Corporate Influencerin Deepa Gautam-Nigge über Innovation: »Ideen entstehen durch unerwartete Verknüpfungen«

Vor vier Jahren schickte der Softwarekonzern SAP seine Mitarbeiterin Deepa Gautam-Nigge nach München: Die bayerische Landeshauptstadt begann sich zur Digitalmetropole von europäischem Rang zu entwickeln und Gautam-Nigge sollte ein Knotenpunkt des Ökosystems werden, Ansprechpartnerin für Hochschulen oder Startups. Ein Gespräch über einen ungewöhnlichen Job und das Wesen funktionierender Innovation. Fotos: Gerald von Foris

Frau Gautam-Nigge, Sie haben im Auftrag von SAP die Münchner Startup-Szene mit der Unternehmenswelt oder Hochschulgründerzentren mit Kapitalgebern verbunden. In der Digitalbranche sind Sie präsent – nicht zuletzt, weil Sie sich für mehr Diversität einsetzen. Edition F zum Beispiel nominierte Sie für den 25 Frauen Award als eine der Frauen, »die unsere Welt zukunftsfähig machen« …
Ja, zusätzlich zu meiner Arbeit für SAP bin ich als Person in den Vordergrund gerückt und bekannt geworden. Als nepalesische Rheinländerin in München, als Betriebswirtschaftlerin ohne Programmierkenntnisse in einem Techkonzern stehe ich sehr offensichtlich für gelebte Diversität.  

Hilft Ihnen diese Präsenz in Ihrer Arbeit?
Nachdem ich mich beruflich vor allem mit dem Zustandekommen von Innovationen beschäftige: natürlich, ja. Innovationen entstehen ohnehin an den Schnittstellen diverser Netzwerke. 

Das heißt?
Viele Studien belegen den Wert gemischter Teams, in denen Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen verschiedene Positionen und Lebenserfahrungen einbringen und dadurch bessere Produkte erarbeiten. Neue Ideen entstehen durch unerwartete Verknüpfungen, nicht durch die Verbindung des Naheliegenden.

Sie beschreiben damit einen Wesenskern von gelingender Innovation. Warum fällt es vielen Unternehmen dennoch schwer, ihre Denk- oder Arbeitsstrukturen zu verändern?
Wer Diversität leben will, muss unbedingt weg von der industriell geprägten, arbeitsteiligen Organisationsform, in der alle über Jahre hinweg in ihren Silos schmoren. Wenn Teams hierarchiefreier, flexibler und gemischter arbeiten, können sie einfacher Innovationen vorantreiben.

Ist das eine zentrale Erkenntnis aus Ihrer Arbeit?
Es ist sicher eine der wichtigsten. Innovation geht nicht ohne Blick über den Tellerrand, ohne Kontakt in ein Ökosystem, ohne Kollaboration zwischen Hochschulen und Unternehmen, zwischen Wissenschaft und Start-Up-Szene. »Driving innovation in the era of ecosystems« war von Beginn an mein Credo: Für SAP habe ich in den vergangenen Jahren eine Mittlerrolle übernommen und versucht, bei Veranstaltungen und in vielen Gesprächen eine Brücke für neue Impulse zu sein. 

Wie funktioniert Innovation im Zeitalter der Ökosysteme?
Mein Arbeitsprinzip lautet »Connecting the dots beyond the obvious«.

Das heißt?
Ich helfe Menschen oder Ansätze zu verbinden, die auf den ersten Blick nicht zusammenpassen. 

Die Corporate Influencerin Deepa Gautam-Nigge, fotografiert von Gerald von Foris
Die Corporate Influencerin Deepa Gautam-Nigge, fotografiert von Gerald von Foris

Wie profitierte SAP von dieser Arbeit des Verbindens?
Das lässt sich nur differenziert und aus mehreren Blickwinkeln beleuchten: Ich habe zum Beispiel Startups in unserem Accelerator-Programm platziert. Einige Unternehmen habe ich meinen Kollegen in der SAP-Standardunternehmensentwicklung vorgestellt. Wir haben neue Formate entwickelt, durch die wir die nächste Generation von Entscheiderinnen und Anwendern mit Ideen für mehr Innovation oder gelingende Digitalisierung begeistern. Bei SAP habe ich das erste Mentoringprogramm entwickelt, das sich gezielt an weibliche Gründerinnen richtet. Und in interdisziplinären Workshops haben wir gemeinsam mit SAP-Kunden wie Siemens oder Telekom sowie Startups und Wissenschaftlern an konkreten Konzepten für eine zukunftsgerechte Verwaltungsprozessen gerabeitet. 

