Schriftsteller Christian Berkel über sein Handwerk: »Fürs Schreiben muss ich wissen, wer ich bin«

Seine Bestseller »Der Apfelbaum« und »Ada« erstaunten die Kritik und faszinierten das Publikum: Ein Gespräch mit Schauspieler und Autor Christian Berkel über den Prozess des Schreibens, handwerkliches Wissen aus »The Paris Review« und diese prägende halbe Stunde nach dem Wachwerden. Fotos: Gerald von Foris

Herr Berkel, hat die Rezeption zu Ihrem ersten und sehr erfolgreichen Roman »Der Apfelbaum« das Schreiben Ihres zweiten Buches »Ada« beeinflusst?
Ich habe unheimlich viel Zuspruch erfahren, sowohl von Leserinnen und Lesern als auch von der Presse oder von Verlagsleuten. Für das Schreiben des ersten Buches gilt aber, was Wim Wenders über die Arbeit am ersten Film sagte: »Im Paradies ist man nur einmal.«

Das heißt?
Beim ersten Buch ist es für mich und auch das Publikum akzeptabel, wenn ich vieles nicht weiß und manches nicht kann. Beim zweiten Buch ist diese Naivität des Anfangs, dieser Zauber nicht mehr vorhanden. Als ich bei »Ada«, schon ein paar Monate im Schreiben, die Erzählperspektive änderte und von der dritten in die erste Person wechselte, wusste ich: Das kann mir jetzt um die Ohren fliegen.

Sie hatten zu diesem Zeitpunkt bereits 200 Seiten geschrieben und begannen von vorn.
Ja. Beim Apfelbaum war es aber auch so, auch dort veränderte ich recht spät die Erzählperspektive: Ich wollte ursprünglich chronologisch erzählen und merkte, dass es nicht funktioniert. Außerdem wollte ich nicht selbst im Text vorkommen, was auch nicht funktionierte. Schließlich stand beim Schreiben des Apfelbaums eine große Frage vor mir: Warum willst du überhaupt diese Geschichte erzählen? 

Ihre Antwort?
Ich will erzählen, was eine Familiengeschichte wie die meine aus einem Menschen macht. 

Leitet sich aus dieser Antwort nicht schon die Erzählperspektive ab?
Nein. Die beantworte ich erst, indem ich kläre, was ich für diese Geschichte und dieses Buch tun kann. 

Wie meinen Sie das?
Wenn ich die Geschichte meiner Familie erzähle und was sie mit mir macht, ist das Schlimmste, was ich tun kann, eine Erzählform zu kopieren, die ich für gut halte, durch die ich in Wirklichkeit aber keine eigene Stimme bekomme. Ich muss eine eigene Stimme finden, die zugleich die Perspektive mit sich bringt. 

»In den ersten Wochen, wenn die Geschichte noch im Nebel liegt,
fange ich um 9 Uhr an. Sobald ich drin bin und ich die Perspektive gefunden habe – den Ton, die Erzählfigur – fange ich um 6 Uhr an.«

»Ada« lässt sich als Fortsetzung von »Der Apfelbaum« lesen und ist mehr als der Vorgänger fiktional angelegt. Sie erzählen sogar aus Sicht der weiblichen Hauptfigur.
Ich sah, dass ich in der dritten Person nicht an die Figur der Ada herankomme, dass sie nicht richtig lebendig wird. Deshalb schrieb ich ein paar Seiten in der ersten Person, in der Hoffnung, sie auf diesem Weg besser kennenzulernen. Und auf einmal merkte ich: Das könnte funktionieren. Der Moment war einerseits elektrisierend, andererseits erschrak ich. 

Weshalb?
Ich dachte: Kann ich das überhaupt machen? Ich legte die Seiten erst mal drei Tage zur Seite und sah dann nochmal drauf. Der Text gefiel mir immer noch. Ich schrieb eine Strecke und schickte sie ins Lektorat. 

Weil Sie Ihrer Entscheidung nicht trauten?
Das mache ich eigentlich immer so. Vielleicht, weil ich es als Schauspieler gewohnt bin, dass während des Drehs jemand meine Arbeit kommentiert. Ich habe auch keine Angst, dass mich Kritik blockieren könnte. Sie hilft mir. Der Dialog zwischen Autor und Lektorin ist ohnehin sehr anders als der, den ich vom Fernsehen kenne.

