Der Reporter Roland Schulz übers Sterben: Wir können nur über das sprechen, was wir bezeichnen

Wie geht Sterben? Was geschieht nach dem letzten Herzschlag mit uns? Roland Schulz, Autor des SZ Magazins, hat ein einzigartiges Buch über das Sterben geschrieben. Hier spricht er über die Schwierigkeit, unsere letzten Stunden zu beschreiben, über falsche Scheu vor Leichnamen und das, was Trauernde am meisten brauchen. Fotos: Gerald von Foris

Roland, wie lange hast du an deinem Buch „So sterben wir“ geschrieben?
Die harte Schreibphase dauerte sechs Monate, würde ich sagen.

Du beschreibst so vieles so detailliert, dass ich eigentlich fragen muss, wie lange du recherchiert und geschrieben hast.
Die Recherche begann für einen Artikel im Magazin der Süddeutschen Zeitung, der vor zwei Jahren erschien. Damals schrieb ich sehr ausführlich über den Prozess des Sterbens und merkte: Sterben und Tod sind unterschiedliche Dinge. Sterben ist Teil des Lebens, der Tod kommt danach. Mein Magazin-Text schloss mit dem Eintritt des Todes, obwohl ich wusste: Da kommt noch was. Für das Buch habe ich versucht, mir auch den Tod anzueignen. 

Wie?
Ich habe wahnsinnig viel gelesen, habe mit Ärzten, Palliativpflegern und Hospizhelfern gesprochen, habe Bestatter und Leichenbeschauer und Standesbeamte in Sterbebüros begleitet und Trauernde getroffen – alles, um am Ende eine archetypische Figur konstruieren zu können, entlang derer ich Sterben und Tod erzählen kann. 

Dein Buch trägt den Untertitel „Unser Ende und was wir darüber wissen sollten“. Nun bist du erst Anfang 40 und hast hoffentlich noch lange zu leben. Wie kamst du zum Sterben?
2014 diskutierte der Bundestag über den assistierten Suizid. Die Frage war so entscheidend, dass die Abgeordneten bei der Abstimmung allein ihrem Gewissen verpflichtet waren. Die Geschichten, die dort im Plenum erzählt wurden, waren faszinierend. Ich fragte mich: Was ist denn das, dieses Sterben?

Du hast sehr schnell erfahren, dass die Antwort nicht so leicht zu geben ist.
Ich ging in die Bibliothek der Medizinischen Fakultät der Universität und fand Dutzende von Büchern über Chirurgie oder Orthopädie, von manchen gab es bis zu 20 Exemplare. Erst ganz hinten, in einem Nebenraum, stieß ich auf die Palliativmedizin. Das dickste Buch dort war das Lehrbuch der Palliativmedizin, das hat 1400 Seiten. Ich blätterte und las über die Zeit vor dem Sterben, über Schmerzen und seelische Belastungen. Der reine Sterbeprozess selbst wird nur auf wenigen Seiten beschrieben. 

Wieviele waren es?
Neun Seiten, wenn ich mich richtig erinnere. Also schrieb ich Palliativmediziner an und bat um Gespräche. Stück für Stück versuchte ich zu erfahren, ob sich Sterben so erklären lässt wie ein Dieselmotor. Anfangs stellte ich einfache Fragen: Was macht der Blutdruck, wenn jemand stirbt? Steigt der, fällt der? Ein alter Arzt antwortete: Was wollen Sie denn? Sollen wir 1000 Sterbende in eine Röhre schieben und schauen, was mit ihnen passiert? Wer ist dann die Kontrollgruppe? 1000 Menschen, die gerade nicht sterben? Das ist nicht machbar! Ein Mediziner empfahl mir schließlich das Buch „Sterben. Dimensionen eines anthropologischen Grundphänomens“. Darin sind verschiedene Blickweisen auf das Sterben versammelt: Es gibt eine psychologische Sicht, eine seelsorgerische Sicht oder eine biologische Sicht. Es taucht sogar eine mathematische Sicht auf: Gäbe es eine Möglichkeit, das Sterben in eine Formel zu gießen?

