Dioramenbauerin Elisabeth Straßer über Qualität: »Wenn ich Spaß habe, wird das im Werkstück spürbar«
In den szenischen Schaukästen des Deutschen Museums, den sogenannten Dioramen, wird Wissenschaftsgeschichte sichtbar: Ein Gespräch mit Elisabeth Straßer, Leiterin der Bildhauerwerkstatt, über gelingende Wissensvermittlung, die Camera Obscura und das Entstehen von Souveränität. Portraits: Gerald von Foris
Für das Deutsche Museum Nürnberg haben wir eben ein Mars-Diorama von 2,5 mal 3 Metern gefertigt. Hier in der Werkstatt arbeite ich bereits am nächsten Objekt: Wir erzählen über drei Epochen hinweg die Geschichte der Camera Obscura, der Lochkamera. In der Antike sehen wir zunächst Aristoteles, der mit seinen Schülern unter einem Baum steht. Als bei einer Sonnenfinsternis der Mond vor die Sonne rückt, verfolgt Aristoteles die Lichtpunkte, die durch das Blätterwerk auf den Boden fallen. Er erkennt, dass die Sonnensichel gespiegelt zu sehen ist.
Als Dioramenbauerin lege ich immer einen Fokus und lenke den Blick: Ich steuere, wohin die Besucher schauen. Um dem Diorama Tiefe zu verleihen, zeige ich vorne alles detailliert und werde nach hinten unscharf.
Welche Wirkung erzeugt die Unschärfe?
Wenn Sie hier aus dem Fenster unserer Werkstatt über die Isar ans andere Ufer schauen, erkennen Sie manches nicht mehr exakt: Dort geht ein Mensch, seine Haarfarbe aber können Sie nicht mehr bestimmen.
Da haben Sie recht.
Durch diese Unschärfe erkennt Ihr Gehirn, dass dieser Mensch weit entfernt sein muss. Oder nehmen wir eines der Autos, die dort parken: Würden Sie das Auto am anderen Ufer exakt sehen, hätten Sie den Eindruck, Sie sähen ein Spielzeugauto vor sich. Erst die Unschärfe erzeugt das Gefühl von Distanz.
Wie erzeugen Sie die Unschärfe in Ihren Dioramen?
Wir brechen oder reduzieren zum Leidwesen der Kollegen bei Modellen die exakten Kanten und Linien, damit Sie als Betrachter zum Beispiel die Gesichtszüge einer Figur nicht mehr im Detail erkennen.
Was sehe ich in der zweiten Epoche Ihres Camera Obscura-Dioramas?
Direkt neben der Aristoteles-Szene gehen wir ins Kairo des Jahres 1000 nach Christus und besuchen den Wissenschaftler Alhazen. Er experimentierte mit Nachbauten der Camera Obscura und erkannte zum Beispiel, dass unser Auge ebenso funktioniert: Ein Motiv, das wir sehen, wird spiegelverkehrt auf unsere Netzhaut projiziert.
Wir blicken in sein Arbeitszimmer und sehen nebenan vor dem Haus auf eine Straßenszene in Kairo, im Hintergrund erkennen Sie eine Moschee.
Hier wird mir nochmal klar, was Sie beschrieben haben: Vorne sehe ich viele Details, nach hinten verschwimmt der Blick.
Ja. Vorne wurde die Tür zu Alhazens Zimmers von meiner Modellbaukollegin exakt mit Holz nachgebaut. Die Mauern der Häuser in der Gasse laufen nach unten zusammen, nach hinten ebenfalls, sodass wieder der Eindruck von Tiefe entsteht. Nebenan ist bereits die Szene der dritten Epoche angelegt, in der wir Johannes Kepler im 17. Jahrhundert sehen werden, wie er Besuchern einen Versuch mit einer Linse demonstriert.
Ein Camera Obscura-Diorama-Triptychon, sozusagen.
Ja, ich stelle Antike, Mittelalter und Neuzeit nebeneinander – und verbinde die drei Epochen zusätzlich durch einen Querblick: Beim fertigen Diorama werde ich auch seitlich mithilfe von Gucklöchern von Kepler, über Alhazen bis zu Aristoteles hindurchsehen können, der zur Sonne deutet. So wird klar, dass Wissen immer auf dem Wissen der Vorgänger aufbaut: Ohne Aristoteles’ Überlegungen wäre Alhazen nie auf das Camera Obscura-Prinzip gekommen. Kepler wiederum wusste von Alhazen.
»Ich stelle mir vor, mit welchem Vorwissen die Menschen kommen und entwickle entlang dieses Vorwissens die passenden Bilder.«
Entwickeln Sie solche zusätzlichen Kniffe selbst oder werden die vom Kurator der jeweiligen Abteilung vorgegeben?
Dieser Kniff ist von uns hier entwickelt. Der Kurator legt die Thematik fest, weil das Diorama in den inhaltlichen Kontext der Ausstellung passen muss.
