders gerne als bedürftig. Es liegt, glaube ich, an der Zeit und am Selbstverständnis des Menschen.

Wie meinen Sie das?
Den meisten Menschen geht es heute ganz gut. Aber viele versuchen ja eher sich und alles drumrum immer weiter zu perfektionieren. Für Mangel und Bedürftigkeit ist da kaum Platz, jeder will nur immer super fit sein und top funktionieren. Erst an den Grenzen ihrer Kraft spüren die meisten, dass ihnen wirklich etwas fehlt oder dass etwas zu kurz gekommen ist. Und das betrifft meist nicht nur den Körper, sondern oft schon länger vorher die Seele oder das System der familiären Beziehungen. Es fehlt schon etwas, ehe der Körper krank wird.

Wie finden Menschen im Krankenhaus Trost, wenn gerade kein Seelsorger im Zimmer ist?
Ich sehe Schutzengelchen auf den Nachtkästen stehen. Talismänner. Neulich hatte eine Dame eine hinduistische Gottheit neben sich stehen. Manche lesen auch in der Bibel. Eine ganze Menge Menschen bringen spirituelle Ressourcen mit. Aber ganz wichtig ist die menschliche Zuwendung – vor allem durch Familie oder Freunde, durch gute Ärzte und Pflegekräfte.

»Es kann jemand noch so schwer krank sein –
wenn er sich gut aufgehoben weiß, kann er viel tragen.«

Erfahren die Menschen am Krankenbett die wahre Tragfähigkeit ihrer Beziehungen?
Manche sagen voll Verwunderung: „Ich wusste nicht, dass ich soviele Freunde habe! Dass die mich so mögen.“ Andere werden gerade in solchen Situationen sehr enttäuscht, weil sich die, die sie für Freunde hielten, gar nicht kümmern. Geliebt werden ist ganz wichtig. Aber beides kann passieren – dass sich nahe Beziehungen intensivieren oder verflüchtigen. Heute besuchte ich eine Frau, die bereits palliativ versorgt wird. Ihre Nachbarin versicherte, dass sie sich um ihr Haus kümmern werde. Die Patientin war so selig.

Sie sagten aber auch, dass menschliche Gegenwart als Trost nicht immer wirkt.
Eine meiner schwierigsten Situationen war, als mich ein Arzt bat, zu einer Patientin zu gehen, zu der das Personal jeden Zugang verloren hatte. Sie hatte eine schlimme Diagnose und war, als ich kam, bereits sehr gelb im Gesicht. Auch von mir wollte sie nichts – kein Gespräch, keine Zuwendung, sie lag wie versteinert in ihrem Bett.

Was haben Sie getan?
Ich merkte schnell: Da komme ich nicht hin. Auf dem Weg zurück in mein Büro hier oben ging mir die Frau im Kopf nach. Sie musste etwas derart Schlimmes zu bewältigen haben, dass sie keinen Schritt aus sich rausgehen konnte. Nach kurzer Zeit ging ich nochmal zu ihr und sagte, dass mich mein erster Besuch bei ihr so beschäftigen würde, dass ich ihr etwas geben wolle, wenn sie möchte. Plötzlich kam ihre Hand unter der Decke hervor. Sie öffnete die Finger und ich legte ein Kreuz hinein. Sie griff es ganz fest und nahm es mit unter die Decke. Das war eine eindrückliche Situation für mich. Für einen Moment war da etwas, eine Verbindung, einen kurzen Augenblick lang.

Wie ging es weiter?
Das konnte ich nicht weiterverfolgen, weil sie in eine andere Klinik verlegt wurde.

Was bewirkt es, wenn wir etwas halten?
Ich glaube, das ist letztlich so ein Halten wie man die Hand des Vaters oder der Mutter gehalten hat. Das hat was mit dem existenziellen Grundbedürfnis des Gehaltenwerdens zu tun: sich festhalten können. Festhalten kann man sich aber auch an Worten. In der Bibel steht in Psalm 23: »Der Herr ist mein Hirte. Mir wird nichts mangeln …« Und dann: »Dein Stecken und Stab trösten mich.«

»Für mich ist Trost ein transzendentes Geschehen, das gar nicht so dingfest zu machen ist; etwas, das kein Mensch wirklich in der Hand hat.«

Halt gibt Trost?
Etwas Empfangen oder Bekommen gibt Trost. Zuspruch gibt Trost.

