Die Kostümbildnerin Lisy Christl über ihre Arbeitsweise: Ich suche nach der feststehenden Größe, dann kann ich beginnen

Lisy Christl arbeitet mit den prägenden Regisseuren der Gegenwart: Für Michael Haneke stattete sie unter anderem „Wolfzeit“ aus, für Hans-Christian Schmid „Was bleibt“, für die Arbeit an Roland Emmerichs „Anonymous“ wurde sie für den Oscar nominiert. Ein Gespräch über die Suche nach Leitmotiven, den Aha-Effekt während einer Robert Wilson-Aufführung und ihre Lehren aus einem Kinderfilm. Fotos: Gerald von Foris

Frau Christl, Sie sagten mir am Telefon, dass Sie kurz davor seien, in den Schacht abzusteigen. Was bedeutet das?
Es gibt ein Angebot zur Mitarbeit an einem neuen Film. Das Drehbuch habe ich bereits gelesen, nun trage ich die Roman-Vorlage in meiner Tasche. Ich begebe mich Stück für Stück in die Geschichte. Für mich ist das so, als würde ich eine ganze Reihe von Menschen und deren Welt kennenlernen. 

Wie entscheiden Sie sich für ein Projekt?
Im Moment gibt es zwei Projekte und dieses ist für mich das Relevante. Aber auch der Drehort spielt bei der Entscheidung eine große Rolle: Über die Jahre habe ich mir ein fantastisches Team aufgebaut, das in und um Berlin lebt. Aus Kostengründen ist es selten möglich, alle mitzunehmen. Aber wann immer ich es möglich machen kann, arbeite ich mit diesen Kollegen.

Ich habe von einer „Textile Artist“ gelesen, die während der Arbeit an Roland Emmerichs Shakespeare-Film „Anonymous“ die Kleider färbte, bemalte und bearbeitete …
Das ist Marie Heitzinger, eine meiner engsten Mitarbeiterinnen und Freundinnen. Wenn ich sie nicht in ein Projekt mitnehmen darf, gibt es auch mich nicht. Die Produktionen werden zeitlich immer dichter und komplexer, deshalb ist es wichtig, dass du Menschen neben dir hast, die dich verstehen. 

Was genau macht ein Textile Artist?
Marie erzeugt das Benutzte, das Leben in den Kleidern und in den Schuhen, überhaupt in allem, was ein Schauspieler trägt. Die deutsche Bezeichnung „Patinierer“ wird Maries Arbeit leider in keiner Weise gerecht – sie macht so viel mehr. Mir ist es überhaupt wichtig, Arbeit mit den richtigen Worten zu würdigen.

Weshalb?
Eine Bezeichnung soll ausdrücken, was eine Person vermag. Das Wort Kostümbildner zum Beispiel drückt für mich genau das aus, was mir persönlich wichtig ist: ein Kostüm bilden.

In „Wolfzeit“ schickt Regisseur Michael Haneke eine Mutter mit ihren beiden Kindern durch eine endzeitliche Welt. Sie haben Haneke in der Vorbereitung zunächst auch Landschaftsbilder gezeigt und er fragte: „Wo sind eigentlich die Menschen?“
Ich zeigte ihm unter anderem ein Feld, in dem streunende Hunde stehen. Buschwerk. Ich wollte wissen, ob das die Stimmung ist, die er sich vorstellt. Der Filmhandlung geht eine Art Apokalypse voraus. Ein Familienvater wird erschossen. Seine Frau nimmt sich ein Fahrrad und zieht mit den beiden Kindern weiter. 

Welche Rolle spielt hier die Landschaft für Ihre Kostüme?
Es gibt Landschaften, die machen was mit dir, in denen fühlst du dich zu Hause. Bei mir selbst ist das ganz klar das Oberland südlich von München.  Aus diesem Wissen, aus diesem Gefühl haben sich für mich bei „Wolfzeit“ Fragen ergeben: Wie läuft die Frau durch diese kaputte Landschaft? Möchte ich sie dort sehen? Soll sie aus dem Dunkelgrüngrau der Umgebung herauswachsen? Soll sie vielmehr hineinwachsen? Möchte ich sie hören können? Anoraks zum Beispiel machen ein unangenehmes Geräusch – wollen wir das? Aus der Landschaft entstehen Fragen zu der Kleidung der Figuren.

