Aortenchirurg Maximilian Pichlmaier über Operationen an der Hauptschlagader: »Mein Vorgehen reift im Unterbewusstsein«
Eine Aussackung an der Aorta bedeutete früher für manchen Handwerker das Ende seiner beruflichen Laufbahn. Heute ist das anders: Mit modernen Methoden lassen sich mehr Menschen besser behandeln, sagt Maximilian Pichlmaier, stellvertretender Direktor der Herzchirurgischen Klinik und Poliklinik am Klinikum Großhadern in München. Ein Gespräch über heikle Momente im Operationssaal, das Entwickeln neuer Behandlungstechniken und was Pichlmaier von seinem Vater lernte, der in Deutschland die Palliativmedizin begründete. Fotos: Gerald von Foris
Herr Pichlmaier, wie werde ich Aortenchirurg?
Sie studieren Medizin, lernen Allgemeinchirurgie, fokussieren sich über eine erhebliche Anzahl von Jahren auf die Gefäß- und Herzchirurgie und spezialisieren sich dann vielleicht noch auf einen bestimmten Bereich. Bei mir war es die Aortenchirurgie. Sie ist in den vergangenen Jahren gewachsen, weil wir die Patienten besser behandeln und betreuen können – auch während einer Sternotomie, der Öffnung des Brustkorbes mit Unterstützung durch die Herz-Lungen-Maschine.
Sie behandeln vor allem die Hauptschlagader, die sich vom Herz durch den Oberkörper bis zum Becken zieht, richtig?
Ja, die Aorta entspringt auf der linken Seite des Herzens und leitet das Blut in den Kreislauf; sie bewegt sich wie ein eigenes Organ durch den Körper, ehe sie sich in die beiden Beckenschlagadern aufteilt.
Von Medizinerinnen und Medizinern höre ich immer wieder, dass sie zu bestimmten Zeitpunkten Mentoren hatten, die sie in ihre Disziplin zogen. Wie war das bei Ihnen?
Für bestimmte Abschnitte meines Lebens hatte ich in der Tat Mentoren, bei denen ich meine Ausbildung aufgesogen habe, denen ich großes Vertrauen entgegenbrachte. Mein emotional wichtigster Mentor aber war mein Vater.
Ihr Vater Heinz Pichlmaier war Direktor der Chirurgischen Universitätsklinik Köln. Er starb 2019.
Er war Allgemeinchirurg und wurde zum Wegbereiter der Palliativmedizin, als er in Köln die erste Palliativstation eröffnete und später die Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin gründete.
»Mein Vater zeigte mir, welch ungeheure Kraft sich aus
intermenschlichen Beziehungen ziehen lässt«
Im Nachruf dieser Gesellschaft wird er für seine visionäre Weitsicht gelobt, mit der er schon 1983 »vier Zimmer seiner chirurgischen Privatstation zur Verfügung stellte, um Räume für die erste Palliativstation Deutschlands zu schaffen«. Durchaus ungewöhnlich für einen Chirurgen.
Ja, in seiner Arbeit entstand eine ungewöhnliche Verbindung zwischen dem Handwerksberuf Chirurgie und diesem psychischen Aspekt der Betreuung von Patienten. Das ist keineswegs typisch für einen Chirurgen.
Wie war Ihr Vater?
Er pflegte einen hohen moralischen Anspruch an sich selbst. Urlaub und Arbeit gingen bei ihm flüssig ineinander über. Als Kinder empfanden wir es als sehr unangenehm, dass es keine Zeit gab, in der er nicht für seine Patienten ansprechbar war: Wir brachen ganze Urlaube ab, weil er zurück in die Klinik musste. Mittlerweile verstehe ich das, weil auch ich nachts ans Telefon gehe, wenn Anrufe aus der Klinik kommen – obwohl ich keinen Dienst habe.
Was haben Sie von Ihrem Vater gelernt?
Er vermittelte mir ein sehr hohes Maß an Selbstdisziplin. Und er zeigte mir, welch ungeheure Kraft sich aus intermenschlichen Beziehungen ziehen lässt – wenn man sich um diese Beziehungen bemüht.
Mit welchen Beschwerden suchen Patientinnen oder Patienten Sie auf?
Sie kommen häufig ohne Beschwerden, weil eine Aussackung der Hauptschlagader zu Beginn überhaupt keine Beschwerden verursacht. Viele stoßen auf die Erkrankung, weil vor ihnen ein Familienmitglied betroffen war – oder sie entdecken das Problem durch Zufall.