Gibt es die?
Mathematiker meinen, dass es durchaus sein könnte, dass Formeln aus der Chaostheorie das Sterben abbilden könnten. Berechenbar ist Sterben natürlich nicht. Die Vielfalt dieser Perspektiven machte mich neugierig und änderte meine Recherche. Nur ein Beispiel: Wenn ein Arzt einen 30-jährigen Todeskandidaten in einem Todestrakt eines Gefängnisses in den USA untersucht, wird er vielleicht feststellen, dass dieser Mensch vollkommen gesund ist, weit entfernt vom Tod. Ein Psychologe aber würde unter Umständen sagen: Sterben beginnt, wenn mir bewusst wird, dass mein Tod bevorsteht, und dieses Bewusstsein mein Leben bestimmt. Das trifft auf einen Todeskandidaten zu. Der weiß, dass er sterben wird, er kennt unter Umständen sogar den Tag seines Todes. Der Psychologe könnte ihn also als sterbend begreifen. 

„Du bist der, den die Bestatter abholen und in den Sarg betten. Du bist es, der im Krematorium in das Muffelgewölbe eingefahren wird. Es ist dein Haar, das da verbrennt.“

Der Prozess des Sterbens ist auch deswegen so schwierig in Worte zu fassen, weil Sterben eine höchst individuelle Angelegenheit ist. Ein Mensch wird überfahren, ein anderer stirbt an Krebs, ein anderer an einem Herzinfarkt. Der Sterbeprozess, der für den einen gilt, muss nicht für den anderen gelten. Durch zwei Kunstgriffe erzeugst du beim Leser dennoch die Illusion, er würde sein persönliches Sterben verfolgen.
Zu Beginn meiner Recherche las ich viele Geschichten über den Tod, die sich oft um einen konkreten Fall drehten. Ich las, war berührt, schloss aber gleich wieder damit ab. 

Weshalb?
Reflexartig sagte ich mir: „Das bin ja nicht ich! Das ist jemand anderes!“ Auf Beisetzungen ist es ähnlich. Alle Leute sind traurig, aber niemand der Trauergäste glaubt, dass einmal er selbst da unten in der Grube liegt. Ich überlegte, wie ich gegen diesen Reflex ankomme. Der erzählerische Kniff, den ich gewählt habe, ist, dass ich den Leser direkt anspreche und sage: „Tage vor deinem Tod wird dein Körper anfangen zu zentralisieren“ – das heißt, er sammelt das Blut im Zentrum des Körpers, wo die wichtigen Organe liegen. Wenn du aus einer längeren Krankheit heraus stirbst, ist es ziemlich sicher, dass das so passieren wird. Diesen Vorgang beschreibe ich auf dich bezogen und ziehe das durch. Du bist derjenige, der von einem leichenbeschauenden Arzt untersucht wird. Du bist der, den die Bestatter abholen und in den Sarg betten. Du bist es, der im Krematorium in das Muffelgewölbe eingefahren wird. Es ist dein Haar, das da verbrennt. 

Ich zitiere zwei Absätze aus dem Kapitel „Sterben“, weil es hilft, deine Methode zu verstehen: „Die Spannung deiner Muskeln schwindet. Dein Auge bricht. Deine Organe stellen den Dienst ein. Der radikale Übergang eines lebendigen Wesens in tote Materie. Aus Sicht der Mathematik folgt er einer superkritischen Hopf-Bifurkation, einem Modell der Chaostheorie, das beschreibt, wie ein Gleichgewicht seine Stabilität verliert. Ärzte sagen dazu, einfache Antworten hätten alle gern. – Dein Kinn krampft sich zusammen, du schnappst nach Atem, die Menschen an deiner Seite glauben, das war dein letzter Atemzug. In der Regel kommt dann noch einer, manchmal auch zwei. Dann ist es soweit. Du atmest dein letztes Mal. Zwei, drei Augenblicke noch pulsiert deine Halsschlagader, dann setzt dein Herzschlag aus.“ Das ist die Energie, die das Buch auszeichnet, dieses Du.
Es gibt kleine Handbücher der Palliativmedizin, für Pfleger. Dort steht auf einigen dürren Seiten auch etwas zu den Anzeichen, die den Sterbeprozess ankündigen: „75 Prozent aller Sterbenden gleiten in eine Bewusstlosigkeit schwankender Tiefe.“ Das trifft es natürlich, aber es ist sehr sachlich. Ich wollte diesen Prozess so dinglich wie möglich beschreiben: Wenn du stirbst, gleitest du in eine Art Dämmer. Du trübst ein. Die Menschen wirken fern, ganz fern. Ob sie wirklich so fern sind, weiß aber keiner genau, weil Sprechen dann oftmals nicht mehr möglich ist. Es kommt häufig zur Cheyne-Stokes-Atmung, dein Atem ändert sich …