In „Funny Games“, einem unheimlich brutalen Film von Michael Haneke, kann man sich den unschuldig weißen Shirts der beiden jungen Täter nicht entziehen.
Wir haben den Film Mitte der Neunziger in Wien vorbereitet. Die Kostüme der Täter waren von Tennis-Shirts und Hosen der elitären Tennisclubs inspiriert. Egal ob ein Film in der Vergangenheit oder in der Jetzt-Zeit spielt: Für jede Gesellschaft lassen sich Bildbeispiele finden. 

Das bedeutet?
Jede Zeit entwickelt ihren Dresscode. Zu jeder Gesellschaftsschicht gibt es einen Schlüssel in Form von Kleidung.

„Was bleibt“ von Hans-Christian Schmid wird nun sieben Jahre alt. Ich sehe in dem Film gedeckte Farben, dunkelblaue Leinenhemden, Leinenhosen, cremefarbene Seidenblusen, Seidenkleider …
Ja, das alles würde ich als neutralen Stil einer bildungsbürgerlichen Familie bezeichnen.

Würden Sie die Darsteller heute anders ausstatten?
Nein. Ich glaube nicht. Sie sind zeitlos angezogen.

Ist Ihre Arbeit gelungen, wenn sie zeitlos wirkt?
Das ist mein Wunsch und mein Ansinnen: Es wäre schön, wenn die Filme, für welche ich die Kostüme gestalten durfte, auch durch die Kleidung eine Zeitlosigkeit behalten würden.

Der Regisseur formuliert einen Zweifel, den er nicht genauer erklären kann. Wenn dieser Zweifel entsteht, rede ich ihn nicht schön.

Sie nehmen sich viel Zeit für die Vorbereitung eines Films und nähern sich dem Thema nach und nach mit Collagen und Bildserien. Manchmal bekleiden sie Schneiderpuppen mit den Kostümen, um nah an die Wirklichkeit zu kommen. Wie reagieren die Regisseure?
Es gibt entweder ein Spontanes „Ja, genau“ …

… der Idealfall, nehme ich an …
Oder ein „Warum?“ Oder aber, und dann wird es schwierig: Der Regisseur formuliert einen Zweifel, den er nicht genauer erklären kann. Wenn dieser Zweifel entsteht, rede ich ihn nicht schön.

Sie diskutieren nicht?
Diskutieren ja, überreden nein. Intuition lässt sich nicht überreden. Dann heißt es weitersuchen.

Gibt es ein Projekt, aus dem Sie besonders viel gelernt haben?
Ja, bei einem Kinderfilm, den ich vor vielen Jahren gemacht habe. Ich hatte mich von Beginn an sehr auf das Wort „Kinderfilm“ eingelassen und versuchte, jede der Figuren aus Kinderaugen zu betrachten. Im Drehbuch gab es eine junge Frau, die in meinen Augen die Prinzessin der Geschichte war, so hatte ich sie auch angelegt. Die Produzenten meinten dagegen, sie hätten Angst, das Ganze wäre nicht „interessant genug“. Ich konnte nicht genau herausfinden, was hinter dem Begriff „interessant“ steckt. Also habe ich weitergemacht. Kurz vor Drehbeginn – wir hatten viele Kostüme angefertigt – verlangten die Produzenten, ich solle die Figur bitte neu gestalten. Erst in diesem Moment begriff ich, um was es ging. Ich lernte, was das Wort „Family Entertainment“ genau bedeutet und verstand, dass ich das Ziel nicht erkannt hatte: Es ging nicht um eine Prinzessin, sondern um eine Identifikationsfigur für die Mütter und auch die Väter.

Wie hat diese Erfahrung Ihre weitere Arbeit beeinflusst?
Sobald das Unbehagen auftaucht, das ich bei diesem Film spürte, forsche ich solange nach, bis ich eine Form oder einen Look gefunden habe, mit dem alle zufrieden sind.

