Gedächtnis-Weltmeisterin Christiane Stenger über Berufung: »Leidenschaft für eine Sache erkenne ich daran, dass sie mich lebendig macht«

Ihr Lebenslauf ist mit Superlativen bestückt, die ihr selbst nur wenig bedeuten: Ein Gespräch mit Christiane Stenger über ihre außerordentlichen Merkfähigkeiten, das Hadern mit ihrer Hochbegabung, den Erfolg als Bestsellerautorin und den Neuanfang im Schauspiel. Fotos: Gerald von Foris

Frau Stenger, Sie sind Expertin für Gedächtnistraining, also beginne ich mit einer praktischen Frage: Wie merke ich mir meine Einkaufsliste am besten?
Wenn Sie sich etwas merken wollen, müssen Sie wissen, was sich Ihr Gehirn leicht merkt. Bilder findet es super, weil ein erheblicher Teil unseres Gehirns mit dem Dekodieren und Zusammensetzen von Bildern beschäftigt ist. Besonders leicht merken wir uns auch Dinge, die uns interessieren, die Leidenschaft in uns auslösen. Und wir speichern Informationen einfacher ab, wenn wir sie mit bekanntem Wissen verknüpfen können. 

In Ihren Büchern steht sinngemäß: Wer sich im Alltag etwas merken will, sollte möglichst wilde Bilder und Geschichten zu den jeweiligen Fakten entwickeln.
Ja, spielen wir es am Beispiel von Vornamen durch, die Sie sich merken möchten: Bei Thomas stellen Sie sich vielleicht vor, wie eine Tomate auf seiner Brille herumhüpft. Anna balanciert eine Ananas auf dem Kopf, Gökhan steuert gerne einen Kahn, Michael trinkt gerne Milch, Sabine tanzt gerne mit Bienen … Hier sind Ihrer Phantasie keine Grenzen gesetzt.

Mit den Bildern baue ich Eselsbrücken …
… die Sie zum richtigen Namen führen. 

Mir gefällt auch die von Ihnen beschriebene Körperroute: Ich verbinde das, was ich mir merken will, mit bestimmten Stellen meines Körpers, die ich dann gedanklich von unten nach oben abgehe.
Dann nehmen wir doch gleich eine fiktive Einkaufsliste und versuchen es: Wenn Sie Grapefruit einkaufen wollen, stellen Sie sich vor, wie Sie die Grapefruit auf ihrem Fuß balancieren. Mit den Gurken machen Sie Ihren Knien eine Gurkenmaske. Die Milch baumelt als Mini-Milch an Ihrem Hausschlüssel, der aus Ihrer Hosentasche ragt. Der Lauch massiert Ihnen den Rücken. So geht es immer weiter und so können Sie alle beliebigen Körperstellen bis zum Kopf mit einem Gegenstand Ihrer Liste verbinden. 

Die Motive prägen sich gut ein, nur das Ausdenken finde ich erstaunlich schwierig.
Am Anfang fällt es schwer, aber wenn Sie sich einmal zehn Bilder ausgedacht haben, kommt das elfte schon schneller. Wir haben alle Phantasie, nutzen sie nur nicht so oft. Sie lässt sich leicht wecken. 

Ich möchte mit Ihnen auch über Ihre Schul- und Arbeitsbiografie sprechen. Beginnen wir im Heute: Was machen Sie gerade?
Zum einen mache ich gerade mit Samira El Ouassil den Philosophie-Podcast »Sag niemals Nietzsche«: In jeder Folge lassen wir ein Wort aus der Philosophie auf ein Wort aus dem Alltag treffen. Wir nehmen etwa die »Liebe« aus der Philosophie und den »Müll« aus dem Alltag und formulieren die Frage: Was nutzt die Liebe im Papierkorb? 

Ein schönes Konzept.
Die Begriffe »Langeweile« und »Geld« führen zur Frage: Kann man mit Geld Langeweile kaufen? Darüber unterhalten wir uns. Zurzeit schreibe ich auch an einem neuen Buch und würde gerne einen Podcast zur Klimakrise machen – weil wir so nah an den Tipping-Points sind, die unsere Welt nachhaltig verändern werden. Und gemeinsam mit Freunden habe ich den Verein »10drei« gegründet, mit dem wir Schüler:innen die Werte des Grundgesetzes vermitteln. 