„Ich war auf einem Friedhof unterwegs, als ein altgedienter Friedhofsmitarbeiter vom verwesungsmüden Boden sprach.“

Mir sind im Buch viele Begriffe wie eben diese Cheyne-Stokes-Atmung aufgefallen, von denen ich vorher nie gehört hatte. Es wirkt, als würde man sich mithilfe solcher Wort-Leuchttürme das Terrain des Sterbens erobern. Du nennst die „Kaplan-Meier-Kurve“, das „Gompertz’sche Sterbegesetz“, schreibst vom erwähnten „Zentralisieren“, vom „Eintrüben“, vom „Flockenlesen“ – was ist das noch mal genau?
Flockenlesen ist kein fester Fachbegriff wie Cheyne-Stokes-Atmung. Es bedeutet, dass Sterbende, wenn sie eintrüben, beginnen, am Saum ihrer Decke zu nesteln oder in der Luft zu tasten. Ein Pfleger beschrieb mir das so schön: Es erinnere ihn an Kinder im Kettenkarussell, die die Hand heben, um die Luft zwischen den Fingern zu spüren. Der Sterbende tastet nach etwas. Diese Geste muss nicht zwingend auftreten, aber Flockenlesen ist eine schöne Beschreibung für das Phänomen. Die Cheyne-Stokes-Atmung wiederum ist ein Atemmuster, bei dem der Atem flacher wird und dann wieder mit einem tiefen Schnaufer einsetzt. Sterbende zeigen sie häufig.

Worte wie „Flockenlesen“ entfalten eine erstaunliche Wirkung: Sie trösten, weil sie den Eindruck vermitteln, es gebe da doch eine Erklärung für das Sterben, eine Form von Sinn.
Ich bin ein großer Fan von Fachsprache. Manchmal wird sie benutzt, um etwas zu verschleiern, manchmal ist sie extrem wichtig, um etwas klar zu bezeichnen. Ich war auf einem Friedhof unterwegs, als ein altgedienter Friedhofsmitarbeiter vom „verwesungsmüden Boden“ sprach. Ist der Boden gut im Aufnehmen von Leichnamen? Sind da Tonschichten drin, an denen sich Wasser staut? Für jemand, der einen Friedhof betreut, ist die Qualität des Bodens entscheidend. Und deswegen münzt er sich so ein Wort. Das hat etwas Tröstliches: Auch für das, was viele für unaussprechlich halten, gibt es eine Begrifflichkeit. Wir können nur über das sprechen, was wir bezeichnen. 

Reporter Roland Schulz vom SZ Magazin.
Der Reporter Roland Schulz, fotografiert von Gerald von Foris

