Rundfunksprecher Axel Wostry übers Lesen: »Ich bereite mich heute so vor, dass ich morgen noch Lust auf den Text habe«
Seine Stimme begleitet vor allem Fernsehbeiträge und Hörfunkproduktionen des Bayerischen Rundfunks, zuletzt las er die Neuauflage von George Orwells »1984« als Hörbuch: Ein Interview mit dem Sprecher und Regisseur Axel Wostry – über seine Arbeit vor dem Mikrofon, den Weg hinter die Worte und diesen Satz, der den Einstieg in jeden Vortrag vereinfacht. Fotos: Gerald von Foris
Herr Wostry, wann ist ein Text gut lesbar?
Einen Text kann ich dann gut lesen, wenn er einen inneren Zusammenhang hat, wenn sich aus einer Aussage die nächste Aussage ergibt.
Warum ist das so wichtig?
Wenn der Text von Thema A erzählt und dann zu Thema C und D wechselt, ehe er wieder zu Thema B zurückkehrt, stehe ich als Sprecher vor einem Problem. Im Vorlesen kann ich Worte und Sätze nur nacheinander sagen, als lineare Abfolge. Auch das Publikum hat beim Zuhören keine Chance, zurückzuspringen. Daher die Bedeutung des inneren Zusammenhangs, der logischen Abfolge für das Verstehen.
Ich erkenne die Qualität eines Textes häufig daran, ob ich ihn gut vorlesen kann, ganz gleich ob es sich um ein Kinderbuch oder um eine Reportage handelt. Ist das auch Ihre Beobachtung?
Ja, Sie müssen bei einem Buch meist nicht mal eine Seite laut lesen, um zu spüren, ob der Rhythmus des Textes und ihr Atemrhythmus übereinander liegen. Das spielt auch in meiner Arbeit eine wesentliche Rolle: Wenn mir das Lesen physisch angenehm ist, wenn ich leicht atme, folgen mir die Hörerinnen und Hörer viel lieber.
Weil das Publikum mitatmet?
Weil es im Hören mitfühlt und mitatmet, ja.
Bedeutet funktionierende Kommunikation demnach gemeinsames Atmen?
Bezogen auf das Sprechen auf jeden Fall! Vor allem im direkten Gespräch höre ich Ihnen zu, wie Sie Ihren Part sprechen, weil ich aus Ihrem Gedanken meinen Gedanken entwickle. Zwei Stimmen erzählen eine Geschichte und atmen gemeinsam.
Wie haben Sie zum Sprechen gefunden?
Früher wollte ich Sänger werden, erkannte aber, dass mir sowohl Talent als auch Stimme dazu fehlen. Bei verschiedenen Anlässen trug ich aber in der Schule oder in Chorkonzerten Geschichten vor oder moderierte. Einmal las ich zur Weihnachtszeit im Rahmen eines Konzerts das Lukas-Evangelium, mir bereitete das Lesen große Freude. Als ich eines Tages während meines Lehramtsstudiums in München sah, dass der Bayerische Rundfunk Nachwuchssprecher sucht, bewarb ich mich – und wurde genommen. Ich machte aus meinem Lehramtsstudium ein Magisterstudium und nutzte die gewonnene Zeit für die Sprecherausbildung.
»Der Regisseur riet mir damals, gedanklich jeden Text mit den Worten »Sie müssen sich das folgendermaßen vorstellen« einzuleiten.«
Sie sagten mir im Vorgespräch, dass Sie einer der Ersten waren, die im Bayerischen Rundfunk vom Nachrichtensprechen zum künstlerischen Sprechen fanden.
Der Bereich war bis dahin von Schauspielerinnen und Schauspielern besetzt. Es dauerte aber eine Zeit, bis ich dort Fuß fasste.
Was zeichnet das Nachrichtensprechen aus?
Nachrichtensprechen geschieht anders als das künstlerische Sprechen live. Es kommt dabei sehr darauf an, dass ich mich möglichst wenig verspreche. In Sendungen wie der »Tagesschau« ist diese Gefahr besonders groß, weil sich viele Stories aneinanderreihen, die inhaltlich nichts miteinander zu tun haben. Bei den Nachrichten ist es noch wichtiger als sonst, präzise zu phrasieren, damit das Publikum in der Dichte der Information alles versteht.
Unter einem solchen Druck stehen Sie während einer Featureproduktion oder bei der Aufnahme eines Hörbuchs vermutlich nicht.
Das stimmt. Wenn ich einen Roman lese, trägt mich die Geschichte.