Das heißt?
Sie überlegen sich mithilfe von »Design Thinking« Mittel und Wege, wie sie anderen die Werte unserer Verfassung vermitteln. So lernen sie einzelne Artikel und die zugrunde liegenden Werte selbst schnell kennen. 

Wie kam es zu der Idee?
Ich war bei Freunden zu einem »Demokratie Dinner« eingeladen und wir sprachen über das Auseinanderdriften unserer Gesellschaft und mögliche Gegenmittel. Die Diskussion führte uns zum kleinsten gemeinsamen gesellschaftlichen Nenner: den Werten unseres Grundgesetzes. In einem Design Thinking Workshop wollten wir herausfinden, was wir dazu anbieten könnten, und sahen, dass die Methode auch Schüler:innen helfen kann, frei zu denken und zu träumen. Eine Klasse zum Beispiel entwickelte unter unserer Anleitung einen Podast zu Artikel 3 über die Gleichberechtigung und interviewte einen Menschen im Rollstuhl, einen Geflüchteten aus Syrien, einen Transgender-Jugendlichen, eine Grundrechtsexpertin. Die Schüler:innen eignen sich so zentrale Inhalte des Grundgesetzes an. Diese Methode wollen wir nun in möglichst viele Schulen bringen.  

Die einstige Juniorengedächtnisweltmeisterin Christiane Stenger, fotografiert von Gerald von Foris
Die einstige Juniorengedächtnisweltmeisterin Christiane Stenger, fotografiert von Gerald von Foris.

Ihr Engagement ist damit nicht ausbuchstabiert: Sie wollen künftig als Schauspielerin arbeiten.
Ja, für den Tanz und das Schauspiel schlägt mein Herz, ich habe eine private Schauspielschule besucht und abgeschlossen. Weil ich es vor Corona nicht mehr geschafft habe, ein Demo-Band aufzunehmen, liegt die Arbeit aber nun brach. Dem Thema werde ich mich voraussichtlich wieder mehr widmen, sobald ich meine Corona-Angst überwunden habe.

Sie waren als Schülerin zweimal Juniorengedächtnisweltmeisterin und einmal Gedächtnisweltmeisterin der Frauen, schrieben mit 15 Ihr Abitur und studierten danach Politik. Wie kam der Schwenk zum Schauspiel zustande?
Als ich 23 Jahre alt war, wurde ich zu einer Auszeit genötigt: Wegen einer Arthrose musste ich die Knochen meines halben Gesichts brechen und operieren lassen. Ich sah ein halbes Jahr aus wie ein Riesenfußball und durfte nur Suppe und Brei essen. In dieser Zeit dachte ich viel nach und erinnerte mich, dass ich als Kind Schauspielerin und Tänzerin werden wollte. Als ich wieder gesund war, nahm ich dieses Gefühl der kindlichen Begeisterung ernst und besuchte als ersten Test einen Musical-Workshop. Mein Interesse blieb bestehen und einige Jahre später begann ich tatsächlich die Schauspielausbildung. 

Wenn ich Zeit zum Nachdenken gewinne oder eine Sache längere Zeit liegen lasse, sehe ich klarer, was ich eigentlich möchte

Beschäftigen Sie sich überhaupt noch mit dem Gedächtnistraining?
Es ist nie aus meinem Leben verschwunden. Nach der Zeit im Krankenhaus schrieb ich mein zweites Buch »Lassen Sie Ihr Hirn nicht unbeaufsichtigt«, das ein Jahr lang in der Spiegel-Bestsellerliste stand. In den vergangenen Jahren aber wurde es bei mir ruhiger um das Thema. Es tat gut, an der Stelle durchzuatmen und die Gedächtnisarbeit gedanklich zurückzustellen. Jetzt aber will ich wieder durchzustarten – meine Vision von früher, jedem Schulkind Gedächtnistechniken zu vermitteln, ist ja noch lange nicht wahr geworden. In unserem Verein und in der Arbeit mit den Schüler:innen kann ich sie nun zur Anwendung bringen, etwa wenn es darum geht, die Grundrechte zu verinnerlichen. 

Was wurde Ihnen durch das Zurückstellen klar, von dem Sie sprechen?
Immer wenn ich zurückgeworfen werde, wenn ich Zeit zum Nachdenken gewinne oder eine Sache längere Zeit liegen lasse, sehe ich klarer, was ich eigentlich möchte. 

