Die Schriftstellerin Simone Buchholz über Interdisziplinarität: Echte Weiterentwicklung findet nur im Austausch mit anderen statt 

Für ihren Krimi „Mexikoring“ wurde die Hamburger Autorin Simone Buchholz kürzlich mit dem Deutschen Krimipreis 2019 ausgezeichnet. Ein Gespräch über das Strukturieren von Romanen, Recherchieren bis der Schwamm tropft und den Beat, der einen guten Text ausmacht. Außerdem geht es um eine besondere Woche in Mecklenburg-Vorpommern. Fotos: Gerald von Foris

Frau Buchholz, Sie haben eben im Vorgespräch erwähnt, dass Sie gestern mit dem britischen Krimi-Autor John Niven in München auf Kneipentour waren und überhaupt viel mit Kollegen unternehmen. Mit Friedrich Ani zum Beispiel besuchten Sie ein Bob Dylan-Konzert. Ist dieser freundschaftliche Umgang eher die Ausnahme oder eher üblich?
Das ist unter Krimiautoren eher üblich. Wir haben alle vorher was anderes gemacht, waren Journalisten oder Drehbuchautoren. Viele sind es noch gewohnt, im Team mit Fotografen oder Regisseuren zu arbeiten. Und es macht ja auch Spaß, ab und an gemeinsam unterwegs zu sein, außerdem entstehen wie in jeder Branche über die Jahre Freundschaften. Gerade reise ich häufig zu Krimifestivals nach England und Schottland. Dort kennen sich die Kollegen untereinander sehr gut, eben weil es diese Festivals gibt. 

Wie laufen die ab?
Du reist Donnerstag an und bleibst bis Sonntag. Alle Autoren wohnen im selben Hotel und besetzen oder besuchen Podien, Panels und Lesungen. Nach drei gemeinsamen Abenden in der  Bar hast du zwanzig neue Freunde gefunden. Das ist schön. 

Sind Sie viel auf Lesereise?
Ja. Das ist wie Touren ohne Band: Ich bin immer alleine und freue mich wahnsinnig, wenn ich, so wie gestern, jemanden treffen kann.

Mexikoring ist Ihr achtes Buch. War Ihnen immer bewusst, dass Lesungen in Ihrer Arbeit eine wichtige Rolle spielen werden?
Das war mir zu Beginn überhaupt nicht klar. Als das erste Buch erschien, erschien auch mein Kind auf der Bildfläche. In den ersten Jahren bin ich deshalb kaum gereist. Erst vor drei Jahren, als mein Sohn acht wurde, nahm ich vermehrt Anfragen für Lesungen an. 

Ich erinnere mich an ein Interview mit Peter Stamm vor acht Jahren …
… der bestaussehendste deutschsprachige Schriftsteller!

Ist das so?
Ja. Finden aber viele.

Stamm sagte mir damals, dass er bis zu 90 Lesungen im Jahr absolviere.
Ich war in den letzten beiden Jahren jeweils knapp 150 Tage im Jahr unterwegs.

Wie bitte?
Das ist viel, oder?

Würde ich behaupten.
Im Jahr 2018 war ich mit zwei Büchern in Deutschland auf Tour, und zusätzlich noch in Großbritannien, Italien und Frankreich, da kommt dann schon was zusammen. 2019 werden es vermutlich um die 100 Reisetage werden. Es hat sich ein Zyklus eingestellt: Im Herbst erscheint mein Buch in Deutschland, im Frühjahr dann in England. Deshalb bin ich vor allem im Frühjahr und im Herbst Woche für Woche von Mittwoch oder Donnerstag bis Sonntag unterwegs. Für meine Familie ist das in der Zeit natürlich scheiße. 

Reisen Sie gern?
Ja, sehr, aber es ist auch anstrengend. Die erste Nacht in einem neuen Hotel schläft man halt nicht gut. 

Sie verbringen auf Lesereise nur erste Nächte in Ihren Unterkünften. Wie kommen Sie klar?
Erstens habe ich meine Laufklamotten dabei und sehe zu, dass ich morgens rauskomme und laufen gehe; so überstehe ich den Tag frischer. Zweitens steht in meinen Verträgen: Wenn sich ein Motel One in der Stadt befindet, möchte die Autorin im Motel One schlafen. Das Schöne an diesen Hotels ist, dass die Zimmer immer gleich und die Betten super sind. Wenn ich nachts dort aufwache, weiß ich vielleicht nicht, in welcher Stadt ich bin, aber ich weiß, wo das Klo ist. Drittens habe ich, wie viele, die ständig auf Reisen sind, für den Notfall eine Schlaftablette im Gepäck. 