Inwiefern?
Beim Fernsehen sitzen locker sechs Leute am Tisch, Produzent, Regisseurin, jeder hat eine Meinung dazu, was das Publikum erwarten könnte. In Verlagen, so meine Erfahrung, ist das anders. Im Austausch zwischen Lektorat und Autor geht es allein um den Text und seine Qualität.

Schauspieler und Schriftsteller Christian Berkel, fotografiert von Gerald von Foris
Schauspieler und Schriftsteller Christian Berkel, fotografiert von Gerald von Foris

Wie sieht, ganz praktisch, Ihr Schreibprozess aus?
Kennen Sie das Magazin »The Paris Review«? Dort erschienen und erscheinen seit den 50er Jahren umfangreiche »Art of Fiction«-Interviews mit Autoren wie Ernest Hemingway oder Kurt Vonnegut, die für mich wichtige Ratgeber wurden. Die Gespräche gehen manchmal über 30 Seiten hinweg und immer kommt es zu diesen Fragen: Wie schreiben Sie? Schreiben Sie nachts? Schreiben Sie morgens? Wieviele Stunden schreiben Sie? Im Sitzen, Stehen, Liegen? Mit der Hand? Schreibmaschine? Was in den Antworten zum Beispiel immer wieder herauskommt, ist die Vielzahl der Anläufe, die vielen Seiten, die weggeworfen werden. 

Haben Sie mit den Interviews Ihr Handwerk geformt?
Sie beeinflussen mich noch heute. Hemingway sagte zum Beispiel, er fange immer mit einem Bleistift an zu schreiben, weil es den Vorteil habe, dass er den Text irgendwann übertragen müsse – beim Abtippen schreibe er automatisch um. Ich mache das tatsächlich auch, bei Dialogen: Die schreibe ich immer mit der Hand zuerst. Und ich schreibe oft die ersten Seiten des Tages mit der Hand, ehe ich zum Computer übergehe. 

»Fast jeder würde sagen, Schreiben sei ein intellektueller Vorgang des Nachdenkens und Niederschreibens. Das ist, nehme ich an,
zumindest in Teilen ein Irrtum.«

Welche Rolle spielt das Handgeschriebene dabei?
Es hat Entwurfscharakter. So wird mir bewusst, wo es an dem Tag hingehen könnte. Sobald ich die Richtung kenne, wechsele ich zum Computer, übertrage Teile des Handgeschriebenen und schreibe auch gleich um. 

Gewinnen Sie schnell Meter oder widmen Sie sich ausführlich jedem Satz?
Ich gehe eigentlich nicht weiter, ehe ich nicht das Gefühl habe, dass der Satz stimmt. Wenn ich das Gefühl habe, dass er nicht stimmt, arbeite ich so lange daran, bis er passt.

Wann beginnen Sie am Morgen mit Ihrer Schreibarbeit?
In den ersten Wochen, wenn die Geschichte noch im Nebel liegt, fange ich um 9 Uhr an. Sobald ich drin bin und ich die Perspektive gefunden habe – den Ton, die Erzählfigur – fange ich um 6 Uhr an. Aufstehen, Zähneputzen, Schreibtisch, mehr nicht. Dann schreibe ich vier Stunden, dusche und mache eine Stunde Pause. Dann schreibe ich in der Regel nochmal zwei Stunden, erst dann esse ich. 

»Ich muss, finde ich, beim Schreiben einen möglichst starken Bezug zu meinem Unbewussten herstellen, zu Ideen und Bildern.«

Können Sie sagen, wann sich die Geschichte formt? Geschieht dies während des Schreibens?
Eigentlich fängt es immer schon im Bett an, wenn ich daliege, so kurz nach dem Aufwachen, in einer Art Halbschlaf, wenn ich noch nicht so wahnsinnig bewusst und intellektuell da bin. 

Was meinen Sie mit »es fängt an«?
In dieser halben Stunde entwerfe ich den Beginn des Textes. Ganz diffus setzt sich in diesen Minuten zusammen, wo es hingehen könnte. Wenn ich einen Ansatzpunkt habe, stehe ich sofort auf und gehe an den Schreibtisch, Zimmertür geschlossen. Kein Handy in meiner Nähe, keine Nachrichten – meine Frau sagt, im Haus könnte in dieser Zeit eine Bombe hochgehen, ich würde nicht reagieren.

