Architektin Anna Heringer über gemeinschaftliches Bauen mit Lehm: Der Sinn steckt im Prozess, nicht im Resultat

Schon als Diplomandin schuf sie in Bangladesh zusammen mit Dorfbewohnern eine Schule aus Lehm, die weltweit Beachtung fand: Ein Gespräch mit der vielfach ausgezeichneten Architektin Anna Heringer – über partizipatives Bauen, die Sehnsucht der Menschen nach Höhlen und Nischen, den Wert der Vergänglichkeit und den Stolz eines Wölflings. Portraits: Gerald von Foris 

Frau Heringer, wie kamen Sie zum Lehm?
Ich suchte zum Ende meines Architekturstudiums an der Universität Linz nach einer geeigneten Diplomarbeit – und verfiel fast in eine Depression, weil ich einfach keinen Zugang zu den klassischen städtebaulichen Themen fand. Dann, glücklicherweise, wurde ein Workshop mit Martin Rauch angeboten. 

Er baute unter anderem das »Ricola Kräuterzentrum« bei Basel aus Lehm …
Er baute auch den »Alnatura Campus« in Darmstadt und die »Kapelle der Versöhnung« in Berlin. Alle Lehm-Pilotbauten im deutschsprachigen Raum stammen von Martin. In dem Moment, in dem ich in seinem Workshop meine Hände im Lehm hatte, wusste ich: Das ist mein Missing Link! Das ist die Brücke von meiner Ausbildung zu dem, was ich machen will. 

Warum?
Lehm ist das sozialste Material überhaupt, das ich low-tech, nur mit den Händen formen kann. Lehm ist ein gesundes Material, ich kann ihn so häufig recyceln, wie ich will. Ohne Qualitätsverlust. Und ich kann noch einen Garten oben drauf pflanzen. Und ich kann mit seiner Verarbeitung Arbeitsplätze schaffen, indem ich Menschen vor Ort einbinde, vom Stampfen der Wände bis zu ihrer Gestaltung.

»Meinen Studierenden sage ich: Recherchiert für jedes neue Projekt zuerst in euch selbst. Dort sitzt noch ein Kind und ein Wissen davon, welche Räume ihr mögt und braucht.«

Jede Geschichte über Sie als Architektin und Lehmbaumeisterin beginnt mit einer Schule aus Lehm in Rudrapur in Bangladesh, die Sie im Rahmen Ihrer Diplomarbeit gemeinsam mit der Dorfbevölkerung gebaut haben: Sie birgt unter anderem höhlenartige Räume und Nischen, in denen sich Kinder zum Lernen zurückziehen können. War diese Heimeligkeit Absicht oder ist sie durch die Möglichkeiten entstanden, die das Material bietet?
Der Bauherr stellte seine Schule unter das Motto »Learning with Joy« und wünschte sich ein Gebäude, das den Kindern schon beim Anblick Freude bereitet. Ich habe es deshalb, würde ich sagen, für mein inneres Kind gebaut. 

Das ist eine schöne Prämisse.
So sage ich das auch meinen Studierenden: Recherchiert für jedes neue Projekt zuerst in euch selbst. Dort sitzt noch ein Kind und ein Wissen davon, welche Räume ihr mögt und braucht. Atmosphären, die wir als Kinder mochten, tun uns auch als Erwachsene gut; Höhle und Nische sind archaische Muster, genauso wie das Baumhaus, von dem aus wir die Landschaft überblicken. Bislang habe ich in jedem meiner Projekte versucht, eine Art Höhle unterzubringen. Auch in meinem neuesten Bau für das Studienseminar St. Michael der Erzdiözese München-Freising in Traunstein: Dort gibt es dicke Fensternischen, gefüllt mit Kissen, versehen mit Schiebewänden zum Zurückziehen. 

Die Schule in Rudrapur. Foto: Kurt Hoerbst
»Wer bin ich, dass ich bremse, wenn sie doch gebraucht wird?« Die Schule in Rudrapur, fotografiert von Kurt Hoerbst. Mehr Bilder und Hintergrund auf der Homepage von Studio Anna Heringer.

Sie waren 27 Jahre alt, als Sie 2005 in Rudrapur die Arbeit an der Schule aufnahmen. Hatten Sie Respekt?
Ja, ich hatte schon Muffensausen …

Für den Abschluss Ihres Studiengangs hätten Sie es vermutlich beim bloßen Entwurf belassen können, oder?
Ja, das stimmt. Der Entwurf war aus meiner Sicht auch relativ banal und wurde mit einer Zwei benotet. Meine Kommilitoninnen und Kommilitonen hatten wesentlich ausgefeiltere Designs erarbeitet.

