Jede Meinung sollte durch drei Siebe: Was ich von Sokrates gelernt habe

Auf dieser Webseite frage ich die Erfahrensten und die Besten eines Faches nach ihrem Wissen und ihrer Weisheit. Aber auch woanders finden sich hilfreiche Lehren über gelingende Arbeit oder gelingendes Leben. Im Buch »Jung im Kopf« zitiert der Biologe und Hirnforscher Martin Korte den Philosophen Sokrates mit der folgenden Geschichte:

Die drei Siebe des Weisen
Zum weisen Sokrates kam einer gelaufen und sagte: »Höre, Sokrates, das muss ich dir erzählen!« 

»Halte ein!« unterbrach ihn der Weise. »Hast du das, was du mir sagen willst, durch die drei Siebe gesiebt?«
»Drei Siebe?«, fragte der andere voller Verwunderung.
»Ja, guter Freund! Lass sehen, ob das, was du mir erzählen willst, durch die drei Siebe hindurchgeht: Das erste ist die Wahrheit. Hast du alles, was du mir erzählen willst, geprüft, ob es wahr ist?«
»Nein, ich hörte es erzählen und …«
»So, so! Aber sicher hast du es im zweiten Sieb geprüft. Es ist das Sieb der Güte. Ist das, was du mir erzählen willst, gut?«
Zögernd sagte der andere: »Nein, im Gegenteil … «
»Hm«, unterbrach ihn der Weise, »so lass uns auch das dritte Sieb noch anwenden. Ist es notwendig, dass du mir das erzählst?«
»Notwendig nun gerade nicht …«
»Also, sagte lächelnd der Weise, »wenn es weder wahr noch gut noch notwendig ist, so lass es begraben sein und belaste dich und mich nicht damit.«

In Martin Kortes Buch geht es im Nachgang um Weisheit im Alter, sehr interessant. Die Sokrates-Episode aber (deren Quelle man nicht genau kennt), finde ich in dieser zitierten Form recht anmaßend. Würde man jede Nachricht durchs Sieb sieben, hätten wir keine Zeitungen, denn in den allermeisten Fällen finden vor allem schlechte Nachrichten ihren Weg in die Öffentlichkeit. Und, ehrlich: Eine Unterhaltung ist nur dann gut, wenn auch mal nicht Notwendiges gesagt werden kann.

Kürzlich war ich bei Freunden und entdeckte auf einer Karte an einer Pinnwand eine frei interpretierte und vor allem verkürzte Version der Sokrates-Episode. Sie geht so:

Hast du deine Meinung schon durch die drei Siebe gegossen?
Jenes der Wahrheit?
Jenes der Güte?
Jenes der Notwendigkeit?

Klingt pastoral, finde ich in der Kompaktheit aber gut – weniger anmaßend, sehr direkt und vor allem auf den Umgang mit Meinungen bezogen. Wie anders könnten politische Diskurse und Debatten in den sozialen Medien verlaufen, wenn sich jeder diese drei Fragen stellen würde, ehe er seine Meinung formuliert.