Wenn die Erzählweise noch unklar ist, beginnen Sie um 9 Uhr, sobald sie klar ist um 6 Uhr. Wie kommt es zu den drei Stunden Unterschied?
In der 9 Uhr-Phase denke ich noch viel nach, suche, lese andere Texte. In der 6 Uhr-Phase arbeite ich anders. (Überlegt) Es gibt ein sehr schönes Buch von David Sylvester, »Gespräche mit Francis Bacon«. Sylvester fragt Bacon an einer Stelle, ob er beim Malen viel nachdenke. Bacon antwortet: »Ich habe sehr viel darüber nachgedacht, wie ich beim Malen nicht denken kann.« Das fand ich sehr einleuchtend.

Was sagt Ihnen das Zitat?
Fast jeder würde sagen, Schreiben sei ein intellektueller Vorgang des Nachdenkens und Niederschreibens. Das ist, nehme ich an, zumindest in Teilen ein Irrtum. Wenn ich zu analytisch arbeite, finde ich bestimmte Dinge nicht. 

Welche Dinge?
Ich muss, finde ich, beim Schreiben einen möglichst starken Bezug zu meinem Unbewussten herstellen, zu Ideen und Bildern. Je mehr der Tag voranschreitet, je mehr der Tag mit seinen ganz normalen Anforderungen da ist, desto mehr fange ich an, buchstäblich nachzudenken und zu analysieren. Und dann schließt sich die Tür zum Unbewussten.

Die 9 Uhr-Phase gehört also eher der Recherche und Analyse, während die 6 Uhr-Phase dem eigentlichen Schreiben zugetan ist?
Morgens um sechs am Schreibtisch muss ich mit niemandem kommunizieren. Um diese Zeit ist es fürs Schreiben auch vollkommen egal, ob ich müde bin. Eine gewisse Müdigkeit ist sogar eher gut, weil sie das Kontrollzentrum dimmt. Die Kontrolle reicht mir später, am Abend, wenn ich das Geschriebene analysiere. 

»Ich habe sie sozusagen im Halbschlaf gehört und aufgenommen. Das heißt, solche Dinge wie Rhythmus, Sprache und Dialog lernte ich, wie man eine Sprache lernt: durchs Hören.«

Wie strukturieren Sie Ihre Geschichten? Haben Sie eine Wand mit Post-its hinter sich, die den Plot charakterisieren?
Ich habe an der Deutschen Film- und Fernsehakademie in Berlin Regie und Drehbuch studiert, dieses Wissen hilft mir heute sicherlich. Beim »Apfelbaum« habe ich auch tatsächlich versucht, zu plotten, merkte aber schnell, dass dieses vorherige Strukturieren für mich der verkehrte Weg ist.

Weshalb?
Ich erlebe es bei der Lektüre von Drehbüchern für das Fernsehen. Die Autorinnen und Autoren müssen in den Redaktionen bis zu 30-seitige Treatments abliefern, in denen sie ihre Geschichte beschreiben, obwohl sie das Drehbuch noch gar nicht geschrieben haben. Beim Lesen der Drehbücher fällt mir auf, wie wunderbar sie häufig beginnen. Später aber werden sie unlebendig, weil die Autoren Wendungen konstruieren, um ihren Treatments gerecht zu werden. Tun sie es nicht, melden sich die Redakteure und sagen »Aber Sie haben doch im Treatment geschrieben, dass als nächstes dieses und jenes passiert!« Die wahre Entgegnung auf einen solchen Einwand wäre »Naja, jetzt schreibe ich wirklich das Drehbuch – und das ist eben anders als das Treatment.«

Sie vermeiden also zu viel Planung, um die Geschichte lebendig zu halten?
Bei Ada habe ich durchaus, für mich, einen Entwurf geschrieben, einen Plot, relativ detailliert. Beim Apfelbaum auch. Beide Entwürfe hatten am Ende überhaupt nichts mit den Romanen zu tun. Für mich war es ehrlich gesagt ein gutes Zeichen, wenn ich mich vom Plan entfernte. »Okay, sehr gut«, dachte ich dann. »Es wird jetzt offenbar lebendig und die Geschichte nimmt ihren eigenen Lauf.«

»Die eine schreibt wie ein Architekt, der andere wie ein Reisender. Ich gehöre, glaube ich, zu den Reisenden.«

Trotzdem brauchen Sie doch Leitplanken, entlang derer Sie Ihre Geschichte hin zu einer Auflösung, zu einem Ende entwickeln.
Gestern Abend habe ich Georges Simenon gelesen, der irrwitzig schnell schrieb und für einen Roman nie länger als 14 Tage brauchte. Simenon wusste nie, wie seine Geschichten verlaufen, aber er kannte seine Figuren, ihre Biografien, ihren Kleidungsstil. Er hatte nie einen Plot, er hatte nur Protagonist und Antagonist und einen zentralen Konflikt zwischen beiden Figuren. Das waren seine Leitplanken.