Wie recherchieren Sie die Hintergründe?
Wir teilen uns die Recherche mit den Kuratorinnen und Kuratoren, weil beim Bauen der Schaukästen schnell viele praktische Fragen entstehen. Ist es zum Beispiel in Ordnung, wenn neben Alhazens Haus ein Basar zu sehen ist? Eine Ägyptologin erklärte uns, dass es zu der Zeit in der Gegend, in der Alhazen lebte, keine Basare gab – sehr wohl aber eine Moschee. Wir recherchierten dann auch die Ornamentik, die zu jener Zeit zum Beispiel beim Bau von Türen üblich war. Außerdem gibt es kein zeitgenössisches Portrait von Alhazen, weshalb wir ihn nicht von vorne zeigen, sondern seitlich – nur ein Bart lässt sich erahnen.
Es sollte in jeder Ausstellung im Deutschen Museum ein Diorama vorhanden sein. Wobei der Begriff Diorama weit ist. Auch das nachgebaute und begehbare Bergwerk im Tiefgeschoss des Museums ist ein Diorama.
Kann ich die christliche Krippendarstellung als eine Art Ur-Diorama verstehen?
Bestimmt. Als das Deutsche Museum eröffnet wurde, gab es in den Werkstätten auch viele Schnitzer, die aus der Tradition des Krippenbaus kamen und das handwerkliche Können besaßen, die Szenerien nachzuarbeiten. Einen besonders großen Einfluss auf die Entwicklung der Dioramen hatten aber die begehbaren Schaubühnen des 19. Jahrhunderts, etwa von Louis Daguerre: Er betrieb in Paris ein Diorama mit halbtransparenten Riesenpanoramen. Verschiedene Lichteffekte erzeugten den Eindruck von Bewegung und entführten die Besucherinnen und Besucher in fremde Szenerien und Landschaften.
Die Ochsentretscheibe ist sehr schön. Dort werden die Arbeit des Modellbaus und der Bildhauerei eins. Ich mag die Perspektive: Hinten geht es kurz bergab, ehe der Blick an den Horizont führt. So entsteht noch mehr Tiefe.
Nun sind mir online in wenigen Sekunden ganze Welten zugänglich. Mindert die Digitalisierung den Spaß am Diorama?
Digital habe ich zuhause. Im Museum will ich Dinge sehen, die ich Zuhause nicht habe: Flieger, Schiffe – und Dioramen.
Es ist schwierig, vorhandene Dioramen mit zum Beispiel Augmented Reality aufzupeppen – wenn wir auf ein Konzept ein anderes legen, betreten wir dünnes Eis. Gerade aber denken wir über ein Diorama für die Abteilung Luftfahrt nach, in dem es um die Luftfahrtbegeisterung vor dem 1. Weltkrieg geht. Wir möchten die Zuschauer zeigen, die eine Flugschau verfolgen, auch die Zaungäste, die Tribünen, die Hangars. Mit der Hilfe von Medientechnikern möchten wir Flugzeuge an den Himmel projizieren, die dort auf Knopfdruck fliegen. In einer solchen Konstellation wäre das Multimediale von Beginn an mitgedacht.
Was denken Sie, welches Bedürfnis stillen Dioramen?
Sie fordern unsere Phantasie heraus, wenn wir Szenen und Landschaften fertig denken dürfen: Immer wenn etwas nicht exakt ausgearbeitet ist, bleibt Platz für Phantasie.
Nun besteht die Bildhauerei hier in den Werkstätten des Deutschen Museums nicht nur aus dem Dioramenbau. Ihre Kollegin hier im Raum bearbeitet gerade eine lebensgroße Figur.
Das ist eine Astronautin für das »Space Lab« aus der alten Abteilung Raumfahrt, die bald in die neu gestaltete Raumfahrt kommen wird. In der alten Raumfahrt hing sie in anderer Position. Für die neue Position verändern wir Haare und Hände und reparieren ein paar Schäden, die beim Abmontieren der Figur entstanden.
Ja, wir bauen zum Beispiel auch Zellenmodelle für die Pharmazie, mit denen Begreifen haptisch wird. Hier, das Modell einer Kaffeekirsche: Wer langt da nicht gern hin?
Wie lange arbeiten Sie schon hier in der Bildhauerwerkstatt?
Dieses Jahr sind es 25 Jahre. Meine beiden Kolleginnen sind mit 20 und 15 Jahren auch schon lange dabei.
Sie scheinen in den Jahren Ihre Freude an der Arbeit nicht verloren zu haben.
Es macht Spaß, weil immer Neues kommt. Wir haben für die Abteilung Chemie zum Beispiel einen Kalkofen gebaut und dabei gelernt, dass früher entlang der Isar viele Kalköfen standen – der Erstgeborene bekam den Bauernhof, der Zweitgeborene den Kalkofen. Das Kalkbrennen wurde dann per Dekret verboten, weil für die Kalkgewinnung so gigantisch viel Wald gerodet worden war. Mit diesem Thema hätte ich mich normalerweise nie auseinandergesetzt. Gleiches gilt für die Protonenpumpe, die ich für die Chemie gebaut habe. Im Moment lese ich mich in die Quantenphysik ein. Diese Abwechslung ist toll, es gibt kein Thema, das nicht als interessant herausstellt.