Das sind viele und unterschiedliche Projekte.
Die Quintessenz ist, dass ich unser Unternehmen als Haus mit offenen Türen repräsentiere, das interessiert ist an neuen Entwicklungen. Erst gestern habe ich darüber in einer Vorlesung an der Universität St. Gallen gesprochen: SAP möchte als Innovationstreiber wahrgenommen werden, als Begleiter der digitalen Transformation. 

Mit der Software von SAP organisieren viele Unternehmen ihre Arbeitsabläufe, von der Personalführung bis zur Rechnungsstellung oder dem Bestellwesen …
Ja, allerdings wandeln sich die Märkte, neue Basis-Technologien entstehen in atemberaubender Geschwindigkeit. Unsere Kunden werden durch neue Anbieter ebenso herausgefordert werden wie wir selbst. 

Das heißt?
Wenn Sie wie SAP 77 Prozent aller weltweit orchestrierten Geschäftsprozesse mit ihrer Software unterstützen, ist es nur logisch, dass Sie mit Ihren Kunden im Gleichschritt innovieren und neue Wege gehen müssen. Wie so viele große, arbeitsteilige Konzerne kämpft auch SAP darum, diese Transformation, diesen Kulturwandel zu vollziehen. Mit dieser Zielsetzung arbeite ich inzwischen im Team für Corporate Development, also in der Unternehmensentwicklung. 

In einem LinkedIn-Beitrag haben Sie vier Punkte definiert, die aus Ihrer Sicht Innovation in Deutschland ermöglichen: Sie werben darin für sogenannte Innovationscluster, in denen auch konkurrierende Unternehmen gemeinsam an Innovationen arbeiten. Sie fordern, dass sich Unternehmen mehr wissenschaftliche Erkenntnisse zu Nutze machen, dass die Politik Investitionen vereinfacht und Unternehmen mehr mit Startups kooperieren.
Der Punkt mit den Investitionen entwickelt sich schon mal sehr erfreulich! Zumindest haben sich die Bedingungen für die Finanzierung von Startups in der Frühphase deutlich verbessert. Zur Finanzierung der späteren Wachstumsphasen müssten hierzulande die Töpfe noch etwas größer werden.

»Wenn Sie sich mit Innovationen beschäftigen, sehen Sie in die Zukunft, dürfen aber nie vergessen, dass Sie fürs Umsetzen die Menschen in ihren gegenwärtigen Strukturen und Gewohnheiten abholen müssen.«

Haben die besseren Startbedingungen damit zu tun, dass derzeit viele vermögende Menschen ihr Geld anlegen wollen und Startups so leichter an Kapital kommen?
Ich denke, dass die Gründungskultur stärker ins öffentliche Bewusstsein gerückt ist. Die zunehmende Zahl von deutschen Unicorns, an Unternehmen mit einer Bewertung von mehr als einer Milliarde Euro zeigt, dass aus den anfangs gern belächelten Startups auch »richtige« und richtig große Unternehmen werden können. Nur die Kluft zwischen Wissenschaft und Wirtschaft ist noch immer groß. Aber hier tut sich was: Die neugegründeten Bundesagenturen für Sprunginnovationen oder für Cybersicherheit haben den Brückenschlag im Sinn. Und schon seit 2017 gibt es die sogenannten Digital Hubs der Bundesregierung … 

Die Bundesregierung fördert nach Themenclustern geordnet zwölf digitale Hubs, in denen Gründerszene, Unternehmen und Forschung gemeinsam an Innovationen arbeiten.
Genau, ich habe die SAP als Gründungs- und Steuerkreismitglied des Digital Hub Mobility in München vertreten, in dem unter anderem Unternehmen wie BMW, Audi, Daimler, Google, Facebook, Infineon oder auch der ADAC zusammenarbeiten. Inzwischen vertrete ich die Interessen der SAP im Beirat der Digital Hub Initiative auf Bundesebene. 