Du schreibst einen schönen Satz: „Überall überschattet der Tod dein Tun, das lässt die Schönheit des Lebens so ans Licht treten.“ Der ist in dem Kontext gar nicht so tröstlich gemeint, wie er sich anhört. Aber die Erkenntnis ist interessant: In der Anwesenheit des Todes wird das Leben fassbar. Den Eindruck hatte ich sogar beim Lesen deines Buches. Ein paar Tage lang hatte ich es in meiner Tasche bei mir, habe immer weitergelesen. Diese Tage kamen mir anders vor, intensiver. Wie hat die Recherche dein eigenes Bild vom Tod geändert?
Ich fand es sehr seltsam. Die Beschäftigung mit dem Tod wurde Teil meines Alltags. In meinem Arbeitszimmer lagen Bücher zum Verlauf von Verwesungsprozessen, inklusive Schaubildern. Da lagen dicke Bände mit Bestattungsvorschriften, die paragrafenweise regeln, was wann wo wie zu machen ist. Ich hatte den Eindruck, dass es mir so geht wie den Professionen, die mit dem Tod umgehen: Der Bestatter kann nicht um jeden Verstorbenen weinen, den er begleitet. Also baut er Distanz zu seiner Arbeit auf. Das versuchte ich auch, aber es gelang nicht immer. Während der Recherche erlebte ich einige Male als Praktikant eines Bestatters die Beisetzung eines Kindes. In einem Fall kamen wir hin, rückten alles zurecht, die Blumen, die Kerzen, die CD, den Sarg. Die Trauerfeier begann und die Trauerrednerin hob an und – es war unfassbar. Ich stand der Sicht entzogen, hörte aber alles; ich hörte, wie alle weinen und musste auch unfassbar weinen. Ich sah mich um und bemerkte in dem Moment, dass die Mitarbeiter des Bestatters und die Sargträger verschwunden waren. Da musste jeder noch mal schnell telefonieren, musste auf die Toilette, irgendwohin. Die kannten das. Die wussten: Das geht mir jetzt nahe, ich gehe besser.

Sie wahren Distanz und schützen sich selbst.
Einmal begleitete ich einen Leichenbeschauer und bemerkte, dass er nicht nur Handschuhe anlegte, sondern auch eine Atemmaske für Ärzte. Ich erzählte ihm, dass ich Bestatter kenne, die das nicht tun würden. Er nickte und sagte, dass er selbst solche Kollegen kenne, die bewusst keinen Schutz verwenden, damit ihre Arbeit keine mechanische Note bekomme. Der Leichenbeschauer sagte: „Ich finde, dass man immer einen Abstand wahren muss, weil man diese Arbeit sonst irgendwann nicht mehr machen kann.“ Er erzählte, wie schade er es finde, dass Menschen, die mit viel Mitgefühl in diese Arbeit gingen, nach zehn Jahren erschöpft aufgeben müssten. Er wünsche sich vielmehr, dass genau diese mitfühlenden Menschen 40 Jahre als Bestatter arbeiten könnten, nicht nur zehn. Dabei kann der Atemschutz helfen, als symbolische Distanzierung – und natürlich als Schutz, falls der Verstorbene an einer Infektionskrankheit litt.

„Obwohl der Leichenbesorger in der Kühlung des Krankenhauses noch 1a-Krawattenknoten band, ging das bei der Hausabholung nicht. Plötzlich fiel es ihm auch schwer, ein Hemd zuzuknöpfen.“

Ich betrete im Buch seltsame Graubereiche. Eine Ärztin eilt mitten in der Nacht zu einer Familie, untersucht einen Leichnam und füllt eine umfangreiche Todesbescheinigung mit vielen Punkten aus – obwohl sie den Menschen nie lebend erlebt hat.
Sie muss im Totenschein dokumentieren, wer der Verstorbene ist, wann er verstorben ist, wo und vor allen Dingen: an was. Das hat einen sehr guten Grund: Wenn die Gesundheitsbehörden die Masse an Todesbescheinigungen sichten, können sie Probleme erkennen. Gibt es mehr Herz-Kreislauf-Krankheiten? Lungenkrankheiten? Müssen wir reagieren? Allerdings muss der Arzt in kurzer Zeit eine komplexe Analyse erstellen. Im Krankenhaus ist das einfach, dort gibt es eine Krankengeschichte, die Krankenakte, dort kennt der Arzt den Verstorbenen, dort ist es leicht, zu sagen: Der Herr hatte Krebs und jetzt ist er verstorben. Wenn jemand aber zu Hause verstirbt und der Hausarzt nicht zugleich auch der Leichenbeschauer ist, kommt der Arzt und muss sich fragen: An was könnte es denn gelegen haben? Er sichtet die Arztbriefe und hat das Recht, behandelnde Hausärzte nach der Krankheitsgeschichte zu fragen. Er muss prüfen, ob es ein natürlicher oder ein nicht natürlicher Tod war.