Wie stelle ich mir das vor?
Einen Patienten, den ich aktuell behandle, schickte seine Frau zum Kardiologen, weil sie erkannte, dass er immer weniger belastbar wurde. Er selbst wäre nicht darauf gekommen, dass etwas nicht stimmt: Unser Körper sorgt dafür, dass wir unsere eigene Einschränkung kaum wahrnehmen. Häufig entdeckt erst der Kardiologe im Routinecheck mithilfe von Ultraschall die erweiterte Hauptschlagader.
Wie behandeln Sie diese Erweiterung, das sogenannte Aneurysma?
Grundsätzlich müssen wir bei dem Eingriff ans Herz heran, um dort an der Hauptschlagader arbeiten zu können. Es gibt Fälle, in denen wir die Aorta in Teilen mit einer Gefäßprothese stützen oder ersetzen. Häufig genügt es aber auch, wenn wir sogenannte Stents einsetzen, die die Aorta von innen stützen und abdichten.
Die Öffnung des Brustkorbes, die Sternotomie, ist ein erheblicher Eingriff.
Das stimmt. Allerdings wächst die Brust innerhalb von drei Monaten wieder zusammen und die Patienten werden meist komplett gesund. Selbst ein Bauarbeiter, der körperlich schwer arbeiten muß, kann dann für gewöhnlich zurück an die Arbeit gehen und kommt nur noch in bestimmten Abständen zur Nachuntersuchung.
Was hätte eine Aussackung am Herzen vor 25 Jahren für den Bauarbeiter bedeutet?
Dass er arbeitslos wird.
Okay.
Wenn die Erweiterung der Hauptschlagader eine bestimmte Größe erreicht, besteht ein signifikantes Risiko, dass durch Blutdruck-Spitzen die Gefäßwand einreißt. Wenn wir den Arbeitgeber des Bauarbeiters über diese Gefahr informieren, wird er sagen, dass er dieses Risiko nicht tragen kann.
Ich verstehe.
Derzeit habe ich einen Spengler unter meinen Patienten, einen Alleinunternehmer mit eigenem Betrieb. Im Alltag schleppt er unter anderem Kupferblechrollen auf Dächer. Ohne unseren Eingriff wäre ein Weiterarbeiten für ihn nicht zu verantworten gewesen. Im Nachgang zur Operation sind nun gelegentlich Herzrhythmusstörungen aufgetreten, die von Schwindel begleitet wurden. Der Mann musste seinen Job am Ende doch aufgegeben – eine schwierige Situation und eine schwere Entscheidung.
Ihre Arbeit mit Patientinnen und Patienten reicht demnach über die Operation hinaus.
Die Diagnose ist einschneidend. Auch wenn die Behandlungsmethoden besser geworden sind, besteht viel Gesprächsbedarf. Ich muss die Patienten mitnehmen, sie müssen mir viel Vertrauen schenken. Es entsteht ein sehr individueller Behandlungsvertrag zwischen zwei Menschen, die sich über lange Zeit dieser Erkrankung stellen. Wir machen deshalb auch etwas, das für Chirurgen früher undenkbar war: Jeden Mittwoch habe ich Sprechstunde und sehe von morgens bis abends Patienten in allen Stadien der Behandlung. Diese Menschen bringen natürlich auch ihre alltäglichen Probleme mit. Meine Arbeit reicht also weit über die eines typischen Chirurgen hinaus.
Ist Ihnen das recht?
Ja, dieses ganze Paket an Aufgaben erfüllt mich.
»Die Chirurgie der großen Gefäße ähnelt der Arbeit eines Rohrlegers: Ich bin Klempner, wenn Sie so wollen.«
Sie sagen, dass sich die Behandlungsmöglichkeiten verbessert haben. Wo hat sich am meisten weiterentwickelt?
Wir haben 2019 mit den Gefäßchirurgen unseres Hauses einen Aortenbogen eines Patienten rekonstruiert, ohne dabei den Brustkorb zu öffnen und die Herz-Lungen-Maschine zu verwenden. Das war ein wesentlicher Schritt in der minimal-invasiven, sogenannten endovaskulären Versorgung.
Wie stelle ich mir das vor?
