Der Kunstvermittler sagt: »In Rembrandts Bildern liegt etwas Beständigeres und Größeres als das augenblickliche Leid«

Können Bilder aus dem 17. Jahrhundert dabei helfen, persönliche Krisen und Sorgen in den Griff zu kriegen? Ein Gespräch mit dem Kunstvermittler Dr. Jürgen Wurst, der in der Alten Pinakothek in München den Menschen die Tiefe vieler Gemälde nahe bringt

Hinweis: Das Gespräch stammt aus dem Jahr 2016 und ist Teil der aktuell zusammengestellten Interview-Miniserie »Projekt Trost«. Die begleitenden Bilder stammen von Gerald von Foris

Herr Wurst, wie wird man Kunstvermittler?
Ich wollte schon nach der Schule Kunstgeschichte studieren, das hat aber aus familiären und finanziellen Gründen nicht geklappt. So habe ich eine Ausbildung bei der Landeshauptstadt begonnen. Als ich dort als Beamter anfing, dachte ich: Das kann es nicht gewesen sein. Mit 27 habe ich nochmal einen Anlauf genommen und Kunstgeschichte studiert. Heute arbeite ich wieder bei der Stadt und führe vier, fünf Mal im Monat Menschen durch die Pinakotheken.

Zu welchen Themen?
Die darf ich mir selbst ausdenken. Es gibt hier im Haus zum Beispiel mehrere Gemälde der Susanna im Bade. Daraus lässt sich gleich eine Führung machen: »Die Darstellung der Susanna in Mittelalter, Renaissance und Barock.« Ich mache aber auch gerne Bäh-Themen zu Sex und Erotik auf Bildern.

Weshalb sind das Bäh-Themen?
Damit kann man sich als Kunsthistoriker leicht ins Abseits schießen. Aber die Leute interessiert es.

Wie heißt Ihre aktuelle Führung?
»Geniale Schlampigkeit. Tintoretto in der Alten Pinakothek.«

Na, das klingt wirklich interessant.
Das ist eine Führung über Künstler und ihre genialen und, nun ja, ihre nicht so genialen Werke. Von Tintoretto hängen hier sehr gute und weniger geglückte Werke, und dafür gibt es einen Grund.

Der wäre?
Tintoretto verfolgte ökonomische Interessen. In seinem Gonzaga-Zyklus soll man vor allem die handelnden Akteure des Adelshauses erkennen. Die Belagerungsszenen im Hintergrund zeigt er sehr summarisch. Tintoretto malte auf riesigen Leinwänden, drei auf vier Meter, da kam es nicht immer auf jedes Detail an, der Eindruck eines Kampfes reichte. In erster Linie dienten die Gemälde der fürstlichen Repräsentation und dynastischen Legitimation, und, das darf man nicht vergessen, die Bilder waren ja auch schlicht als Dekoration gedacht.

Als Dekoration?
Ein böses Wort, aber Kunst hat eben auch dekorative Zwecke. Zu Tintorettos Zeit wurde bisweilen einfach nach Fläche bezahlt.

Kunst nach Quadratmetern.
Tintoretto war sich nicht zu schade dafür.

Ich möchte mit Ihnen darüber reden, was sich aus Malerei vergangener Jahrhunderte für das Leben in der Gegenwart und besonders über Trost lernen lässt. Nennen Sie mir ein Bild aus der Alten Pinakothek, das aus Ihrer Sicht besonders gegenwärtig ist.
Es gibt ein Gemälde des Rembrandt-Schülers Ferdinand Bol, auf dem sitzen und stehen Vertreter einer Amsterdamer Weinhändlergilde des 17. Jahrhunderts. Ein Gruppenbild, sehr niederländisch, sehr typisch. Das Bürgertum war vor 400 Jahren in den Niederlanden gesellschaftlich bestimmend: Der Adel spielte kaum eine Rolle, die Bürger waren verantwortlich für Armenfürsorge, für die Verteidigung und das soziale Gefüge der Städte. Rembrandts Nachtwache

Das berühmteste Bild im Amsterdamer Rijksmuseum …
… zeigt eine Bürgerkompanie, die einen Teil von Amsterdam zu bewachen hatte.

Was ist daran gegenwärtig?
Das Bild der Weinhändler aber auch der Nachtwache entstand aus einem Repräsentationsbedürfnis. Man wollte seine Rolle in der Gesellschaft zur Schau stellen. Nun sehen Sie sich Geschäftsberichte so mancher großer Unternehmen an. Prominent in Szene gesetzt: großformatige Fotografien der Vorstände, teilweise von berühmten Fotografen.

Vorstände haben dieselben Repräsentationsbedürfnisse wie einst die Bürger?
Sicher. Die Eliten stellen sich dar. Grundlegende gesellschaftliche Bedürfnisse sind heute nur wenig anders als vor 400 Jahren.