Wie kam es dennoch zum Bau?
Ich erhielt viel positives Feedback. Als Heinrich Staudinger den Entwurf sah, der Gründer von Waldviertler GEA, einem Unternehmen, das mit nachhaltig produzierten Schuhen, Taschen und Möbeln handelt, rief er aus dem Stand den GEA-Preis ins Leben: Er stiftete 7000 Euro, damit ich die Schule umsetzen kann. So kamen die Dinge in Fluss. Freunde sammelten Geld, indem sie bei Veranstaltungen Suppe verkauften. Mein Cousin Emanuel Heringer, ein Korbflechter, Zimmerer und Pfadfinder, bot seine Hilfe an; auch Eike Roswag, ein Berliner Architekt mit Lehmbauerfahrung. Durch dieses Team fühlte ich mich gestützt. Und wer bin ich, dass ich in einer solchen Situation bremse, wenn die Schule doch gebraucht wird?

Die Architektin Anna Heringer, fotografiert von Gerald von Foris

Was glauben Sie, warum wollten so viele Menschen Ihre Arbeit unterstützen? Ging es um Sie als Person oder um das Gefühl, an der Gestaltung eines besonderen Baus beteiligt zu sein?
Die Menschen sahen etwas in dem Projekt, das über mich hinausreichte: Wäre ich den Bau nur für mein Ego angegangen, hätte ich nie diese Unterstützung bekommen und auch nicht die nötige Energie gefunden.

Wie viel Geld benötigten Sie?
30 000 Euro. Einen großen Teil ersangen wir uns im Rahmen der Sternsinger-Aktion hier in Laufen an der Salzach. Ich zog selbst von Tür zu Tür und sang um Spenden.

Was wussten Sie zu jener Zeit von dem Dorf in Bangladesh?
Als 19-Jährige lebte ich ein Jahr lang in Rudrapur und fuhr danach jedes Jahr dorthin. Ich war dort ein Teil der Community. Ohne mein Wissen um die Bedürfnisse und den Rückhalt der Menschen hätte ich nie bauen können. (Überlegt) Im Grunde habe ich in den Jahren zwischen 1997 und 2005 in Rudrapur essenzielles Vertrauen aufgebaut: Die Menschen hatten mich gern, sie vertrauten mir, dass es in Ordnung ist, wenn wir ihre Schule mit Lehm bauen und nicht aus Ziegeln.

»Ich habe, wenn Sie so wollen, von klein auf mitten im Wald Städtebau betrieben. Dabei lernte ich, auf die Kraft des Prozesses zu vertrauen«: Innenansicht der Schule in Rudrapur, fotografiert von Kurt Hoerbst. Mehr zur Schule hier.

Nicht nur Ihr Cousin, auch Sie selbst waren in Ihrer Jugend bei den Pfadfindern. Was lernten Sie dort, das Ihnen in Bangladesh half?
Die Zeit bei den Pfadfindern war entscheidend, weil ich dort lernte, aus meiner Komfortzone zu gehen. Für unsere Zeltlager bauten wir jedes Jahr die gesamte Infrastruktur selbst auf und am Ende auch wieder ab. Von Bauern aus der Nähe besorgten wir zum Beispiel Fichtenrohlinge, die wir zu Toren oder Türmen verarbeiteten. Ich lernte in dieser Zeit viele Knoten- und Bindetechniken. Und wenn du einmal auf einem fünf Meter hohen Holzturm stehst, den du selbst errichtet hast, gewinnst du Vertrauen in deine Konstruktion. Ich habe, wenn Sie so wollen, von klein auf mitten im Wald Städtebau betrieben. Dabei lernte ich, auf die Kraft des Prozesses zu vertrauen. 

»Wir reden, diskutieren und kritisieren, aber selten
kommen wir physisch zusammen und bewegen etwas.«

Was meinen Sie damit?
Wenn ich als Wölfling mit allen anderen am Seil einen Holzturm hochzog, fühlte ich mich als Teil eines Ganzen und war stolz. In diesen Momenten erfuhr ich, was Architektur in Bezug auf die Gemeinschaft vermag. Heute erleben wir in unserer Gesellschaft nur noch selten, wie es ist, wenn wir gemeinsam etwas aufbauen. Unsere Idee von Partizipation ist kopfgesteuert: Wir reden, diskutieren und kritisieren, aber selten kommen wir physisch zusammen und bewegen etwas. Das ist so schade, weil ich immer wieder die Zufriedenheit erleben darf, wie sie während gemeinsamer Projekte entsteht. So wie in Worms zum Beispiel. 