Wir führen eine Stentprothese über die Leiste eines Patienten durch die Hauptschlagader zum Aortenbogen. Dort setzt sich der Stent von alleine fest. Das schwierige ist, bei diesem Schritt den Stent auch mit den Kopf-, Hals- und Armgefäßen zu vernähen, die allesamt am Aortenbogen entspringen. Ein solcher Eingriff, wie wir ihn 2019 erstmals durchführten, ist bis dahin weltweit nur gut 30 Mal gelungen. So behandeln wir nun viele Patienten, die vorher nicht operabel waren, für die das Öffnen des Brustkorbes viel zu gefährlich gewesen wäre.
Woher stammt aus Ihrer Sicht die Inspiration für solch neue Operationsverfahren?
Häufig liegen die Neuerungen auf der Hand und werden dann durch technische Fortschritte möglich. Manchmal kupfern wir die Ideen aber auch aus einem anderen Segment ab, etwa aus der Kfz-Technik oder von Installateuren. Die Chirurgie der großen Gefäße ähnelt der Arbeit eines Rohrlegers: Ich bin Klempner, wenn Sie so wollen. Ich tausche kaputte Gefäßsegmente aus und stelle ihre Funktion wieder her. Der Unterschied zum klassischen Handwerker ist, dass ich es mit menschlichem Gewebe zu tun habe, dessen Konsistenz ich vor der Operation nie genau kenne. Während der Operation muss ich deshalb immer wieder meinen Plan ändern.
Um einen Plan verändern zu können, benötigen Sie vermutlich ein ganzes Bündel an alternativen Vorgehensweisen.
Deshalb schaue ich in andere Bereiche: Wie arbeiten die, mit welchen Hilfsmitteln? Die Idee, eine Verbindung zwischen zwei Gefäßen nicht durch physikalisches Nähen herzustellen, sondern einen Stent zu nutzen, der über eine gewisse Distanz hinweg durch Andruck von innen den erkrankten Gefäßabschnitt stützt, liegt ja völlig auf der Hand – aber Sie müssen erstmal darauf kommen! Zu dem Zweck müssen Sie mit offenen Augen durch die Welt gehen und nach rechts und links schauen.
»Ich lebe mit meiner Arbeit, sie begleitet mich die ganze Zeit. Vor einer komplexen Operation wache ich morgens auf und habe vor Augen, wie sie vor sich gehen wird, inklusive Plan B und C, falls Plan A scheitert.«
Was haben Sie sich zuletzt woanders abgeschaut?
Den Einsatz von Schlauchschellen.
Sie meinen die Schellen um einen Gartenschlauch?
Ja. Es gibt eine blöde Situation am Operationstisch: Bei einer Aortendissektion reißt die innerste Schicht der Aorta ein, und das Blut, das innen fließt, dringt zwischen die Schichten und spleißt die Aorta von oben bis unten auf. Der Patient droht zu verbluten. Plötzlich habe ich zwei Lumina: das korrekte Lumen und das falsche Lumen, das in der Wand der Aorta läuft. Wenn ich operiere, muss ich dafür sorgen, dass das Blut wieder umdirigiert wird und überwiegend im korrekten Lumen fließt. Ein Stent hilft dabei und stützt das korrekte Lumen durch Federdruck von Innen, indem er es aufspannt. Es kann aber passieren, dass durch kleine Löcher weiter unten in der Aorta wieder Blut rückwärts im falschen Lumen hochkommt …
Das bedeutet?
Ich habe meinen Stent in der Aorta und trotzdem dringt aus allen Stichen Blut, der Patient verblutet vor meinen Augen. An dem Punkt haben wir während einer Operation ein Band um die Stelle der Aorta gewickelt, die von innen vom Stent gestützt wurde – wir haben also das falsche Lumen eng an den Stent gepresst. Danach haben wir den Brustkorb des Patienten temporär verschlossen, die »Schlauchschelle« draufgelassen und drei Tage gewartet, bis das Blut im falschen Lumen gerann. Nach dem Entfernen der Schelle war alles wieder stabil.
Wie bereiten Sie sich auf Ihre Operationen vor?
Ich erkläre dem Patienten immer, dass die Planung für einen komplexen Eingriff in der Nacht zuvor entsteht, weil ich dann die Operation im Kopf durchlaufe; während ich schlafe reift mein Vorgehen im Unterbewusstsein. Auf den Ansatz mit der Schlauchschelle bin ich während der Operation gekommen, aber ich behaupte, dass er schon vorher in meinem Kopf vorhanden war. Ich wusste mir in jenem Moment nicht anders zu helfen und probierte es aus. Es funktionierte und seitdem haben wir es ein paarmal gemacht.
Können Sie beschreiben, wie der Prozess der unbewussten Vorbereitung Ihrer Arbeit funktioniert?