Der Philosoph Alain de Botton erarbeitete vor zwei Jahren im Amsterdamer Rijksmuseum die Ausstellung „Art is Therapy“, Kunst als Therapie. Er betrachtete einzelne Bilder unter therapeutischen oder tröstenden Gesichtspunkten. Seine Beobachtungen schrieb er auf Post-its, die neben den Bildern gingen. Gibt es in der Alten Pinakothek Bilder, die Sie zum Trost aufsuchen?
„Die Geißblattlaube“, das Verlobungsbild von Peter Paul Rubens und seiner ersten Frau finde ich ganz toll.

Weshalb?
Da sitzen zwei Menschen, zwei Individuen. Die sehen sich nicht an. Die reichen sich die rechte Hand auf eine beiläufige Art, als Zeichen des Ehebundes. Sie schauen den Betrachter auf unterschiedliche Weisen an. Das hat mich in partnerschaftlichen Krisen getröstet.

Wie?
Ich dachte beim Betrachten: So kann man auch miteinander leben. Ähnlich hat mich Rembrandt getröstet. Er zeigt einen tiefen Blick in die menschliche Seele, persönliche Probleme minimieren sich im Angesicht seiner Bilder. Ich hasse ja diesen Satz „Jetzt hab’ dich doch nicht so“ als Antwort auf ein Problem. Dahinter steckt eine unglaublich arrogante Haltung. Viel lieber ist es mir, wenn ich selbst erkenne, wie marginal eine Sorge ist. In der Beschäftigung mit Malerei gelingt mir das. In Rembrandts Werken liegt etwas, das beständiger und größer ist als das augenblickliche Leid.

Aber warum soll es mir besser gehen, wenn ich mein Leid in einen historischen Kontext stelle?
Ein Bild sagt nicht: Dein Leid ist unwichtig. Es ermöglicht aber einen anderen Blick. Als Betrachter und Leidtragender gehe ich einen Schritt zur Seite und kann das, worüber ich brüte, in Anbetracht des Bildes aus anderer Sicht sehen.

Nennen Sie mir ein Bild, mit dem Ihnen das gelingt.
Rembrandt hat …

… Rembrandt scheint ein guter Tröster zu sein.
Aber ja! Rembrandt hat Jan Six, den Bürgermeister von Amsterdam portraitiert. Ich kenne das Bild seit meiner Jugend und frage mich immer wieder: Wie kann man einen Menschen malen, der so in Gedanken versunken ist, aber dennoch über seinen Blick mit dem Betrachter kommuniziert? Jan Six ist im Bild ganz bei sich, als er den Handschuh anzieht und dem Betrachter in die Augen sieht. Er ist nicht nur ein lebender, sondern auch ein denkender Mensch. In seinen Augen sehe ich eine tiefe Erkenntnis der Dinge der Welt. Dieses Bild berührt mich zutiefst und tröstet mich zugleich.

Welche Bilder lösen bei Ihren Besuchern am meisten aus?
Die Bilder von Bartolomé Esteban Murillo mit den vielen putzigen Kindern. Die lösen am meisten aus, das rührt die Leute. Viele barocke Bilder rühren die Menschen, das ist auch ihre Absicht. Die Motive der Renaissance sind eher auf den Intellekt abgestimmt. „Der Kindermord von Betlehem“ von Rubens: schiere Emotionalität, tiefstes Barock. Oder „Die Opferung Isaaks“ von Rembrandt: Der alte Mann, der seinen Sohn umbringen soll und im letzten Moment von Gott gerettet wird. Das rührt mich zu Tränen, dieses Bild berührt mich unglaublich. Rembrandt ist es gelungen, diese winzige Sekunde zu malen, in der das Entsetzen weicht und die Erlösung ins Bewusstsein eintritt.

Ist das Bild tröstend?
Ja. Für einen religiösen Menschen ist es tröstend, weil Gott doch einschreitet.

Und auf einer nichtreligiösen Ebene?
Da wird es nicht so funktionieren denke ich. Wenn sie die erzählte Geschichte nicht kennen, wird das Gemälde seine ganze Kraft nicht entfalten können.

Erleben Sie Menschen, die im Museum Kraft schöpfen?
Eine Besucherin ist etwa 97 Jahre alt und kommt fast jeden Sonntag zu einem Führungsformat namens Cicerone, in dem zwei Kunstvermittler jeweils vier Bilder circa 15 Minuten lang besprechen. Zu maximal vier Werken geht sie mit, mehr schafft sie nicht. Die Beschäftigung mit Kunst gibt ihr Kraft, lenkt ab von den Schrecknissen des Alters.