Die Ärztin hebt mit einer Pinzette ein Augenlid. Würde sie dort rote Punkte erkennen, könnte das ein Hinweis auf einen unnatürlichen Tod sein.
Ja, das ist einer der Hinweise. Das interessante bei der Leichenschau ist: Jeder Arzt darf sie machen. Ärzte, die sich sehr gut damit auskennen, finden das nicht gut. Sie sagen: Wenn Sie was an der Lunge haben, dann gehen Sie doch auch zum Lungenarzt, nicht zum Orthopäden. 

Was meinst du damit?
Es gibt ein präzises Protokoll für die Leichenschau, dem aber nur wenige Ärzte nachgehen. Das ist ein offenes Geheimnis. Im Gesetz ist vorgeschrieben, dass der Leichnam entkleidet werden muss, in vielen Bundesländern ist die Untersuchung aller Körperöffnungen vorgeschrieben, Mund, Nase, Ohren, After. Das machen aber bei Weitem nicht alle. Manche Studien sagen: Das macht fast keiner.

Die Ärztin in deinem Buch folgt den Vorschriften gewissenhaft. Sie kommt ins Zimmer, spricht den Toten an, kneift ihn in den Oberarm, um einen Schmerzreiz zu setzen und sucht Beweise für den Tod.
Erfahrene Leichenbeschauer suchen sofort nach sicheren Todeszeichen. Sind im Nacken Totenflecke zu sehen? Ist der Arm schon in der Totenstarre?

Spätestens nach 36 Stunden muss ein Leichnam vom Bestatter von Zuhause abgeholt werden. Du begleitest einen sogenannten Leichenbesorger, der sich beim Abholen des Leichnams aus einer Wohnung bewusst tapsig anstellt, als es darum geht, den Leichnam einzukleiden.
Mir fiel auf, dass einer der Mitarbeiter des Bestatters sich bei einer Hausabholung ungeschickter anstellte als bei einer Abholung in den Krankenhauskatakomben. Dort unten in der Kühlung ging alles schnell: Leichnam auf der Schiene aus der Leichenkühlzelle ziehen, mit der Kleidung anziehen, die die Angehörigen bereitgestellt hatten, zackzack. Bei einer Hausabholung, die ich begleitete, war es anders. Obwohl der Leichenbesorger in der Kühlung des Krankenhauses noch 1a-Krawattenknoten band, ging das bei der Hausabholung nicht. Plötzlich fiel es ihm auch schwer, ein Hemd zuzuknöpfen. Er sagte mir, dass er das bewusst mache, weil die Angehörigen das Nesteln oft nur schwer ertragen könnten. Sie würden vor lauter Ungeduld irgendwann selbst Hand anlegen und auf diese Weise die Scheu vor dem Leichnam verlieren. Gerade eben war da noch der Ehemann, nun ist da ein unübersehbar lebloser Leichnam. So entsteht eine Scheu, die nicht sein muss. Das Nesteln des Leichenbesorgers hilft, diese Scheu zu überwinden. Wer dem Verstorbenen in ein Jackett hilft, ist seiner Hand schon ganz nah, dem Gesicht, den Haaren. Ich habe mit Trauerbegleitern gesprochen, die sagten: Es ist hilfreich, handfest zu verstehen, dass der geliebte Mensch unwiederbringlich leblos ist.

„Ich kann leichterhand fordern: Setzen Sie sich mal mit dem Sterben auseinander! Das ist nicht einfach.“

Ähnlich geht es einem beim Lesen von „So sterben wir“. Ich hatte das Gefühl, dass ich mehr über mich selbst erfahre, indem ich mehr übers Sterben erfahre. Wie möchte ich selbst sterben? Wo? Wie soll vom Sterbebett aus mein Leben aussehen? Vermutlich würde ich mein Leben klarer sehen, wenn ich diese Fragen beantworten könnte?
Finde ich auch. Es muss ja nicht sein, dass man täglich an den eigenen Tod denkt. Aber es ergibt Sinn, einmal zu überlegen, auf welche Art ich bestattet werden möchte: Feuer- oder Erdbestattung? Will ich in einem Wald oder auf einem Friedhof beigesetzt werden? Was ist mir wichtig? Was habe ich geleistet im Leben? Was soll über meinen Tod hinausreichen? Das sind Fragen, die man sich zu Lebzeiten stellen sollte. Aber wie alles im Sterben und im Tod ist es leichter gesagt als getan. Ich kann leichterhand fordern: Setzen Sie sich mal mit dem Sterben auseinander! Das ist nicht einfach. 