Wie würden Sie Ihre Schreibweise charakterisieren?
Die eine schreibt wie ein Architekt, der andere wie ein Reisender. Die eine weiß im Detail, wie ihr Haus aussieht, der andere kennt nur das Ziel seiner Reise und ist bereit, mitzunehmen, was links und rechts des Weges geschieht. Ich gehöre demnach, glaube ich, zu den Reisenden.

Aber müssen Sie dann nicht eine große Spannung aushalten, weil Sie nicht wissen, wo Sie Ihre Geschichte übermorgen hinführen wird?
Bevor ich selbst mit dem Schreiben begann, mokierte ich mich innerlich immer ein bißchen über Autoren, die sagten, ab einer bestimmten Stelle in der Geschichte würden ihre Figuren das Zepter übernehmen. »Naja«, dachte ich dann, »von wem kommen die Figuren denn! Die hast du doch erfunden, das ist doch kokett!« Bis ich es selbst erlebte. Im Schreiben öffne ich mich möglichst weit für die Figur und lasse Konsequenzen zu, die sich aus ihrem Handeln ergeben. Es ist kein kontrollierter, bewusster Vorgang, der bestimmt, was die Figur als nächstes tut. Es ist klar, dass meine Lebenswirklichkeit oder meine Lebenserfahrungen ständig in diese Konsequenzen hineinspielen – aber eben nicht unbedingt in einer Weise, die ich wirklich kontrollieren kann.

»Wenn ich mich »leer schreibe«, weil es gar so gut läuft, und diese Erfahrung habe ich selbst gemacht, wird der folgende Tag meist deprimierend.«

Nun haben Sie Regie und Drehbuch studiert und Jahrzehnte als Schauspieler gearbeitet. Sie haben sich ein Reservoir an Handlungsoptionen erarbeitet, aus denen Ihre Figuren schöpfen können. Fällt es Ihnen deshalb leichter, die Kontrolle beim Schreiben abzugeben?
Vielleicht. Kürzlich las ich die Geschichte des Regisseurs Peter Brook, der in England mit Anfang Zwanzig ein Star wurde. Als ihm die Direktion des National Theater in London angeboten wurde, lehnte er ab und baute in Frankreich eine freie Truppe auf. Er schrieb, dass er als junger Regisseur nicht auf eine Probe gehen konnte, ohne genau zu wissen, was er an diesem Tag machen würde: Er hatte einen präzisen Plan und wusste bis hin zu einzelnen Arrangements genau, was er machen wollte. Erst später fand er den Mut, auf diesen Plan zu verzichten. Er ging auf eine Probe und guckte, was entsteht.

Kommt diese Erfahrung, diese Gewissheit nicht erst mit dem Älterwerden?
Ja, Alter und Erfahrung spielen dabei sicherlich eine Rolle. 

Sie deutenen vorhin an, dass Sie viele Vorgehensweisen aus den Interviews der »Paris Review« gezogen haben. Welche wenden Sie noch immer an?
Einen sehr guten Tipp von Ernest Hemingway zum Beispiel: Hör’ auf, wenn du noch weiterschreiben könntest! So weißt du am kommenden Tag sofort, wie die Geschichte weitergeht. Das stimmt zu 100 Prozent. Wenn ich mich »leer schreibe«, weil es gar so gut läuft, und diese Erfahrung habe ich selbst gemacht, wird der folgende Tag meist deprimierend. 

Haben Sie es je bedauert, nicht schon früher geschrieben zu haben?
Nein, weil ich, glaube ich, akzeptieren kann, dass es nicht anders ging. Es gibt einen fundamentalen Unterschied zwischen dem Beruf des Schauspielers und dem Beruf des Schriftstellers. Der Schauspieler lebt sehr stark davon, nicht zu wissen, wer er ist. Es kann ihm helfen, in andere Figuren, in andere Welten einzusteigen. Fürs Schreiben allerdings muss ich wissen, wer ich bin. 