Verstehe.
Es war das erste Mal, dass ich eine Figur visuell sterben lassen musste, dass ich sie vollkommen neu erfinden musste. Eine schmerzhafte, aber wichtige Erfahrung. Ich bin ja Teil eines Ganzen und will meine Aufgabe erfüllen. 

Warum verpflichten Regisseure gerade Sie?
Das ist eine schwierig zu beantwortende Frage. Wenn du einen historischen und sehr aufwändigen Film wie Anonymous machst – komplexe Schauspieler, großes Budget, größeres Team – dann geht es um die Frage, ob ich die Erfahrung habe, das zu verwalten und in all dem Geschehen einen klaren Kopf zu behalten. Grundsätzlich geht es bei den Verpflichtungen immer um eine Mischung aus meiner Fachkompetenz und meinem Wesen.

Wie war es mit Roland Emmerich?
Das hatte Fulminanz. Er vertraute mir. Er war nicht vorsichtig, sondern offensiv. Er schubste mich und sagte: „Mach, trau dich!“

Kostümbildnerin Lisy Christl, fotografiert von Gerald von Foris

Sie haben prächtige historische Filme wie „John Rabe“ oder „Anonymous“ ausgestattet. Und doch muss ich immer wieder an diese Szene mit Lars Eidinger in „Was bleibt“ denken: Er trägt ein schlichtes, blaues T-Shirt mit dem weiten Ausschnitt, wie es vor bald zehn Jahren modern war.
Ja, der Regisseur Hans-Christian Schmid fand das bis zum Ende schwierig! So liefen eine Zeit lang alle in Berlin rum. Es war eben Zeitgeist.

Was unterscheidet die Arbeit für „Anonymous“ von „Was bleibt“?
Anonymous war mein bis heute komplexestes Projekt. Es gibt in der Malerei viele Portraits zu dieser spezifischen Zeit am englischen Hof. Königin Elisabeth I. ließ sich zu ihrer Zeit häufig malen, es gab mehrere Portraitmaler, die gut beschäftigt waren. Es lagen also viele Informationen auf dem Tisch. Wie aber setze ich diese Zeit ins Bild, ohne die Motive zu kopieren? 

Ist das ein Teil Ihrer Aufgabe: der Kopie entgehen?
Ja, denn ich möchte ja eine eigene Formensprache finden, die es dem Zuschauer der Gegenwart ermöglicht, einen Bezug zur Renaissance-Zeit herzustellen. 

Wie gehen Sie technisch an ein Projekt wie Anonymous?
Ich mache mir ein Konzept und kläre zuerst, wie die zentrale Figur, also die Königin aussieht. Dann kann ich überlegen, wie die Menschen dahinter ausschauen. So arbeite ich eigentlich immer: Ich gehe von der wichtigsten Figur aus – in diesem Fall von der Königin. Wenn ihr Kleid zum Beispiel Rosa ist, werde ich die Hofdamen in einer entsprechend passenden Farbe gestalten.

Es ist wichtig, sich selbst eine gute Struktur zu geben und sich den Raum für den schönen, den kreativen Teil der Arbeit zu schaffen

Wie lange arbeiten Sie schon als Kostümbildnerin für den Film?
Das erste Kostümbild habe ich 1995 für Michael Hanekes Film „Das Schloss“ entworfen. 

Was raten Sie jemandem, der 2019 mit der Arbeit beginnt?
Es ist wichtig, sich selbst eine gute Struktur zu geben und sich den Raum für den schönen, den kreativen Teil der Arbeit zu schaffen – einen Ort, an dem sich klare Gedanken fassen lassen. Ein solcher Raum entsteht nur, wenn du dich gut vorbereitest, wenn du dir eine gute Struktur schaffst.

Wie schaffen Sie das?
Ich versuche mich so genau wie möglich vorzubereiten.

Das heißt?
Wenn möglich fahre ich an die Orte, an denen ein Film spielt. Ich betreibe eine intensive Bildrecherche. Ich gehe sehr wohl in echte Archive, in Museen. Ich habe eine Schwäche für ethnologische Museen, das finde ich unglaublich interessant, da kann ich viel rausholen. Ich pflege aber auch ein eigenes Archiv. Natürlich arbeite ich mit Online-Datenbanken. Ich habe sehr viele Bücher. Das sind meine Quellen.