Ich lebe mit meiner Arbeit, sie begleitet mich die ganze Zeit. Vor einer komplexen Operation wache ich morgens auf und habe vor Augen, wie sie vor sich gehen wird, inklusive Plan B und C, falls Plan A scheitert. Ich sehe auch die Weichen, an denen ich von A nach B wechsle oder von B nach C.
Sie arbeiten mit weichem Gewebe. Was bedeutet das für Ihr Handwerk?
Es gilt Respekt zu entwickeln für die Tatsache, dass menschliches Gewebe keine kalkulierbare Materie ist, sondern von einem Patienten zum anderen unterschiedlich.
»Deshalb schaue ich in andere Bereiche:
Wie arbeiten die, mit welchen Hilfsmitteln?«
Können Sie das an einem Beispiel beschreiben?
Aus dem linken Herz verteilt die große Hauptschlagader das Blut in den Körper. Gleich daneben verläuft die große Lungenhauptschlagader. Bei einer Herztransplantation müssen wir beide Adern nähen, weil wir das neue Herz ja an beide anschließen wollen. Obwohl die Gefäße die gleiche Größe haben, sind sie so grundverschieden, dass ich mit einer Aktion, die sich an der einen Ader gut rechtfertigen lässt – das Verwenden einer bestimmten Nadelgröße oder einer bestimmten Fadenstärke – das andere Gefäß komplett kaputtmachen würde.
Welche Rolle spielt klassische Planung?
Wir planen natürlich jede Operation und besprechen im Team die kritischen Aspekte. Die Tiefe des Gespräches variiert abhängig vom Fall. Einen komplexen Eingriff mit vielen offenen Enden werde ich detaillierter besprechen als eine Routine-OP. Dass ich meine Operationen für mich selbst vorher durchlebe, das ist ein individuelles Vorgehen.
Aber wie ist es entstanden?
Ich glaube es rührt daher, dass es in meinem Spezialgebiet kaum Standardfälle gibt. Ich muss mich so flexibel wie nur möglich vorbereiten. Dazu gehört eben, dass der Operationsplan ohne mein aktives Zutun im Kopf heranreift.
Welche Fähigkeit ist Ihnen in den vergangenen 20 Jahren zugewachsen?
Ich glaube, mir ist vor allem Erfahrung zugewachsen.
Das gilt freilich für jeden Arzt und jede Ärztin.
Aber die Erfahrung individueller Fälle macht mich in ihrer Kumulation besser. Es geht bei uns nicht um eine bestimmte Fähigkeit: Erst die Summe der hinzugewonnenen technischen Fertigkeiten und Erfahrungen – und seien sie noch so klein – ergibt den Unterschied.
Welche Rolle spielt Routine in Ihrer Arbeit?
Wenn ich bei einem Patienten die Herzklappe, die aufsteigende Hauptschlagader und einen Teil des vorderen Aortenbogens ersetzen muss, ist das eine Menge Zeug! Und doch rechnen wir mit einem ernsthaften Komplikationsrisiko von weniger als fünf Prozent. Das ist für die Größenordnung des Eingriffes, bei dem wir den menschlichen Kreislauf für 20 Minuten komplett anhalten, nur noch das Hirn mit Blut versorgen und den Körper auf 25 Grad kühlen, extrem wenig. Das geht nur, weil wir ein unglaubliches Maß an Standardisierung und Routine erreicht haben – und den Eingriff häufig genug machen. Unsere Arbeit verbessert sich mit unserer Erfahrung und Routine.
Wie häufig gehen Sie einen solchen beschriebenen Eingriff an?
Solche Eingriffe mit Kreislaufstillstand, bei denen wir den Aortenbogen einsetzen, haben wir im vergangenen Jahr 300 Mal gemacht. Nur wenige Kliniken in Deutschland machen das ähnlich häufig.
Sie beschreiben damit eine enorme Arbeitsintensität. Wie finden Sie Entlastung?
Ich gehe nach Hause und widme mich dort meinen Projekten. Ganz gleich ob es die Gartenbeleuchtung ist oder die Gartengestaltung – ich muss was tun. Ich kann nicht da sitzen und mich ausruhen. Da bin ich meinem Vater ähnlich: Ich kann nur in der Beschäftigung abschalten.
Fotos: Gerald von Foris
Hinweis: Vom Fotografen Gerald von Foris erschienen jüngst zwei Bildbände, die wir hier vorstellen und freundlich zum Kauf empfehlen.