Welche Bedeutung messen Sie heute Ihrer außergewöhnlichen Begabung im Gedächtnissport bei?
Hmm, ich verbinde sie vor allem mit der Feststellung meiner Hochbegabung. 

Was meinen Sie damit?
Als Kind war es für mich bedrückend, als hochbegabt eingestuft geworden zu sein.

Weshalb?
Ich wollte alles sein – nur nicht anders. Die Hochbegabung bereitete mir Probleme in der Schule. 

Inwiefern?
Mir fiel ja vieles zu. Selbst für die Erfolge bei den Gedächtnisweltmeisterschaften musste ich nicht unfassbar viel trainieren. Das führte dazu, dass ich eine sehr faule Seite entwickelte, die ich manchmal verfluchte – schließlich wollte ich mich weiterentwickeln, war es aber nicht gewohnt, mich dafür anzustrengen.

Okay.
Und da mir vieles zu Beginn sehr leicht fiel, war es umso frustrierender, wenn dann doch mal etwas nicht so einfach klappte.

Ich stand vor dem Klassenraum, konnte aber nicht mehr reingehen. Mein Körper sagte »Das machen wir jetzt nicht mehr«

Wenn ich an Ihre vielen verschiedenen Interessen und Projekte denke, muss ich sagen: Von der Faulheit scheint nicht mehr viel übrig zu sein.
Ich strenge mich automatisch an, wenn ich etwas tue, das mir am Herzen liegt. Während der Coronakrise habe ich mit einem Freund die Kampagne #maskeauf ins Leben gerufen: Der Virologe Christian Drosten sagte Mitte März, dass es gut wäre, wenn alle Stoffmasken tragen würden, um sich und andere vor dem Virus zu schützen – dass er aber nicht glaube, dass dies kulturell durchsetzbar sei. Daraufhin initiierten wir die Aktivierungskampagne #maskeauf, die schließlich auch Menschen wie Charlotte Roche, Lena Gercke oder Joko Winterscheidt unterstützten. Wir kämpften für eine gute Sache und ich arbeitete über sechs Wochen hinweg bis zu 18 Stunden am Tag. Das war anstrengend, es war mir aber auch sehr wichtig. 

Wie wurde Ihnen als Kind bewusst, dass Sie hochbegabt sind?
Ab der zweiten Klasse wollte ich irgendwann nicht mehr in die Schule gehen, konnte aber nicht konkret sagen, was mich dort störte. Ich hatte gute Noten, mochte die Leute, nur den Ort nicht. Ich begann, mir Krankheiten einzubilden. Irgendwann wurde ich wirklich krank und ging drei Monate nicht zur Schule. Der Arzt, der mich damals behandelte, ahnte mein Problem und fragte, ob ich nicht eine Klasse überspringen wolle – er hätte das als Kind auch gemacht und es hätte ihm sehr geholfen. Ich sagte erst »Nein«, weil ich nicht aus meinem Klassenverband rauswollte. In der dritten Klasse aber wurde es aber wieder so schlimm, dass ich nicht mehr unser Klassenzimmer betreten konnte. 

Wie stelle ich mir das vor?
Ich stand vor dem Klassenraum, konnte aber nicht mehr reingehen. Mein Körper sagte »Das machen wir jetzt nicht mehr«. Meine Eltern gingen daraufhin mit mir zu einem Kinderpsychologen, der einen IQ-Test machte und mir dazu riet, schnell eine Klasse zu überspringen. Statt dem dritten machte ich das vierte Halbjahr und besuchte Kurse einer Hochbegabtenförderung zu Mathe, Deutsch und Physik. Das Problem dabei war nur, das dies alles Themen waren, die ich mit der Schule verband – und ich wollte ja weniger Schule und nicht mehr.

Das kann ich nachvollziehen.
In jener Zeit hörten meine Eltern von dem Kurs »Gedächtnistraining und Naturphänomene«, der zufällig in unserer Straße stattfand. Meine Mutter überredete mich, dort hinzugehen und es einfach mal einen Nachmittag auszuprobieren. Der Kursleiter hatte das Buch »Nichts vergessen!« von Tony Buzan gelesen und probierte mit uns dessen Techniken aus. In der ersten Stunde überlegten wir uns Bilder und Geschichten zu den Zahlen bis 99. Das war anders, neu und lustig und ich dachte: Dabei bleibe ich. 