Was macht Ihre Arbeit gut?
Meine Begeisterung macht meine Arbeit gut. Das ist das erste und wichtigste. Wenn ich Spaß habe, wird das später im Werkstück spürbar.
Wie gelingt das Vermitteln von Wissen?
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler denken nicht in Bildern. Meine Aufgabe als Bildhauerin ist es deshalb, Bilder zu entwickeln, die sich die Besucherinnen und Besucher vorstellen können. Ich stelle mir vor, mit welchem Vorwissen die Menschen kommen und entwickle entlang dieses Vorwissens die passenden Bilder.
Eine Kostümbildnerin sagte mir, sie recherchiere für einen Film so lange, bis sich vor ihren Augen ein Motiv forme, von dem aus sie ihre Arbeit angehen könne. Ist es bei Ihnen ähnlich?
Durchaus. Wenn der Kurator mir erzählt, was er dargestellt haben möchte, entstehen vor meinem geistigen Auge relativ schnell die ersten passenden Bilder.
Warum geht das schnell?
In meinem Kopf existiert ein Bilderkatalog, der durch viel Zeichnen, durch intensives Sehen angereichert wurde. In diesem Katalog blättere ich. Mit meinem gewählten Motiv gehe ich zum Kurator und in den seltensten Fällen sagt er viel dagegen. Zusätzlich recherchieren wir natürlich viel: Welche Bäume darf ich zeigen, wenn ich in der »Camera Obscura« Aristoteles im alten Griechenland darstelle? Online habe ich dazu einen Forscher der Universität Freiburg gefunden, der seine Doktorarbeit über die Bewaldung in Griechenland zum Jahr 400 vor Christus geschrieben hatte. Er half uns.
»Wenn Erfahrung und Herzblut zusammenkommen, geht etwas auf«
Ich habe erkannt, dass ich über das Zeichnen die Prinzipien von Perspektive verstanden habe.
Was meinen Sie damit?
Ich habe immer gezeichnet, ich wollte schon als Kind Disney-Zeichnerin werden, dann Polizei-Zeichnerin. Im Zeichnen entstand mein Katalog an Bildern und Perspektiven, aus dem ich heute alles hole.
Was genau holen Sie da?
Ich kann durch meine Vorerfahrung die Welt in geometrischen Figuren wahrnehmen, die ich dann auf Anfrage unterschiedlich in jeden Raum stelle.
Warum können Sie das?
Wir haben alle Bilder im Kopf. Aber wie bewusst ist uns, wie sie aufgebaut sind? Wenn ich den Boden dieser Werkstatt hier zeichnen will, muss er im Bild nach hinten ansteigen. Das klingt einfach, aber diesen Umstand muss ich mir für die Umsetzung irgendwann bewusst machen.
Verstehe.
Die vielen gespeicherten Bilder und die Erfahrung im Zeichnen sind nur das eine. Das andere ist das Bewusstsein darüber, wie Motive zusammengesetzt sind. Dieses Bewusstsein entsteht mit den Jahren. Dadurch kann ich mit den Bildern aus meinem Katalog frei assoziieren und arbeiten.
»Ein Motiv wird nur lebendig, wenn ich es locker und sicher setze.«
Schon, ja. Manche malen ganz langsam und bedächtig an einer Linie – wenn ich das sehe, geht mir die Luft aus. Ich will, dass ein Strich schnell gesetzt ist, mit Schwung. Selbst wenn er eine Nuance verschoben ist, erst diese Energie erweckt ihn zum Leben. Ein Motiv wird überhaupt nur lebendig, wenn ich es locker und sicher setze; wenn ich es tot male, verschwindet alles Lebendige.
Führt Sicherheit im Handwerk zu Souveränität in der Ausführung?
Das glaube ich schon. Sicherheit und Souveränität bedingen einander. Wenn es in mir »aufmacht«, wird es gut. Wenn es »zubleibt«, bleibt es verhalten.
Wenn Erfahrung und Herzblut zusammenkommen, geht etwas auf; wenn ich nicht nur für einen Auftrag male, sondern ich etwas von meiner Arbeit will und erwarte, dann entsteht diese Sicherheit, diese Souveränität, die sich schließlich im Werk spiegelt.
Sie haben keine Scheu vor weißem Papier, richtig?
Bei einem weißen Papier denke ich immer: Cool, schauen wir mal, was geht!
Portraits: Gerald von Foris
Hinweis: Vom Fotografen Gerald von Foris erschienen jüngst zwei Bildbände, die wir hier vorstellen und freundlich zum Kauf empfehlen.
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