Mir kommt es manchmal so vor, als würde sich meine eigene Stimme täglich verschieden anhören, je nach Tageszeit und Zustand. Nur bei Ihnen scheint mir das anders zu sein: Wie schaffen Sie es, die immergleiche Axel Wostry-Stimme zu erzeugen?
Keine Sorge, Selbstwahrnehmung und Fremdwahrnehmung sind im Sprechen zwei völlig verschiedene Dinge. Es gibt Momente, in denen auch ich von meiner eigenen Stimme denke: »Um Gottes Willen, das klingt ja schauderhaft«. Und wenn ich dann die Aufnahme höre, ist es doch ganz gut – und umgekehrt. Sie dürfen nicht darauf achten, wie Sie sich selbst als Klingendem wahrnehmen, der Schein wird fast immer trügen.
Wenn ich vor Menschen etwas vorlesen soll, erlebe ich häufig, wie sich im Moment vor dem Anheben eine Spannung aufbaut: Plötzlich stehen die Worte unter Strom, meine Stimme scheint sich fürs Lesen zu verformen. Kennen Sie dieses Gefühl?
Natürlich. Einmal musste ich in einer Produktion einen Vierzeiler lesen – und Vierzeiler sind wirklich wahnsinnig schwer zu lesen. Bis Sie in den Text finden, ist das Gedicht schon zu Ende. Der Regisseur sagte damals aber etwas Entscheidendes, das ich noch heute beherzige. Er riet mir, gedanklich jeden Text mit den Worten »Sie müssen sich das folgendermaßen vorstellen« einzuleiten.
»Sie müssen sich das folgendermaßen vorstellen«?
Und dann beginnen Sie mit dem Text, den Sie vortragen wollen. »Sie müssen sich das folgendermaßen vorstellen« ist noch heute mein Mantra, der Satz ist mein Tor zum Inhalt: Er sorgt dafür, dass ich nicht an den Worten klebe, sondern an die Bedeutung der Worte komme.
Das ist interessant, es ist wie ein Vorwort, das Sie zu sich selbst sprechen, oder? Im Alltag leiten wir Erzählungen ja ähnlich ein, etwa mit einem »Du, heute ist mir was Verrücktes passiert«.
Ja, der Satz hilft Ihnen, hinter die Worte zu kommen, er hievt Sie auf die Erzählebene.
»Allein dadurch, dass ich mich hinsetze und wirklich zuhöre, wird mein Gegenüber, werden die Sprecherinnen und Sprecher besser.«
Was zeichnet das künstlerische Sprechen aus?
Beim Nachrichtensprechen verteile ich Information. Wenn ich hingegen einen literarischen Text lese, gebe ich den Worten Stimmung und Bedeutung mit. Den Anfang eines Hörbuchs werde ich anders gestalten, wenn ich weiß, dass ein bestimmter Moment die Entwicklung der Figur beeinflusst.
Sie müssen, nehme ich an, schon vorher wissen, ob eine Figur später zum Mörder wird.
Das wäre gut. Dann kann ich überlegen, ob ich das von Anfang schon ein bisschen durchscheinen lasse oder ob es eine komplette Überraschung sein soll.
Sie sagen, dass das künstlerische Sprechen lange Zeit den Schauspielerinnen vorbehalten war. Was unterscheidet Ihr Lesen von dem eines Schauspielers?
Kürzlich wurden die Rechte an George Orwells Roman »1984« frei. Es erschienen zwei Neuübersetzungen ins Deutsche von verschiedenen Verlagen, die nun auch beide als Hörbuch veröffentlicht wurden. Die eine Fassung sprach der Schauspieler Christoph Maria Herbst, die andere ich. Der Hessische Rundfunk verglich die Aufnahmen und erkannte, dass Herbst natürlich schauspielerischer an die Arbeit geht: Er spielt mehr, malt mehr aus. Mit mir hingegen, so beschrieb es die Autorin des Beitrags, wäre sie näher an der Geschichte gewesen, weil meine Art des Lesens die Hörerinnen und Hörer dazu auffordere, Phantasie zu entwickeln.
Was zeichnet Ihr Lesen aus?
Das habe ich mir mal überlegt und ich kann mit einer Szene antworten: Wenn ich aus dem Rundfunk nach Hause komme und meiner Frau erzähle, was den Tag über los war, spiele ich die handelnden Personen nicht nach. Ich erzähle vielmehr, was diese und jener gesagt haben und was ich davon halte. Ich vermittle mit meiner gesprochenen Emotion, ob mir die Erlebnisse oder Äußerungen angenehm waren. Genau so gehe ich das Lesen an.
An welche Projekte denken Sie besonders gerne zurück?