Was wurde in dem Kurs in Ihnen angesprochen?
Mir gefiel das Spielerische. Es war lustig, sich zum Beispiel eine Ratte vorzustellen, die auf einer Taube zu McDonalds fliegt und dort bestellt – die Bilder symbolisierten für mich die Zahlen 41, 19 und 37. Wir trafen uns zweimal im Monat und bald nahm ich an meinen ersten Meisterschaften teil – und wurde schließlich Juniorengedächtnisweltmeisterin. 

War Ihnen der Gewinn eine Freude?
Es war mir unangenehm, in der Klasse von dem Titel zu erzählen – oder dass ich deswegen bei »stern TV« eingeladen bin. Ich wollte ja wie alle anderen sein. 

Haben Sie in all der Anerkennung irgendetwas für sich selbst gefunden?
Nein, gar nicht. Ich war nie anerkennungsorientiert, auch nicht erfolgsorientiert. Mit vier Jahren wollte ich Schauspielerin, Tänzerin oder Zirkusartistin werden, deswegen fand ich Bühne faszinierend, deshalb fand ich den Auftritt bei »stern TV« insgeheim ganz gut. Mein Gedanke war: »Wenn ich das Gedächtnistraining weitermache, komme ich häufiger auf eine solche Bühne.« Sie war für mich ein magischer Ort, fernab der Realität.

Ich führte lange Gespräche mit vielen Menschen – nur um festzustellen, dass man mit Reden bei der Suche nach der passenden Berufung nicht richtig wirklich weiterkommt.

Sie schrieben Ihr Abitur im Alter von 15 Jahren – Sie müssen im Gymnasium nochmal zwei Klassen übersprungen haben.
Ich übersprang in der Grundschule eine Klasse und wurde im Gymnasium super schlecht. In der siebten Klasse hatte ich in Mathe und Latein im ersten Halbjahr eine 5 und war versetzungsgefährdet. Das ist das Problem mit der Hochbegabung: Ich verstand im Unterricht anfangs alles, dann wurde mir langweilig, ich fing an mich abzulenken und dann war ich gedanklich weg. Zu der Zeit wollte ich nur noch die Schule verlassen. Schließlich fanden meine Eltern für mich das Internat Schloß Torgelow, eine Privatschule in Mecklenburg-Vorpommern. Die Verantwortlichen sagten zu mir: »Christiane, wenn du kommst und gute Noten schreibst, darfst du die neunte Klasse überspringen.« Die zehnte und elfte Klasse kann jeder im Klassenverband dort ohnehin innerhalb eines Jahres absolvieren. 

Das klang für Sie in der Situation wie ein Versprechen, nehme ich an.
Ich dachte: Das hört sich nach einem Plan an, weil ich zwei Jahre schneller aus der Schule komme. So zog ich quasi mit 12 Jahren von Zuhause aus und tuckerte mit meinem Bruder nach Mecklenburg-Vorpommern und hatte mit 16 mein Abiturzeugnis in der Hand. 

Wie haben Sie die Zeit in Torgelow in Erinnerung?
Dort lernen maximal 12 Leute gemeinsam in einer Klasse, die Einzelne und der Einzelne kann sich schlecht rausziehen. Die Lehrer sehen sich eher als Begleiter und wollen, dass alle gut sind, was natürlich bei der Gruppengröße einfacher zu schaffen ist. 

Sie wollten unbedingt weg von der Schule. War Ihnen klar, was danach kommen soll?
Ich haderte mit der Frage, was ich machen wollte. Erst dachte ich daran, in Berlin Kommunikationswissenschaften zu studieren. Dann überzeugte mich meine Mutter, doch wieder nach München zu kommen – sie sehnte sich wahrscheinlich nach ihrem verlorenen Kind. Ich studierte schließlich Politikwissenschaften, schrieb mein erstes Buch über Gedächtnistraining und hielt Vorträge. 

Klingt nach einer abwechslungsreichen Kombination aus Studieren und Arbeiten.
Das Zweifeln am richtigen Weg hörte dennoch nicht auf – das Gedächtnistraining war ja eigentlich nur mein Hobby. Irgendwann, so dachte ich, muss doch der Ernst des Lebens losgehen! Den habe ich gesucht. 

Wie genau meinen Sie das?
Mir schien es, als müsste ich noch meine Berufung finden. Ich führte lange Gespräche mit vielen Menschen – nur um festzustellen, dass man mit Reden bei der Suche nach der passenden Berufung nicht richtig wirklich weiterkommt. 