Erfordert es Mut, Trost zu empfangen?
Vielleicht. Manchmal löst zum Beispiel ein geistlicher Trost auch Ängste aus. Heute war ich auf der Intensivstation bei einer Frau, deren Herz-OP nicht so lief wie erwartet. Ich fragte sie, ob ich ihr einen Segen geben dürfe. Ich dachte, das sei eine ganz niederschwellige Form der Zuwendung. Aber die Dame sagte sofort »nein«. Das Angebot löste Angst in ihr aus, nach dem Motto: Stehe ich nun kurz vor dem Schluss?

Was macht gute Seelsorger aus?
Eine gewisse Hörfähigkeit. Auch für das, was Menschen zwischen den Worten sagen. Sensibilität für das, was nicht immer sichtbar da ist oder auch unausgesprochen verstanden werden will.

Was unterscheidet Sie vom Psychologen?
Einiges. Mein anderer Hintergrund. Die geistlich-existentielle Dimension, die direkt oder indirekt immer mit ins Spiel kommt. Ich bin ja eher fürsorgend unterwegs. Und mein Blick ist nicht auf psychische Störungen oder Krankheiten geeicht, sondern auf die ganz normal verstärkten Belastungen in der Krankheitssituation und auf die Ressourcen, die ein Patient mitbringt.

Können Ärzte trösten?
Kürzlich war ich bei einer Dame in der geriatrischen Abteilung. Sie weinte, ganz extrem, und ich dachte: Muss ich einem Arzt bescheid sagen? Aber ich hielt es aus, weil ich diese Reaktion von vielen Kriegskindern kenne. Bestimmte Situationen holen mit unvorstellbarer Macht traumatische Erlebnisse hervor. Die Frau sagte mir später, was sie mehrmals in Kliniken erlebt hatte: Sie weinte und weinte und die Ärzte kamen schnell, um sie mit Medikamenten ruhig zu stellen. Jetzt war ich da und hielt ihr Weinen aus, eine ganze Weile. Sie beruhigte sich, ich blieb weiter da. Wir sprachen über die Wurzeln ihrer Aufregung. Sie beruhigte sich und es ging ihr bald besser. Als ich sie wieder traf, sagte sie: Es habe ihr so gut getan, dass ich das ausgehalten habe und dass sie in diesem Extrem nicht alleine war.

Bedeutet Trost, zu zweit zu sein?
Vergangene Woche besuchte ich in der Frauenklinik eine Frau, die wegen ihrer Krebserkrankung niedergeschmettert war. Sie lebt alleine und weiß nicht, wie es weitergehen soll. Ich gab ihr auch einen Segen und sagte, Gott möge seinen Arm um sie legen. Darauf sprang sie an und sagte: »Das wäre es wirklich, dass er seinen Arm um mich legt.« Ich habe sie dann stellvertretend in den Arm genommen.

Berühren, Aushalten, Zuspruch, Zuhören. Sind das vier Wesenselemente von Trost?
Würde ich schon sagen. Vielleicht reicht auch ein Wort: Wahrnehmen. Einen Menschen wahrnehmen und nicht alleine lassen in seinem Leiden.

Finden die Menschen in der Krankheit leichter zum Glauben?
Hm, nicht wirklich im Sinne einer Entdeckung des Glaubens. So romantisch ist das nicht. Aber es gibt spannende Zwischenstufen. Hier war ein Krebspatient, von Beruf Arzt, den ich lange begleitet habe. Er wollte nicht geistlich an die Hand genommen werden.  Aber unsere Gespräche über existentielle, auch religiöse Fragen schätzte er. Manchmal gab ich ihm auch einen Segen, den er auch schätzte. Er erzählte mir öfter von seinem glaubenden Freund. Er sagte aber auch, dass ihm dieser Glaube immer verschlossen geblieben sei. Ich sagte ihm, er sei gar nicht so weit entfernt von dem, was in meinen Augen mit dem Glauben verbunden ist. Nur sei ihm vielleicht der unmittelbare Zugang zu Gott und eine bestimmte Frömmigkeitspraxis verperrt. Und so, wie er das aufnahm, hatte ich den Eindruck, er fand darin auch etwas Tröstliches.

Wie beschreiben Sie das Wesen von Trost?
Für mich ist das ein transzendentes Geschehen, das gar nicht so dingfest zu machen ist. Ein Geschehen, das kein Mensch wirklich in der Hand hat. Das ereignet sich in der Tiefe als oder wie eine Begegnung mit dem Göttlichen, mit dem Heiligen. Und es hinterlässt ein Gefühl der Verbundenheit mit der Quelle der Liebe, oder der Lebenskraft, einen inneren Frieden, eine Freude und Dankbarkeit.

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