Ich habe die Hörbuchfassungen zu fast allen Thrillern der Gabriel Allon-Reihe von Daniel Silva gesprochen. Das ist mein umfangreichstes Projekt. Das vielleicht interessanteste Sachbuch, das ich lesen durfte, war ein Vortrag von Theodor W. Adorno aus dem Jahr 1958: Der Suhrkamp-Verlag transkribierte den Vortrag und übernahm Adornos Sprechdiktion in den Text. Das war wirklich sauschwer zu lesen, die Parataxen fanden kein Ende.
Ich kenne Sie vor allem als Radiostimme und als Sprechtrainer der Volontärinnen und Volontäre beim Bayerischen Rundfunk. Aber auch in vielen Filmen und Fernsehbeiträgen erkenne ich Ihre Stimme wieder. Ist es schwierig, auf bewegte Bilder zu sprechen?
Beim Fernsehsprechen bin ich quasi Teil eines Streichquartetts. Nehmen wir an, Sie sehen einen Beitrag mit einem Wasserfall. Die erste Geige spielt das Bild: Sie sehen den Wasserfall. Die zweite Geige spielt das Geräusch: Sie hören den Wasserfall rauschen. Das Cello spielt eine begleitende Musik zum Bild und zum Geräusch. Und ich? Ich bin die Bratsche. Wenn ich komme, sind die anderen bereits aufgenommen, und ich muss zusehen, dass sich alles zu einer Einheit fügt.
»Im Idealfall lese ich alles einmal durch und arbeite schließlich mit der Dachziegelmethode: Ich lese die Sätze 1 bis 4, dann lese ich die Sätze 2 bis 5, dann die Sätze 3 bis 6.«
Was leisten Sie in diesem Moment?
Im Grunde schaue ich mit Ihnen einen Film an und sage noch ein paar Sachen dazu, die sich aus dem Film alleine nicht ergeben. Mein Lieblingsbeispiel ist der Satz »Die Jungen bleiben neun Monate im Nest.« Im Fernsehen würde ich sagen »Die Jungen bleiben neun Monate im Nest.« Sie sehen junge Vögel, sie sehen ein Nest – aber neun Monate ist das einzige, das Sie nicht bildlich ausdrücken können. Diese Leistung übernimmt der Sprecher.
Wie bereiten Sie Ihre Texte für gewöhnlich vor?
Im Idealfall lese ich alles einmal durch und arbeite schließlich mit der Dachziegelmethode: Ich lese die Sätze 1 bis 4, dann lese ich die Sätze 2 bis 5, dann die Sätze 3 bis 6. So gehe ich schrittweise weiter, damit ich alle Übergänge hinbekomme, für den Fall dass der Text die sinnhafte Abfolge nicht nahelegt.
Viele Wörter empfinden lautmalerisch die Aktion nach, die sie auch beschreiben. Das Verb »purzeln« zum Beispiel. Hilft diese Deckungsgleichheit von Wort und Aktion beim Lesen?
Beim »Purzeln« muss ich nichts mehr machen. Wenn ich das mit der Stimme nochmals betone, wird es Kitsch. Wenn ich aber sage »Und plötzlich schwebte vor mir ein großer roter Ballon«, dann ist die Frage: Was ist mit dem? Ist der schön oder wirkt der bedrohlich? Ist es demnach ein großer, roter Ballon? Dann gebe ich der Beschreibung einen ganz anderen Ton. Sie sehen: In dem großen roten Ballon ist nix drin, beim Purzeln hingegen ist alles drin.
Das ist vermutlich ein Hinweis an alle Schreibenden: Die richtige Wortwahl hilft der Phantasie der Leserinnen und Leser auf die Sprünge.
Je stärker das Wort ist, desto weniger muss ich machen, desto weniger muss das Publikum leisten. Lediglich für die Formulierungen, deren emotionale Qualität nicht im Wort steckt, muss ich mit meiner Phrasierung eine Bedeutung finden.
Mit welchen Mitteln interpretieren Sie die Texte? Recherchieren Sie? Sprechen Sie mit den Urhebern, soweit das geht?
Wenn mein Vorwissen nicht genügt, muss ich nachfragen. In einem Beitrag für die Fernsehsendung »Schwaben & Altbayern« im Bayerischen Fernsehen hatte der Sprechertext einen ironischen Touch. Ein Landratsamt hatte Fristen versäumt, um bei der EU Gelder für bestimmte Projekte zu beantragen. Ich sah die Ironie in dem Text, konnte aber nicht einschätzen, wie stark sie gedacht war. Ich sprach mit dem Autor, der mir erklärte, dass diese Abteilungen genau dafür da sind, solche Anträge zu stellen. Sie hatten ihre Kernaufgabe nicht erfüllt. So wurde mir der Hintergrund der Ironie bewusst, und sie fiel schärfer aus. Bei literarischen Texten ist es meiner Phantasie überlassen, wie ich sie interpretiere.