Wann gehen Sie auf Reisen für gewöhnlich ins Bett?
Wenn ich um 22 Uhr von der Bühne komme, gehe ich vielleicht noch mit dem Veranstalter was Essen und bin erst gegen Mitternacht im Hotelzimmer. Bis dahin habe ich die ganze Zeit geredet – und brauche noch mal zwei Stunden, um runterzukommen und einzuschlafen. 

Wie erleben Sie dann den folgenden Tag?
Wenn es geht, schlafe ich lang und verlasse dann gleich die Stadt. Ich will rechtzeitig am nächsten Ort einchecken, um noch arbeiten zu können – schließlich muss ich jedes Jahr einen Roman abliefern und kann nicht nicht arbeiten, während ich auf Reisen bin. Wenn ich ein Buch pro Jahr schreibe und viele Lesungen mache, kann ich von meiner Arbeit leben, ohne dass ich zusätzlich arbeiten muss. 

Ich häute mich relativ oft, weil mir schnell langweilig wird. Nach 15 Jahren schreiben für Magazine wurde ich der Sprache überdrüssig.

Ist es in der Literatur wie in der Musik, und Live-Events werden wichtiger?
Die Zahl der Lesungen hat wahnsinnig zugenommen. Ich mag das. Ich habe ein kleines Programm, lese vor und erzähle viel; ich variiere die Passagen, um mich nicht zu langweilen. Die Stimmung während solcher Lesungen hat sich sowieso verändert, die Zeit der Wasserglaslesungen ist vorbei. Die Leute haben Wein und Bier bei der Hand und ich bestehe darauf, auf der Bühne zu trinken.

Ihre ersten fünf Bücher erschienen bei Droemer Knaur, dann wechselten Sie zu Suhrkamp. War das ein Einschnitt?
Es entstand zum ersten Mal das Gefühl: Jetzt bin ich Schriftstellerin und nicht mehr ehemalige Journalistin, die auch Krimis schreibt. Suhrkamp geht anders mit Autoren um, der Verlag schränkt dich in keiner Weise ein. Zu meinem Lektor habe ich ein enges, vertrauensvolles Verhältnis. Er stellt sehr unangenehme Fragen, aber immer die richtigen. Und er gibt mir das Gefühl, meinem Können zu vertrauen, das gibt mir viel Sicherheit. Ich hatte nach dem Wechsel aber auch das Gefühl, mich strecken und etwas draufsetzen zu wollen.

Was meinen Sie mit strecken und draufsetzen?
Ich wollte beunruhigendere Geschichten erzählen, riskanter schreiben; nicht mehr versuchen, Erwartungen zu erfüllen.

Sie haben früher viel für Frauenmagazine geschrieben, haben als Kolumnistin und freie Journalistin gearbeitet. An welchem Punkt wurden Sie zur Kriminalschriftstellerin?
Ich häute mich relativ oft, weil mir schnell langweilig wird. Nach 15 Jahren schreiben für Magazine wurde ich der Sprache überdrüssig. Nach und nach verschwanden auch immer mehr Publikationen, die ich mochte; Leute verloren ihre Jobs, Honorare wurden gedrückt und ich legte mich mit den Verantwortlichen an. In jener Zeit schrieb ich eine Kurzgeschichte, die im Hamburger Jahrbuch für Literatur erschien. Ein Literaturagent meldete sich und sagte: ,Da können Sie einen Roman draus machen. Wenn Sie das schaffen, verkaufe ich den Roman an einen Verlag und bin Ihr Agent, okay?’ Er ließ nicht locker, bis das Ding fertig war. Er ist noch heute mein Agent.

Vor unserem Treffen habe ich einen Podcast mit dem amerikanischen Autor Brad Meltzer gehört. Er schreibt Thriller und behauptet, er würde kein bisschen plotten, für seine Romane also keine Handlungsstränge und Wendepunkte vorzeichnen. Wie gehen Sie beim Schreiben Ihrer Bücher vor?
Du musst mit irgendeiner Struktur arbeiten, sonst kommst du nicht durch. Auch Liebesromane folgen einer Struktur, um den Leser zu halten. Ich selbst habe nie so richtig geplottet. Aber ich denke in Akten – erster Akt, zweiter Akt, dritter Akt. Kriminalromane entstehen für gewöhnlich in fünf Akten, Thriller werden in acht Akten erzählt. Ich schreibe in drei Akten. Meine Bücher sind eigentlich Western, die entwickeln sich nämlich auch in drei Akten und wirken dadurch langsamer als andere Geschichten. 