Wie meinen Sie das?
Das Alter ist nicht einfach zu handhaben. Die Lebenskreise ziehen sich eng und enger. Hier im Haus weitet sich der Kreis. Man merkt ihr das an: Sie geht gestärkt, vielleicht wie aus einem Gottesdienst. Sie ist sichtbar beglückt. Vielleicht, weil sie trotz ihres unglaublichen Alters immer noch ihr Spektrum erweitert. Aus jeder Führung zieht sie eine neue Erkenntnis, vielleicht auch eine Gewissheit. Das tröstet über den Alltag hinweg. Wir Kollegen bewundern sie zutiefst, ich freue mich über jede Begegnung mit ihr – und diese Begegnung wiederum nimmt mir den Schrecken vor dem alt werden. Einmal habe ich eine Führung zur Darstellung von Leid auf Bildern gemacht: Mit jeder Leidensdarstellung wird auch Trost vermittelt. Die Kreuzigung Christi birgt auch Trost in sich – unter dem Kreuz und bei dem, der davor steht. Der Tod Christi als Trost für unser Leben und als Hoffnung auf ein Leben danach.

Was machen Sie bei der Stadt München?
Ich bin kommissarischer Sachgebietsleiter für die wirtschaftliche Jugendhilfe bei unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen.

Das heißt?
Viele Jugendliche sind ohne Eltern da. Wir kümmern uns um die Unterbringung, um Krankenhilfe, um therapeutische Versorgung, um sämtliche finanziellen Belange, schlicht um die Verwaltung.

Wie haben Sie das vergangene Jahr erlebt?
Anstrengend. Ende 2014 hatten wir zu siebt knapp 3500 Jugendliche zu verwalten. Im vergangenen Jahr wurden es noch mehr. Eine Kollegin hatte in einem Monat 900 Fälle zu bearbeiten. Unsere Sollzahl liegt bei 100 Jugendlichen je Monat und Mitarbeiter.

Sprechen Sie persönlich mit den Menschen?
Selten. Wir sind Verwaltungsbeamte und haben jeweils ein pädagogisches Pendant, das sich um die individuelle Ausgestaltung der Hilfe kümmert. Was braucht der Jugendliche? Ist er schwer traumatisiert? Ist das Mädchen schwanger? Muss es in eine Mutter Kind Einrichtung?

Hilft ihnen die Kunstvermittlung in Ihrer Arbeit?
Sie macht mir bewusst, dass man nicht immer nur auf die schlimme Seite des Lebens blicken darf. Es gibt auch die schöne. Manchmal mache ich innerlich zu, dann kann ich selbst in der Zeitung kein Bild von einem toten Kind am Strand sehen.

Sie sprechen vom Bild des dreijährigen Ailan Kurdi, der vor einem Jahr auf der Flucht über das Mittelmeer starb. Fotos zeigen ihn tot am Strand von Bodrum, es wurde zu einem Inbegriff für die Tragödien, die sich während einer Flucht abspielen. Sehen Sie dieses Bild durch Ihre Arbeit als Kunstvermittler anders?
Nein, es entsetzt mich nur.

Inwiefern?
Es wird mir zuviel, weil es mich hilflos zurücklässt. Ich kann nicht eingreifen. Der natürliche Reflex wäre: Oh Gott, ein verletztes Kind, ich muss helfen! Aber das kann ich ja nicht in diesem Augenblick. Diese Hilflosigkeit spüre ich oft, wenn ich solche Bilder sehe. Der Handlungsimpuls kann nicht ausgeübt werden – weil es ein Bild aus der Vergangenheit und aus der Ferne ist.

Kennen Sie die Biografien der Kinder, für die Sie im Jugendamt arbeiten?
Teilweise ja.

Was steht da drin?
Viele Fälle sind sehr leidvoll, einige weniger. Wenn ein Kind mit ansehen musste, wie der Vater vor ihm geköpft wird – das ist auch mit vielen Therapien nicht aus einem Menschen zu lösen.

Sehen Sie Bilder der Jugendlichen?
Ich habe von fast jedem Jugendlichen ein Bild in die Akte geklebt. Ein Name allein bleibt abstrakt, mit dem Bild wird der Mensch sichtbar. Wenn ich schon keinen direkten Zugang zu diesem Menschen habe, möchte ich mir wenigstens bewusst machen, dass sie eben keine Akte sind, sondern real existente Wesen. Ein Bild verändert den Umgang mit einem Namen.

Verstehe.
Das versteht aber nicht jeder. Ein Kollege sagte mir, er halte das nicht aus, er finde das unmöglich, er bekomme die Krise, wenn er eine Akte von mir aufschlage. Er möchte diese Nähe nicht.

Haben Sie dafür Verständnis?
Ich kann es nachvollziehen. Ob ich Verständnis habe, ist eine andere Frage. Ich bin eng mit ihm befreundet, aber wegen der Bilder haben wir uns bis aufs Messer gestritten.

Bilder lösen mehr aus als Worte.
Dazu sind sie da.

Zurück zur Übersichtsseite von »Projekt Trost«.