Das ist ein interessanter Gedanke.
Und ein ganz großer Unterschied! Aus meiner Sicht ist es der Grund, warum ich so lange gebraucht habe, bis ich mein erstes Buch schrieb. Er liegt in meiner Biografie, meinem Leben zwischen den Stühlen. Ich habe unheimlich viel Lebenszeit gebraucht, mir meiner bewusst zu werden. Das kann man sich nicht aussuchen. Das kann jeder Mensch eben nur so machen wie er es kann. 

Schauspieler und Schriftsteller Christian Berkel, fotografiert von Gerald von Foris
»Ich habe unheimlich viel Lebenszeit gebraucht, mir meiner bewusst zu werden. Das kann man sich nicht aussuchen. Das kann jeder Mensch eben nur so machen wie er es kann«: Christian Berkel

Bei aller schauspielerischen Erfahrung im Umgang mit Text, bei aller Lektüre der Paris Review: Gibt es eine Erfahrung oder eine Grundlage, die Sie aus Ihrer Sicht dazu befähigt hat, die beiden Bücher so schreiben zu können?
Ja, ich glaube, die gibt es. Als ich klein war, hatte ich niedrigen Blutdruck und konnte morgens nicht so gut aufstehen. Ich wollte einfach nicht aus dem Bett. Meine Mutter begann dann eines morgens, mich früher zu wecken, mir eine Schallplatte aufzulegen und mich noch eine halbe Stunde liegen zu lassen. Und diese Platten waren immer Theaterplatten! Das heißt, zwischen dem sechsten und dem zehnten Lebensjahr hörte ich so gut wie jeden Morgen Theater. Ich sagte meiner Mutter am Vorabend zum Beispiel »Morgen früh bitte Die Räuber, zweiter Akt, erste Szene«,  schließlich konnte ich in der halben Stunde morgens nie eine ganze Geschichte zu Ende hören. Mit zehn Jahren hatte ich wirklich die ganze deutsche und teilweise auch französische Dramenliteratur durch. Ich habe sie sozusagen im Halbschlaf gehört und aufgenommen. Das heißt, solche Dinge wie Rhythmus, Sprache und Dialog lernte ich, wie man eine Sprache lernt: durchs Hören. 

»Bleibt der Zweifel in einem drin, wächst er unter Umständen in Ecken, in denen man ihn wirklich nicht gebrauchen kann. Also ist es besser, ihn zu formulieren und ihm seinen Raum zu geben.«

Nutzen Sie das Schreiben auch im Alltag, um sich vielleicht zu sortieren, um sich bestimmter Zusammenhänge bewusst zu werden?
Bei Ada habe ich über weite Strecken ein Schreibtagebuch geführt. 

Weshalb?
Um Zweifel loszuwerden. Wo ein Zweifel aufkommt, ergibt es ja wenig Sinn, diesen Zweifel zu verdrängen oder zu verleugnen. Bleibt der Zweifel in einem drin, wächst er unter Umständen in Ecken, in denen man ihn wirklich nicht gebrauchen kann. Also ist es besser, ihn zu formulieren und ihm seinen Raum zu geben, den er offenbar gerade haben will. 

Sie haben 2013 in der »Welt« eine lange Geschichte über Ihre schwierige, langjährige Lektüre von Marcel Prousts »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« geschrieben.
Ja, diese Lektüre war ganz wichtig.

Kann ich den Text in der »Welt« als Prolog zu ihren Büchern verstehen?
Ja, auch. Das Lesen von Marcel Prousts Buch vermittelte mir Durchhaltevermögen. Die ersten Versuche unternahm ich mit 16 Jahren, in der Schule, in Paris. Dort stand es halt auf dem Programm. Ich fand das Buch furchtbar und langweilig. Mit Anfang 20 las ich wieder darin und kam ein bisschen weiter. Erst mit Mitte dreißig überwand ich den toten Punkt. Das war eine Erfahrung, die ich wahrscheinlich ins Schreiben mit hinüber genommen habe: dieses sichere Gefühl, dass es dort interessant wird, wo sich Widerstand regt. 

Wie meinen Sie das?
Wenn Sie zu einem Projekt sagen »Prima, das kann ich, das mache ich sofort«, wird es vermutlich nicht spannend werden. Aber wenn Sie plötzlich dieses Gefühl bekommen, etwas machen zu müssen und es doch nicht recht zu können, dann verbirgt sich eine Erkenntnis dahinter, die tief sinken will.

Fotos: Gerald von Foris 

Hinweis: Vom Fotografen Gerald von Foris erschienen jüngst zwei Bildbände, die wir hier vorstellen und freundlich zum Kauf empfehlen