Nur der Verzicht verhindert, dass wir dauerhaft verlieren, was wir lieben: Was ich von Frank-Walter Steinmeier gelernt habe
Auf dieser Webseite frage ich die Besten eines Faches nach ihrem Wissen und ihrer Weisheit. Aber auch woanders findet sich Interessantes über gelingendes Leben und Arbeiten. In den Reden von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zum Beispiel.
Vergangenen März hörte ich zum ersten Mal nach langer Zeit wieder bewusst eine Ansprache von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Das Land war gerade im Lockdown, Steinmeier sprach kurz und knapp im Fernsehen. Mich erstaunte die Wirkung seiner Worte. Die Sätze waren direkt, verständig, aufmunternd, sogar ergreifend. Recht genau das, was in die Zeit passte.
In den folgenden Wochen und Monaten verlor ich mich immer wieder auf bundespraesident.de und las in den jeweils neuen Reden von Frank-Walter Steinmeier. In der Lektüre entdeckte ich weniger einen ehemaligen Politiker, der nun das »höchste Amt im Lande« innehat. Vielmehr schimmert ein Seelsorger, Mediator und Demokratie-Coach durch die Zeilen, der mit seinen Sätzen um Verständnis für die Gegenwart wirbt, nach Ausgleich sucht und dem Land immer wieder mit einem verbalen Tritt in den Hintern vermittelt, dass eine stabile und funktionierende Gesellschaft stets neu erobert werden müsse.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier rückt dabei auf einen Platz, den Teile der Politik und die Kirchen haben verwaisen lassen: Er vermittelt zwischen dem komplexen Leben dort draußen und dem Alltag im Kleinen. Immer wieder lädt er sich Menschen zum Gespräch ins Schloss Bellevue, spricht mit Covid-19-Genesenen, trifft Kommunalpolitiker:innen, die Hass erleben, hört Digitalcheckern genauso zu wie Menschen, die täglich Rassismus erfahren. Immer wieder nimmt sich Steinmeier alltägliche Schieflagen vor, wird zum Lebenslehrer, mal zum Philosophen, morpht zum Psychologen, wandelt sich dann zum Wegweiser in komplexen gesellschaftspolitischen Umgebungen. So zumindest mein Eindruck nach der Lektüre von 30 seiner Ansprachen.
Natürlich ragt bei der Rückschau auf die Reden seines Jahres dieser eine Satz heraus, den er anlässlich des 75. Jahrestages des Zweiten Weltkrieges über Deutschland sagte: »Man kann dieses Land nur mit gebrochenem Herzen lieben.« Aber Steinmeier hatte 2020 noch wesentlich mehr im Köcher. Manchmal schrieb ihm sein Redenteam beinahe poetische Sentenzen, manchmal pumpt durch eine Passage soviel Rhythmus, dass ich denke, sie könnte gleich als Song abheben.
Vor allem aber legt Steinmeier Sinn in vermeintlichem Unsinn offen, stellt Zusammenhänge her, die das Leben ein bisschen besser verstehen helfen. Deshalb will ich, ehe er am 24. Dezember zur Weihnachtsansprache anhebt, hier die aus meiner Sicht dienlichsten oder erhellendsten Sätze und Passagen aus zwölf Ansprachen und Reden zitieren. Auf die komplette Rede verlinke ich jeweils in der Überschrift.
1. Videobotschaft zur Corona-Epidemie
»Doch was bedeutet das? Was bedeutet das, wenn wir wissen: Diese Stunde dauert keine 60 Minuten. Sie dauert womöglich Wochen. Es bedeutet verzichten. Darauf, die Eltern und Großeltern zu sehen, sich mit Freunden zu treffen, mit ihnen essen zu gehen, zu feiern oder einfach auch nur, nach einem langen Winter gemeinsam in der Sonne zu sitzen. Darauf zu verzichten, das fällt uns allen schwer, auch mir. Doch nur der Verzicht verhindert, dass wir dauerhaft verlieren, was wir lieben. Die überwältigende Mehrheit in unserem Lande hat das verstanden und handelt danach. Dafür danke ich Ihnen.«
2. 100-jähriges Bestehen der estnischen Botschaft
»Wir vermissen ja nicht nur Freunde und Bekannte, wir vermissen auch die unerwarteten, überraschenden Begegnungen, aus denen Freundschaften erst erwachsen.«