Ist das so?
Mir wurde klar, dass ich immer Dinge ausprobieren muss, um herauszufinden, was ich machen möchte und wo ich richtig bin. 

Ihr zweites Buch »Lassen Sie Ihr Hirn nicht unbeaufsichtigt« verbrachte viel Zeit in der Spiegel-Bestsellerliste. Vermittelte Ihnen der Erfolg Gewissheit, das richtige zu tun?
Das alles fiel in die Anfangszeit meiner Schauspielausbildung, den Erfolg habe ich gar nicht wahrgenommen. 

Wirklich?
Ich erinnere mich genau an den Moment, in dem mich die Lektorin anrief. Ich stieg gerade in die Straßenbahn, als sie mir sagte, das Buch sei in die Liste eingestiegen. Das war der einzige richtige Glücksmoment. Danach war ich noch ab und zu im Fernsehen zu Gast. 

Was Ihnen ja durchaus mal ein Anliegen war.
Allerdings war es nie ein Lebensziel, einen Bestseller zu schreiben. Ich ging einmal in den Hugendubel, sah das Buch auf Platz vier und dachte »Ah, okay, so ist das also«. Danach ging ich wieder in die Schauspielschule. 

Ich will sehen, welche bunten Fäden es gibt, an denen ich ziehen kann: Ich will meinen Leidenschaften folgen.

In der Schul- und Arbeitswelt ist der Fetisch des frühen Erfolges verankert: Wer sehr jung bestimmte Stufen erklimmt, dem wird eine besonders große Zukunft prophezeit. Sind Ihnen Ihre Eltern oder Lehrer je mit einem Erwartungsdruck begegnet, von wegen: Mach was draus?
Gar nicht. Meine Eltern sagten immer: Mach, was dich glücklich macht. Wenn überhaupt, mache ich mir selbst Druck – weil ich so faul bin und mich immer wieder frage, was hätte sein können, wenn ich nicht so faul gewesen wäre. 

Welche Folgen hat diese Feststellung?
Sie führt leider nie dazu, dass ich fleißiger werde. Sie erzeugt immer nur schlechte Laune, weil ich meiner Erwartung nicht gerecht werde. 

Hm.
Einmal hielt ich an einer Schule einen Vortrag. Die Gäste bei vorherigen Vorträgen waren Astrophysiker, Wirtschaftsleute, erfolgreiche Menschen ganz allgemein. Und ich wurde in der Diskussion von einem Schüler gefragt, warum ich nichts aus meinem Leben gemacht hätte. 

Wie bitte?
Über die Frage denke ich immer wieder nach. Aus meiner Sicht habe ich was aus mir gemacht. Ich habe einfach sehr früh darauf gehört, was mir Spaß macht. Tanzen und Schauspiel macht mir Spaß. Mein Selbst ist mir immer wichtiger gewesen als die Möglichkeiten, die sich zum Beispiel aus einem BWL-Studium ergeben. 

Gibt es etwas, das Sie Ihrem Selbst aus heutiger Sicht anders raten würden?
Ich hätte gerne den Mut gehabt, mich noch als ich 24 Jahre alt war an staatlichen Schauspielschulen zu bewerben, es ernsthaft zu probieren. Das Alter von 24 Jahren ist an diesen Schulen die Altersgrenze für eine Bewerbung. 

Hatten Sie je ein Ziel?
Nein, nie. Ich wollte nur der Fremdbestimmung an der Schule entkommen. Ansonsten wollte ich immer das machen, was mir im bewussten Moment wichtig war. Ich habe bis heute kein Fernziel, entlang dem ich Erfolg oder Misserfolg oder Zwischenstände definiere. Ich will sehen, welche bunten Fäden es gibt, an denen ich ziehen kann: Ich will meinen Leidenschaften folgen.

Woran erkenne ich meine Leidenschaften?
Der Soziologe Hartmut Rosa würde Resonanz dazu sagen, Leidenschaft ist der vibrierende Draht zwischen dir und einer Sache. Sie ist ein neugieriges Gefühl, das entsteht, wenn ich mit etwas in Berührung komme, das mich reizt – der Moment, in dem ich mich lebendig fühle. Das ist vielleicht meine persönliche Beschreibung: Die Leidenschaft für eine Sache erkenne ich daran, dass sie mich lebendig macht. 

Fotos: Gerald von Foris