Sie haben mit Martin Rauch im Wormser Dom einen Altar aus Lehm gestampft – gemeinsam mit der Gemeinde. Weshalb entschied man sich für ihr Team?
In der Endrunde standen zwei Projekte zur Wahl. Auf der einen Seite die klassisch schöne Stahlarbeit eines Bildhauers, die fertig eingesetzt worden wäre. Auf der anderen Seite wir, mit unseren Schubkarren und dem Lehm und dem Versprechen, den Altar gemeinsam zu stampfen: Jede und jeder, der mitmacht, wird zur Autorin und zum Autor des Altars. 

Wer half mit?
Ministranten, Kindergartenkinder, der Pfarrer, der Domchor oder auch Bodenkundler, die ganz berührt waren, weil in einer Kirche einmal nicht der Prunk im Mittelpunkt steht, sondern die Erde. Bei der Einweihung saßen in den ersten 30 Sitzreihen all die Gemeindemitglieder, die den Lehm gestampft hatten. 

Beim Stampfen des Altar von Worms. Das Foto machte Norbert Rau. Mehr zu diesem Projekt hier.

Die waren vermutlich stolz.
Und wie! Und was interessant ist: Der Altar ist, wenn Sie genau hinschauen, leicht aus dem Lot geraten, weil beim Stampfen die Schalung nachgab. Aber kein Mensch übte Kritik, weil ja alle mitgestaltet hatten. Eine Teilnehmerin sagte nachher: »Wir streiten so viel in unserer Gemeinde. Bei diesem Projekt aber hat kein Mensch gestritten. Um das zu schaffen, mussten wir alle für diese eine Sache zusammenhelfen.« 

Ist das einer der Vorteile gemeinschaftlicher Arbeit: Ich muss nicht immer reden und erklären, ich kann Hände und Füße sprechen lassen?
Kommunikation auf einer Baustelle ist im Wesentlichen ja immer nonverbal, sehr direkt. Und trotzdem erkennen alle das gemeinsame Ziel, das sie vereint.

Wurde Ihnen das schon damals in Rudrapur klar?
In Rudrapur wurde mir die Kraft des Prozesses bewusst, die Sinnhaftigkeit der gemeinsamen Arbeit, weil sie gute zwischenmenschliche Beziehungen erzeugt. Diese Erfahrung wollte ich auch nach Europa bringen: Der Sinn meiner Arbeitsweise steckt im Prozess und nicht allein im Resultat. 

Sie haben einen TED-Talk zu Ihrer Schule gehalten und reisen für Vorträge durch die Welt. Ist Ihnen die Rolle der Lehmbau-Expertin recht, in die Sie gewachsen sind?
Gerade in den Anfangsjahren hörte ich immer wieder gut gemeinte Ratschläge: »Konzentrier dich in deiner Arbeit und deiner Botschaft nicht zu sehr auf den Lehm – wenn du dich nur auf diese Nische fokussierst, schießt du dir ins Bein.« Dabei war mir das ein innerer Drang. Ich rede noch heute viel lieber über das Material und den Prozess als über meine architektonische Sprache. Manchmal kommt es mir ganz komisch vor, wenn ich über ästhetische Formen sprechen soll. Das bin ich nicht. Der Lehm ist mir schlicht wichtiger, weil er dauernd übersehen wird. 

»Wenn ich etwas mit Liebe mache, mit Achtung der Natur
und Umwelt gegenüber, ist es auch nachhaltig.«

Kann es sein, dass Lehmbauten noch immer vor allem mit Einfachheit und nicht zwangsläufig mit Schönheit verbunden werden?
Bauen in Entwicklungsländern bedeutete aus Sicht europäischer Architekten und Ingenieure immer schon Effizienz, Schönheit wurde als unnötiger Luxus empfunden. Das ist aber so, als würde ich Medizin ohne Empathie denken. Wie soll das gehen? Wie die Empathie in der Medizin ist die Schönheit beim Bauen ein formaler Ausdruck von Liebe: Wenn ich etwas mit Liebe mache, mit Achtung der Natur und Umwelt gegenüber, ist es auch nachhaltig.