Wie sieht Ihr persönlicher Raum für den kreativen Teil aus?
Dieser Raum entsteht in erster Linie im Kopf. Dabei geht es darum, meine eigenen Gedanken zu hören und zu fühlen. Ich muss mich in meinem Arbeitszimmer einschließen. Das geht nur zu Beginn eines Projekts. In dieser Zeit kann ich mich mehrere Wochen vergraben, je nachdem, wie es die Zeit erlaubt. Dann denke ich so lange nach, bis der Knopf durch das Knopfloch rutscht, bis ich diesen einen Gedanken finde.

Welchen Gedanken meinen Sie?
Ich suche ein Leitmotiv, etwas, an dem ich mich festhalten kann. Fühlen sich Form und Farbe mit diesem einen Gedanken richtig an? Taugt der Gedanke zum Grundkonzept, zur Grundidee?

Wie lautete der Gedanke bei „Anonymous“?
Bei Anonymous wusste ich lange nicht, wie ich mich vom Original lösen kann … 

Das Kopie-Problem.
Genau, oder sagen wir lieber „Das eigene Form-Problem“. Ich schaute mir viele Bilder an, ging ins Kino, besuchte das Theater. Dann sah ich „Shakespeares Sonette“ von Robert Wilson am Berliner Ensemble! Das war der Moment, in dem dieser entscheidende Gedanke entstand: Die haben sich in der Inszenierung allein auf die Silhouetten der Zeit verlassen. Das war die Inspiration, die ich gesucht hatte: Jede Epoche hat eine Silhouette, die ich nicht verändern darf. Alles andere ist meine Freiheit.

Können Sie genauer erklären, welche Bilder aus dem Robert Wilson-Stück diesen Eindruck erzeugt haben?
Der Kostümbildner hat mit Halskrausen gearbeitet, wie sie für die Renaissance typisch waren. Die Kleider erzeugten  Silhouetten, wie sie zu Shakespeares Zeit zu sehen waren. Die Kulissen blieben einfach, es gab weiße, rote, schwarze und goldene Bilder. Die gesamte Inszenierung wurde von diesen Silhouetten und diesen Farbflächen geprägt. So war sie modern und dennoch vollkommen verständlich. Das Stück tat mir persönlich sehr gut: Ich spürte die Verbindung zwischen mir und der Epoche, zwischen meinem Geschmack und jener Zeit. Eine solche Verbindung muss ich auch in meiner Arbeit herstellen.

Das erinnert mich an ein Interview mit dem New York Times-Verleger Arthur Sulzberger, der kürzlich darüber sprach, wie er seine Zeitung ins digitale Zeitalter führen will. Er sagte: „Wenn man was verändern will, muss man wissen, was man keinesfalls verändern darf.“
Das ist es! (Lisy Christl nimmt ein Wasserglas und stellt es vor sich auf den Tisch.) Das hier ist das Zentrum. Dieses Zentrum kann eine Figur sein, vielleicht auch das Zentrum eines Hauses oder eines Lebens, der Gedanke ist ja übertragbar. Dieses Glas symbolisiert die feststehende Größe. Sie darf nicht verändert werden. Das Drumherum ist meine Freiheit, die aber erst durch die feststehende Größe entsteht. Sonst wäre es keine Freiheit, sondern Beliebigkeit. 

Ist es das, was Sie bei jedem Projekt suchen müssen?
Ich suche nach der feststehenden Größe, nach dem zentralen Gedanken. Dann kann ich arbeiten.

Was war die feststehende Größe bei „Was bleibt“?
Corinna Harfouch, die Mutter der Familie. Sie erschuf das Zuhause, das Haus, in dem der ganze Film spielt. Alle anderen kommen und gehen, aber sie bleibt. Im Buch, das ich gerade lese, gibt es eine Frau, in die sich die Hauptfigur verliebt. Sie wird beschrieben als rothaariges Mädchen mit einem laubgrünen Kleid. Es geht nur um sie, sie ist die Säule, die Sehnsucht, die Projektionsfläche.

Und von ihr aus beginnt der Aufbau Ihrer Arbeit?
Von ihr geht alles aus. Zu ihr kommt alles zurück.

Fotos: Gerald von Foris