Ich stelle mir die drei Teile deines Buches wie Räume vor. Im Sterben erlebe ich das Wohnzimmer, sehr persönlich. Im Tod betrete ich ein behördliches Umfeld, es geht viel um Formalien, Paragrafen, Logistik muss funktionieren. Dann erreiche ich die Trauer, ein einziges Vakuum. Du windest dich auch sichtlich beim Schreiben, kannst nicht sagen, wann Trauer beginnt, wann sie endet, es gibt keine klaren Antworten zu ihrem Verlauf.
Trauer dauert, glaube ich, ein Leben lang. Lediglich die Intensität ändert sich. Bei der Trauer konnte ich tatsächlich nicht eingrenzen, in welchen Räumen sie spielt, nach welchen Bedingungen. Es gibt zum Beispiel diese Vorstellung, dass der Tod deines Vaters dich eigentlich trauriger machen sollte als der Tod deines besten Freundes. Und wenn dein Freund stirbt, müsstest du trauriger sein als nach dem Tod eines Berufskollegen. Als ob solche Abstufungen möglich wären. Im Kern der Trauer geht es allein um die Beziehung, die ein Mensch zum Verstorbenen hatte. Die richtet sich nicht nach Blutsverwandtschaft oder nach Kategorien. Da kann es sein, dass ein Kind der Tod der alten Frau im ersten Geschoß des Mietshauses mehr beschäftigt als der Tod der eigenen Oma. Wegen dieser fließenden Beziehungen fiel es mir auch schwer, eine archetypische Trauer zu beschreiben.

An einigen Stellen formulierst du Ratschläge, etwa: Geh auf jede Beerdigung, wenn der Mensch dir was bedeutete. Oder: Ruf auch an den Jahrestagen eines Todes die Angehörigen an. Sie sind dann ohnehin aufgewühlt, du wirst sie nicht noch mehr aufwühlen.
Es ist kein Gesetz, aber es kann eine gute Geste sein. Dabei geht es darum, jemandem zuzuhören und es auszuhalten, dass jemand traurig ist. Und es ist wichtig, dabei den Namen zu sagen! Eine Familie, die ich traf, hatte oft das Gefühl, der verstorbene Sohn hätte nie existiert, weil niemand mehr seinen Namen aussprach.

Aus falsch verstandener Vorsicht?
Ja. Einmal erwähnte jemand aus heiterem Himmel den Namen des Kindes. Die Mutter weinte, fand es aber zugleich toll! Zur Beerdigung gehen, da sein, anrufen, den Namen nennen, zuhören. Das sind wichtige Gesten. 

Welches Bild aus deiner Recherche ist dir besonders in Erinnerung geblieben?
Ein Ausschnitt aus einem Snoopy-Comic, den ich mehrmals bei Bestattern sah: „Eines Tages werden wir alle sterben“ sagt Charly Brown. „Stimmt. Aber an allen anderen Tagen nicht“, antwortet Snoopy. Der Dialog beschreibt einen guten Umgang mit dem Tod. Ich soll schon daran denken, dass ich sterben werde. Aber ich soll auch nicht jeden Tag von dieser Last geplagt durchs Leben gehen. Und es gibt noch eine wichtige Erkenntnis, die mir geblieben ist: Viele Ärzte sagten mir, dass sie Sterbenden immer mit Respekt und mit Demut begegneten. Wir sprechen hier zwar über Details des Sterbens und über den Tod, aber das bedeutet nichts. Wie es uns selbst ergeht, wenn wir die Nachricht bekommen, dass der Tod nahe ist, können wir überhaupt nicht ermessen. 

Fotos: Gerald von Foris