Nun arbeiten Sie zusätzlich auch als Beirätin bei einem Wagniskapitalgeber und gehören zum Digitalbeirat von Schmitz Cargobull, einem Hersteller von Sattelanhängern …
… ein echter Hidden Champion aus dem deutschen Mittelstand!

Wenn Sie auf all diese Erfahrungen blicken: Was ist der Trick bei gelingender Innovation?
Wenn Sie sich mit Innovationen beschäftigen, sehen Sie in die Zukunft, dürfen aber nie vergessen, dass Sie fürs Umsetzen die Menschen in ihren gegenwärtigen Strukturen und Gewohnheiten abholen müssen. Das ist ein Prozess, der Zeit braucht. Als ich vor zwanzig Jahren gemeinsam mit einstigen Kolleg:innen von der RWTH Aachen eines der ersten B2B-Geschäftsmodelle in der Plattformökonmie in Deutschland vermarktete, welches erst durch »dieses neue Internet« möglich wurde, hatten viele Menschen bei unseren Kunden Angst: Sie sorgten sich, dass wir Ihnen mit unserem Service die Jobs nehmen. Eine unbegründete Furcht. Diese Jobs gibt es noch immer, nur lassen sie sich mit unseren Prozesswerkzeugen besser erledigen. In der Debatte um die Künstliche Intelligenz entdecke ich heute ähnliche Fragen: Ersetzt Sie den Menschen wirklich oder hilft sie ihm lediglich bei seiner Arbeit? Wo ist die Grenze zwischen menschlicher und maschineller Intelligenz? 

»Die Möglichkeit, schmerzlos zu operieren, revolutionierte die Medizin – nur durch die Anästhesie konnte sich die Medizin so weiterentwickeln.«

Kann es sein, dass Innovationspredigerinnen und -prediger immer wieder unterschätzen, wieviel Sorge manchen Menschen der Blick in eine übertechnisierte Zukunft bereitet?
Dazu muss ich Ihnen eine Geschichte erzählen. In einem Vortrag am Zentralinstitut für Translationale Krebsforschung der TU München sagte ich dem Publikum, dass ich die Anästhesie für eine der wichtigsten Innovationen der menschlichen Geschichte halte. 

Weshalb?
William Thomas Green Morton führte am 16. Oktober 1846 erstmals eine Tumoroperation mithilfe einer Äthernarkose durch. Seither spricht man von diesem Tag als Äthertag: Die Möglichkeit, schmerzlos zu operieren, revolutionierte die Medizin – nur durch die Anästhesie konnte sich die Medizin so weiterentwickeln. 

Was bedeutet das mit Blick auf die Zukunftsangst der Menschen?
Natürlich hatten die Menschen im 19. Jahrhundert auch Angst vor dieser Entwicklung, die Risiken der Anästhesie waren damals noch groß. Und doch haben sich die Mediziner aufgemacht und die Technik weiterentwickelt. Weltweit nahm die Zahl von Operationen sprunghaft zu, viele Menschenleben wurden seither gerettet. Vergleichbare Vorbehalte entdecke ich heute bei der Künstlichen Intelligenz: Wir wissen nicht genau, wohin sie uns führt, doch die positiven Effekte sind bereits im Alltag zu spüren, egal ob Sie sich mit Smartphone durch den Verkehr navigieren lassen oder ob Ihnen KI bei der Produktionsplanung hilft. 

Sie sagten einmal, dass Sie die Digitalisierung als vierte Kulturkompetenz neben Schreiben, Rechnen, Lesen etablieren möchten. Wie kann ich Digitalisieren als Verb verstehen?
Da muss ich mich wohl korrigieren: Wenn wir über Kulturkompetenz sprechen, sollten wir eher von Programmieren reden, nicht von Digitalisieren. 