3. Testfall Corona – Wie geht es unserer Demokratie?
»Vertrauen, das wissen wir, lässt sich nicht verordnen. Zum Vertrauen in Demokratie gehört das Selbstvertrauen der Bürgerinnen und Bürger. Es ist kein blindes Vertrauen, sondern eines, das auch auf Skepsis, vor allem aber auf eigener Urteilskraft beruht. Es kann nur wachsen, wenn Politik erfahrbar ist.«
4. Gespräch über Rassismus in Deutschland
»Nein, es reicht nicht aus, »kein Rassist« zu sein. Wir müssen Antirassisten sein! Rassismus erfordert Gegenposition, Gegenrede, Handeln, Kritik und – was immer am schwierigsten ist – Selbstkritik, Selbstüberprüfung. Antirassismus muss gelernt, geübt, vor allen Dingen aber gelebt werden.«
5. Erster bundesweiter Digitaltag
»Digitalisierung ist menschengemacht – und sie sollte uns menschlicher machen!«
6. 75. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges
»Rabbi Nachman hat gesagt: »Kein Herz ist so ganz wie ein gebrochenes Herz.« Die deutsche Geschichte ist eine gebrochene Geschichte – mit der Verantwortung für millionenfachen Mord und millionenfaches Leid. Das bricht uns das Herz bis heute. Deshalb: Man kann dieses Land nur mit gebrochenem Herzen lieben. Wer das nicht erträgt, wer einen Schlussstrich fordert, der verdrängt nicht nur die Katastrophe von Krieg und NS-Diktatur. Der entwertet auch all das Gute, das wir seither errungen haben – der verleugnet sogar den Wesenskern unserer Demokratie.«
7. Gedenkfeier zum 40. Jahrestag des Oktoberfestattentats
»Die wieder aufgenommenen Ermittlungen konnten die offenen Fragen zwar nicht mehr beantworten. Aber sie haben zu einer klaren Einordnung des Generalbundesanwalts geführt: Der Anschlag auf das Oktoberfest 1980 war ein rechtsterroristischer Anschlag. Diese Erkenntnis macht einen Unterschied. Wie jede Erkenntnis macht sie uns freier. Sie war notwendig – und sie war ein Gewinn.«
8. Ordensverleihung zum Tag der Deutschen Einheit: Vereint und füreinander da
»Vereint und füreinander da, das ist ein schönes Motto für unsere Gesellschaft. In manchen Ohren mag es aber auch ein bisschen zu freundlich, zu apodiktisch klingen, ganz so, als wäre in unserem Land längst alles gut. Sie kennen die Redensart, die uns im Alltag immer wieder begegnet: »Alles gut«. Das ist zwar immer nett gemeint, dient aber oft nur dazu, sich nicht einzulassen auf den anderen, Widersprüchen auszuweichen, Konflikten aus dem Weg zu gehen.«
9. Festakt zum Tag der Deutschen Einheit 2020
»Denn so viel steht fest: Unsere Zukunft erschöpft sich nicht allein in der Fortschreibung einer gelungenen Gegenwart. Corona hat uns Demut gelehrt. Der Klimawandel fordert unsere Lebensweise grundsätzlich heraus. Alte Allianzen werden schwächer, die Welt ist unsicherer geworden. Viele Selbstverständlichkeiten, mit denen wir Jahre und Jahrzehnte gelebt haben, sind keine mehr.«
10. Friedenspreis des Deutschen Buchhandels für Amartya Sen
»Demokratie bewahrt uns nicht vor Fehlentscheidungen. Aber sie lässt uns Fehler korrigieren. Keine andere Staatsform hat eine eingebaute Möglichkeit zur Selbstkorrektur. Und diese Korrekturfähigkeit liegt in freien, fairen, gleichen und geheimen Wahlen.«
11. Verleihung des Deutschen Umweltpreises
»Wir müssen nachdenken, wir müssen umdenken, manchmal sogar radikal umdenken: wie wir arbeiten, was wir produzieren, wie wir wirtschaften, wie wir uns fortbewegen und was wir essen. Das wird uns einiges abverlangen. Aber Sorge sollten wir nicht haben, wenn sich manches ändert. Sorge müssen wir haben, wenn sich nichts ändert! Grundlagen für die Welt von morgen schaffen, ich glaube, dass wir dafür gar nicht schlecht gerüstet sind. Wie hat David Grossman es vor wenigen Tagen so schön ausgedrückt: Wenn der Anker geworfen ist, hält er an der Zukunft fest. Und wir können heute sagen: Der Anker ist geworfen. Ich denke an den Atomausstieg und den Kohlekompromiss, ich denke an den Ausbau der erneuerbaren Energien, an den Einstieg in den Zertifikatshandel, den beginnenden Wandel der Mobilität.“
12. Forum Bellevue: Wie gelingt Transformation gemeinsam?
»Politik darf die Zumutungen nicht verschweigen, die mit großen Veränderungen einhergehen. Sie muss vor allem aber auch Chancen aufzeigen. Chancen aufzeigen, indem sie sagt, dass Wohlstand und Wettbewerbsfähigkeit durch ökologische Innovation, mehr Lebensqualität durch saubere Luft und weniger Lärm, dass das auch zu den Chancen für eine andere Zukunft gehört. Will sagen: Wir brauchen eine gemeinsame Idee von der Zukunft dieser Gesellschaft und damit auch ein positives Bild von der Zukunft, um den Wandel tatsächlich zu gestalten und die Mehrheit der Menschen auf diesem Weg mitzunehmen. Nur mahnen, dass es ums Überleben geht, dass eigentlich alles schon viel zu spät sei, das allein weckt nicht den Mut, der erforderlich ist. Aber Mut brauchen wir, wenn wir unsere Welt neu denken und in eine klimaneutrale Gesellschaft aufbrechen wollen!«