Entziehe dich dem Geplapper der Gefährten: Was ich von Leonardo da Vinci gelernt habe
Auf dieser Webseite frage ich die Besten eines Faches nach ihrem Wissen und ihrer Weisheit. Aber auch viele Kollegen spüren hilfreiche Lehren über gelingende Arbeit auf.
Gerade habe ich Bernd Roecks Buch Leonardo – Der Mann der alles wissen wollte zur Seite gelegt. Sehr detailliert zeichnet Roeck Da Vincis Leben und Wirken nach. Seite um Seite entsteht das Bild eines Menschen, der sich für sehr sehr viele Dinge gleichzeitig interessiert. Da soll ein neuer Palast gebaut werden? Da Vinci fertigt einen Entwurf an. Die Gestaltung eines paradiesischen Festes am Fürstenhof ist gefragt? Da Vinci ist an Bord. Ein Bronzestandbild benötigt? Kein Problem. Kriegswaffendesign gefragt? Da Vinci hat Ideen in Hülle und Fülle. Er studiert den Menschen, die Natur, die Tiere. Er plant wahre Enzyklopädien, etwa über die Physik des Wassers – und schafft nicht mehr als ein Inhaltsverzeichnis. Bernd Roeck schreibt zum Beispiel, dass Da Vinci unfähig war, die Fülle seiner Einsichten zu strukturieren.
Er selbst verzweifelte an dem Durcheinander, das er angerichtet hatte. „Das wird eine Sammlung ohne Ordnung sein“, schrieb er auf die erste Seite des Codex Arundel, „zusammengestellt aus vielen Blättern, die ich hier kopiert habe, in der Hoffnung, sie dann geordnet an ihre Stellen zu bringen, entsprechend den Themen, die sie behandeln werden. Und ich glaube, daß ich, wenn ich weiter zum Ende gekommen bin, dieselbe Sache mehrmals werde wiederholen müssen. Daher, o Leser, tadle mich nicht, weil die Gegenstände viele sind und das Gedächtnis sie nicht behalten und sagen kann: ,Das will ich nicht schreiben, weil ich es vorher gesagt habe.“
Zeitgenossen schreiben, dass sich Leonardos Geist nie beruhigt habe. Leonardo war sich dessen bewusst und schrieb seinen Kollegen und vermutlich auch sich selbst Bernd Roeck zufolge folgendes ins Stammbuch:
Unter Leonardos Ratschlägen für Maler findet sich die Empfehlung, die Einsamkeit zu suchen, sich dem Geplapper der Gefährten zu entziehen – und zwar vor allem dann, wenn er mit „tiefem Nachsinnen und Betrachtungen“ beschäftigt sei, die ihm „ständig vor Augen erscheinen“ und dem Gedächtnis Stoff gäben. „Wenn du allein sein wirst, wirst du ganz dein sein.“
Zugleich macht Leonardo aus den „aufbrandenden Ideenfluten“, wie sie Bernd Roeck nennt, das Bestmögliche. Er macht das Chaos, die Ungenauigkeit zum Ausgangspunkt für bessere Werke. Er zeichnet selbst zum Beispiel ein aufbäumendes Pferd mit acht oder zehn Beinen und verteidigt dieses Vorgehen mit Verve. Bernd Roeck zitiert Leoanrdo so:
„O du, Erfinder deiner Historie, zeichne die Gliedmaßen deiner Figuren nicht mit abgegrenzten Linien, wie es vielen verschiedenen Malern zu unterlaufen pflegt, die wollen, dass jeder kleinste Kohlestrich gültig sei.“ Auch Dichter würden schließlich bedenkenlos Verse tilgen, um sie durch bessere zu ersetzen. „Daher, Maler, entwerfe die Glieder deiner Figuren nur grob, und achte eher zuerst auf die Bewegungen, die den Gefühlen der Gestalten in deiner Erzählung angemessen sind, als auf die Schönheit und Qualität ihrer Glieder. Denn du mußt verstehen, daß eine solche ‚ungepflegte‘ Komposition, wenn sie der Absicht der Figuren gemäß ist, dich um so mehr befriedigen wird, weil sie dann von der allen ihren Teilen angemessenen Vollkommenheit geschmückt sein wird.“ Aus dem Chaos sollte die vollkommene Form hervorgehen.