»Jedes Intro, das ich mache, jeder Hinweis, den ich gebe, jede Empfehlung, die ich ausspreche – all das ist mein Beitrag zur Veränderung.«
»Jedes Intro, das ich mache, jeder Hinweis, den ich gebe, jede Empfehlung, die ich ausspreche – all das ist mein Beitrag zur Veränderung.«

Ist die Digitalisierung der entscheidende Treiber von Innovation?
Hm, ein Plattformgeschäftsmodell wie zum Beispiel Airbnb ist mit Blick auf die dahinterliegende Technologie, die Art und Weise der Interaktion und auch das Businessmodell völlig neu. Die digitale Technik ermöglicht hier lediglich ein Geschäftsmodell, in dem sich Anbieter und Kundin direkt finden. Sie ist also nicht der alleinige Kern der Innovation.

Viele gestandene Unternehmen mühen sich mit Innovationen und treiben zum Beispiel Ideenwettbewerbe an, deren Ergebnisse dann aber verpuffen. Was machen sie falsch?
Ein Ideenwettbewerb ist irrelevant, wenn ich das Ergebnis gar nicht will. Sie müssen es ernst meinen und von den Ideen, die eingereicht werden, wirklich welche umsetzen, indem Sie den Mitarbeiter:innen Freiheiten geben. Sonst bleibt es bei einer reinen Fingerübung. Siemens zum Beispiel ließ in einem Ideenwettbewerb darüber abstimmen, welche Vorschläge umgesetzt werden sollten. Wenn es etwa eine Idee zur Bewertung der Münchner Biergärten nach vorne geschafft hätte, hätte man eben diese umgesetzt. Ohne Wenn und Aber. Aus dieser Konsequenz entsteht Vertrauen in Ihre Absichten.

»Es ist nicht schwierig, Einfluss zu nehmen. Viele kleine Schritte führen dazu, dass sich etwas bewegt.«

Beschreibe ich Sie richtig, wenn ich Sie als Botschafterin verstehe, oder, mehr noch, als eine Art Konnektorin?
Oder als eine Art Corporate Influencerin, ja, vielleicht. Wenngleich das natürlich nicht gleichzusetzen ist mit meiner eigentlichen Funktion beziehungsweise Rolle bei SAP.

Ist nicht diese Rolle selbst schon eine Innovation?
Das mag sein. Ich bin sehr gut vernetzt und treibe an vielen kleinen Stellen die Innovationskultur in Deutschland voran. 

Würden Sie Ihre Rolle anderen Unternehmen empfehlen?
Ich glaube, meine Rolle gibt es in anderen Unternehmen bereits, in unterschiedlichen Ausprägungen. Gerade denke ich an Kenza Ait Si Abbou, die bei der Deutschen Telekom arbeitet und für einen wachen Umgang mit Künstlicher Intelligenz einsteht. Oder Katharina Krentz, die bei Bosch arbeitet und zusätzlich mehr als 3000 Menschen in sogenannten »Working out Loud«-Gruppen zusammengebracht hat: In einem 12-wöchigen Workshop lernen die Teilnehmerinnen, ihr Wissen nicht mehr zu horten, sondern mit anderen zu teilen. So entwickeln sie aktiv die Unternehmenskultur weiter. 

Sie haben es angedeutet, Sie sind vor Kurzem ins Corporate Development von SAP gewechselt. Wenn Sie zurückblicken: Was haben Sie gelernt in Ihren vier Münchener Jahren?
Bei aller Veränderungsgeschwindigkeit sind die Beharrungskräfte die gleichen wir vor zwanzig Jahren: In vielen Diskussionen zu Technologie und Innovation begegnet mir dieselbe Skepsis, wie ich sie kurz nach meinem Studium im Rahmen meines ersten Jobs im Startup kennenlernte .

Okay.
Ich habe aber auch etwas Elementares mitgenommen: Ich muss nur ein kleines bisschen über meinen eigenen Tellerrand schauen, um etwas zu verändern. Jedes Intro, das ich mache, jeder Hinweis, den ich gebe, jede Empfehlung, die ich ausspreche – all das ist mein Beitrag zur Veränderung. Es ist nicht schwierig, Einfluss zu nehmen. Viele kleine Schritte führen dazu, dass sich etwas bewegt.

Fotos: Gerald von Foris 

Hinweis: Vom Fotografen Gerald von Foris erschienen jüngst zwei Bildbände, die wir hier vorstellen und freundlich zum Kauf empfehlen