Wann empfinden Sie Ihre Vorbereitung als abgeschlossen?
Es gibt ein tolles Gemälde eines japanischen Künstlers. Es zeigt ein Viereck, das aber an einer Stelle nicht geschlossen ist. Dieses Bild beschreibt meine Arbeit gut: Wäre mein Viereck beziehungsweise mein Vortrag geschlossen und perfekt, hätte ich ein Problem.
Weshalb?
Wenn ich das Viereck beim Lesen schließe, wenn ich es zu 100 Prozent so umsetze, wie ich es mir vielleicht am Tag vorher gedacht habe, nehme ich das Leben aus dem Text.
Sie lassen also in der Vorbereitung absichtlich Raum für spontane Entwicklung, damit Ihr Vortrag leben kann?
So ist es. Herbert von Karajan sagte den schönen Satz: »Wir müssen so proben, dass wir am Abend musizieren können.« Ähnlich ist es beim Sprechen. Ich bereite mich so vor, dass ich am Tag darauf noch Lust auf den Text habe.
Wie schaffen Sie es, Neugier für Texte zu entwickeln, die vielleicht nicht so interessant sind? Ich erinnere mich an einen Beitrag über die neue Düngemittelverordnung, den Sie lasen.
Die Düngemittelverordnung ist für mich persönlich unerheblich. Ich kann also nicht mit meinem eigenen Interesse arbeiten, wenn ich einen Text dazu lebendig vermitteln möchte. Deshalb denke ich beim Lesen an Menschen, für die diese Geschichte existenziell ist, weil sie wissen müssen, wie sie Dünger richtig einsetzen. So entwickle ich über meine Empathie Neugier für eine Geschichte.
Sie unterrichten künstlerisches Sprechen und absolvierten zu dem Zweck sogar eine Heilpraktikerausbildung. Weshalb?
Ich arbeite beim Unterrichten sehr viel mit Bildern. Wenn ich spüre, dass jemand ein Bild nicht aufnimmt oder versteht, kann ich in die Körperarbeit gehen und zum Beispiel fragen, wie ein Bild im Körper spürbar wird – und dazu ist ein gewisses medizinisches Grundwissen hilfreich. Das habe ich unter anderem von der Stimmbildnerin Charlotte Kaminski gelernt, deren Lehransatz ich übernommen habe.
Was hat Frau Kaminski Ihnen noch beigebracht?
Ich habe viel bei ihr gesungen. Im Singen sind die Töne länger und Sie lernen dabei Ihren Körper besser kennen. Vor allem aber habe ich bei ihr Zuhören gelernt. Sie konnte unglaublich gut zuhören.
Inwieferin ist Ihnen das heute nützlich?
Ich erlebe es, wenn ich Regie führe: Allein dadurch, dass ich mich hinsetze und wirklich zuhöre, wird mein Gegenüber, werden die Sprecherinnen und Sprecher besser.
Weshalb?
Weil Sie spüren, dass ihnen Interesse entgegengebracht wird.
Sprechen Sie als Regisseur Textpassagen vor?
Nie. Sonst würde ich meine Interpretation des Textes vermitteln. Meine Forderung ist: Sag, was da steht und erzähl mir die Bilder, die der Text in dir erzeugt. Wenn ich lediglich Wörter sage, ohne eine Vorstellung damit zu verbinden, erzeuge ich für das Publikum einen trockenen, uninspirierten Vortrag.
Wenn Sie auf Ihre Arbeit der vergangenen Jahrzehnte zurückblicken: Gibt es einen Leitsatz, der Ihre Arbeit überformt?
»Du musst bei dir bleiben.«
Das heißt?
Ob ich nun eine Violinsonate spiele, eine Figur in einem Drama darstelle oder eine Erzählung vortrage: In jedem dieser Fälle mache ich etwas, in dem ich nicht ich selbst bin. Ich erwecke ein fremdes Werk zum Leben. Und trotzdem muss ich darin ich selbst bleiben – indem ich die Bilder vermittle, die eine Sonate, ein Drama oder Text in mir auslöst.
Fotos: Gerald von Foris
Hinweis: Vom Fotografen Gerald von Foris erschienen jüngst zwei Bildbände, die wir hier vorstellen und freundlich zum Kauf empfehlen.