In der Architektur beschreibt der »Goldene Schnitt« die Idee von der richtigen, der schönen Proportion. Wird Ihre Arbeit auch deshalb populär, weil Sie den Goldenen Schnitt in die soziale und ökologische Dimension erweitern?
Das habe ich so noch nicht überlegt, das ist aber ein interessanter Gedanke. Ich finde es wichtig, dass ich mehr als ein schönes Gebäude hinterlasse. Eigentlich will ich nicht mal Materie hinterlassen, sondern nur Wissen, das sich im Handwerk spiegelt, im Umgang mit der Materie. 

Sie wurden in den vergangenen Jahren immer wieder für ihre Gestalt- und Denkarbeit ausgezeichnet, unter anderem mit dem Aga Khan-Preis für nachhaltige Architektur. Zuletzt wurden die von Ihnen geplanten Hostels in China prämiert: Um drei Türme aus Lehm scheinen Gefäße aus Bambus zu schweben. Wie haben Sie die Bauten entwickelt?
Ich besuchte den Ort mit einer bestimmten Idee im Kopf und sah sofort, dass sie nicht passte, dass ich einen anderen Ansatz brauchte. Ich versuchte mich noch am selben Tag ganz leer zu machen – und plötzlich ploppten die Bilder von diesen drei großen Gefäßen in mir auf. Den ersten Entwurf zeichnete ich noch auf der Rückfahrt zum Hotel in die angelaufene Fensterscheibe unseres Autos. Als ich das Hostel dann fertiggestellt sah, wusste ich: Genau der richtige Maßstab, genau die richtige Geste für den Ort.

»Den ersten Entwurf zeichnete ich noch auf der Rückfahrt zum Hotel in die angelaufene Fensterscheibe unseres Autos«: Die Hostels in China, fotografiert von Julien Lanoo. Mehr zum Projekt auf der Homepage von Studio Anna Heringer.

Aus Ihren Entwürfen spricht Bescheidenheit und Selbstvertrauen zugleich. Woher stammt die Gewissheit, die Sie für Ihre Entwürfe, überhaupt für Ihre Projekte brauchen?
Mein Vater ist Ökologe und arbeitete viel in der Umweltbildung, meine Mutter ist unter anderem Musikerin. Wir haben gemeinsam Konzerte organisiert, Geld für gute Zwecke gesammelt, den Eine-Welt-Laden unterstützt, wir haben immer gesehen und erlebt, dass wir etwas bewegen können. Das gab mir Sicherheit. Ich habe immer Optionen gesehen, fühlte mich immer handlungsfähig und nie ohnmächtig.

Trotz der Aufmerksamkeit, die Ihre Bauten erhielten, bekamen Sie lange Zeit in Deutschland keine Aufträge. Weshalb?
Viele Architekten starten in ihre Arbeit, indem sie für Familie und Geschwister und Freunde bauen. Mich fragte niemand nach einem Lehmbau. Ich war immer die, die in Entwicklungsländern baut. Bei meinen Vorträgen fühlte man sich wohl: Viele fanden es toll, dass so was entsteht, waren aber auch froh, dass das weit weg ist. In dem Moment, in dem ich begann, diese Bauweise auch hier einzufordern, wuchs die Reserviertheit: »Das kann man ja bei uns nicht so machen!« 

Stimmt das denn?
Je größer die Projekte sind und je mehr Autoritäten dahinter stehen, desto schwieriger ist es. Erst in der jüngeren Zeit kommen mehr Anfragen, weil die Menschen verstehen, dass es diese Architektur braucht. 

»Wenn wir im Einklang mit der Natur bauen wollen, müssen wir auch die Vergänglichkeit zulassen. Wenn wir partizipativ bauen wollen, müssen wir Imperfektion zulassen«: Anna Heringer in Laufen an der Salzach.

Wie kam die Arbeit in Traunstein zustande?
Der Berater Karlo Huijber begleitete die Weiterentwicklung des Studienseminars zu einem nachhaltigen Bildungsstandort. Er kannte die Schulen in Rudrapur und lud mich aus einer Laune zum Workshop. Wir arbeiteten sehr gut zusammen und spürten, dass unsere Geisteshaltung übereinstimmt. Der Lehmbau war zunächst gar nicht geplant, wurde dann aber zum Favoriten – nicht zuletzt, weil sich die katholische Kirche verpflichtet sah, der päpstlichen Enzyklika »Laudato si’« Leben einzuhauchen, die nach mehr Umwelt- und Klimaschutz verlangt. 

Erfährt der Lehmbau auch durch die rasch voranschreitende Klimakrise neue Aufmerksamkeit?
Total. Im Januar 2019 gab ich ein langes Interview im Radiosender Ö1, das sonntags zur Frühstückszeit lief. Vor Kurzem wurde es um dieselbe Zeit wieder ausgestrahlt und die Medienresonanz war unvergleichlich höher. Bis vor wenigen Jahren habe ich auch noch nicht so viel Kritik an der weltweiten CO2-intensiven Zementproduktion gelesen, auch die CO2-Steuer stand noch nicht in der Form zur Debatte. 

»Wir fangen mit unseren Ideen immer beim Ideal an,
nur das Ideal zieht uns weiter.«

Was haben Sie mit den Gebäuden in Bangladesh gelernt?
Loslassen. 

Wie meinen Sie das?
Nur ein Beispiel: Mir gefiel beim Bau des zweiten Schulgebäudes in Rudrapur der grüne Bambus so gut, der noch frisch und voll Zucker ist. Wir haben ihn verbaut – und er wurde von Käfern befallen. Eine Katastrophe. Aber die Arbeiter blieben total gelassen, obwohl wir das komplette Bambusgeschoss abreißen und neu bauen mussten. Sie pflegen ein anderes Verhältnis zur Vergänglichkeit: Hindus formen ihre Götterstatuen aus Lehm und geben sie einmal im Jahr in die Flüsse, in die Gewässer zurück, so dass sie sich auflösen. 

Ich verstehe.
Das Zulassen der Vergänglichkeit, das habe ich gelernt, ist Kern von Nachhaltigkeit. Wenn wir im Einklang mit der Natur bauen wollen, müssen wir auch die Vergänglichkeit zulassen. Wenn wir partizipativ bauen wollen, müssen wir Imperfektion zulassen. 

Hatten Sie Mentoren?
Gandhi. 

Gandhi?
Und Martin Rauch. Von dem lerne ich noch immer wahnsinnig viel. Er ist immer da, wenn ich Rat brauche, er ist tief in die Materie reingezoomt. 

»Wir stellen Sinn auch in der Architektur häufig intellektuell her und vermitteln ihn argumentativ. Dabei gibt es auch ein Bauen, das der Intuition entspringt und aus Empathie entsteht.«

Und warum Gandhi?
Gandhi sagte, das Zentrale in der indischen Flagge sei das Spinnrad: Wir müssen mit unseren eigenen Potenzialen, mit unseren eigenen Ressourcen unsere eigene Kleidung herstellen. Dasselbe gilt für die Architektur. Wir müssen aus unseren Ressourcen, aus dem, was wir unter unseren Füßen haben in der Gemeinschaft zusammen unsere Gebäude bauen. Gandhi ging es, wie auch mir, um den Prozess. 

Sie bekommen Anfragen aus aller Welt um Mitarbeit in Ihrem Studio. Was suchen die angehenden Architektinnen und Architekten?
Die meisten suchen Sinn. Ihnen reicht die normale Architektur nicht mehr, sie ist ihnen zu beliebig geworden. Sie wünschen sich eine Arbeit, die auf allen Ebenen Sinn ergibt. Wir stellen Sinn auch in der Architektur häufig intellektuell her und vermitteln ihn argumentativ. Dabei gibt es auch ein Bauen, das der Intuition entspringt und aus Empathie entsteht. 

Sie haben unter anderem in Harvard und an der TU München unterrichtet, derzeit in Liechtenstein und in Linz. Was möchten Sie Ihren Studierenden vermitteln?
Erst gestern diskutierte ich mit Studierenden über einen Entwurf zu einer Siedlung in Vorarlberg im Rahmen des »Neuen Europäischen Bauhaus«, weil sie gleich vornweg Kompromisse schließen und Parkplätze für Autos einplanen wollten. »Nein«, sagte ich. »Wir fangen nicht bei der Realität an, wir planen ohne Autos! Wir fangen mit unseren Ideen immer beim Ideal an, nur das Ideal zieht uns weiter.« Wenn wir mit unseren Planungen auf der realistischen Ebene dümpeln, begeistert uns nix mehr; dann spornt uns nix an, dann gibt es keine Entwicklung. Wir brauchen in allem was wir tun ein Ideal, das uns anspornt, das Beste aus uns rauszuholen. 

Website: Studio Anna Heringer

Portraitfotos Anna Heringer: Gerald von Foris 

Hinweis: Vom Fotografen Gerald von Foris erschienen jüngst zwei Bildbände, die wir hier vorstellen und freundlich zum Kauf empfehlen