Das fällt mir rückblickend bei Ihrem aktuellen Buch Mexikoring auf: Es dauert ungewöhnlich lange, bis die Ermittlung beginnt. Wie nähern Sie sich diesen drei Akten?
Erst mal beschäftige ich mich mit Gewalt, denn es ist die Gewalt, die meinem Genre seine Struktur gibt. Ich muss also wissen: Wer tut wem warum Gewalt an? Warum? Und vor welchem Hintergrund? Da geht es dann schon langsam Richtung Schauplätze, die ich auch immer sehr wichtig finde. Dann frage ich mich, was am Ende des ersten Akts passieren muss, damit wir schön in den zweiten Akt grätschen können. Der zweite Akt darf nicht so lang sein, sonst wird es langweilig. Im dritten Akt kommt der Showdown. Das ist die ganze Struktur, die ich habe. 

Wie entscheiden Sie über die Rahmenhandlung eines Romans?
Im Lauf der Jahre habe ich mein übergeordnetes Thema gefunden: Was machen Systeme mit Menschen? Je geschlossener Systeme sind, desto gefährlicher werden sie für unsere Freiheit und Selbstbestimmtheit und das, was ich unter Menschlichkeit verstehe. Jede Form der organisierten Kriminalität ist ein geschlossenes System. Kapitalismus ist auch ein geschlossenes System: Da kommst du nicht raus, wenn du einmal in das Hamsterrad gestiegen bist, um die Raten für dein Haus zu zahlen. Das Thema interessiert mich und mit jedem Buch schärft es sich mehr. 

Schriftstellerin und Krimiautorin Simone Buchholz in Hamburg.
Schriftstellerin Simone Buchholz, fotografiert von Gerald von Foris.

In Mexikoring schreiben Sie über die Mhallamiye, einen Clan, der aus der Türkei und dem Libanon stammt und der im Norden und Westen Deutschlands Fuß gefasst hat. Konflikte werden in diesen Familien mit schierer Gewalt gelöst, Frauen werden brutal verheiratet. Wie entwickeln Sie eine solche Geschichte?
Grundsätzlich gilt: Ich muss mehr über diese Welt wissen als ich schreibe. Ich muss vor allem wissen, wie sich die Cops und die Ermittler verhalten, wenn denen in ihrer Arbeit etwas passiert. Während der drei Monate, in denen ich „Mexikoring“ entwickelte, sprach ich viel mit den zuständigen Leuten bei den Landeskriminalämtern in Bremen und Hannover. Aus diesen Gesprächen und Beobachtungen, die sich manchmal über Tage ziehen, fülle ich im ersten Schritt ein Skizzenbuch. Ich notiere, was ich erfahre und fertige Zeichnungen an. Dieses Wissen übertrage ich in ein Recherchedokument auf meinem Computer und in meine Akt-Struktur, die ich auf ein großes weißes Blatt neben meinem Bücherregal zeichne. 

Was finde ich in Ihrem Recherchedokument?
Unter anderem sehr praktische Infos: Wie viel Plastiksprengstoff brauche ich, um Panzerglas aufzusprengen?

Wie knüpfen Sie den Kontakt zu den Landeskriminalämtern?
Ich bitte die Pressestellen um den Kontakt zu Ermittlern. Die sind dann am Anfang manchmal ein bisschen stockig, öffnen sich aber schnell, weil ich ihnen klar mache, dass ich nichts will, was sie mir nicht geben wollen. Ich brauche keine Angaben zu laufenden Ermittlungen, ich will keine Zitate. Ich suche nur Wissen und Gefühl. Wie geht jemand, der sich seit zwanzig Jahren mit Familienclans beschäftigt, damit um, wenn 14-jährige Mädchen in diesen Clans vergewaltigt, entführt und verheiratet werden? Wie es das, wenn ein Mädchen, das versucht hat, da rauszukommen, in seinem Büro vor ihm sitzt, brutal von den Brüdern misshandelt? Solche Erfahrungen machen ja was mit den Ermittlern. Darüber will ich so viel als möglich erfahren.

Schicken Sie Ihren Gesprächspartnern das fertige Buch?
Ja, die kommen auch oft zu Lesungen oder Buchpremieren. Manche wollen allerdings kein Dankeschön, weil ihre Namen nirgends fallen oder vorkommen sollen. 

Wenn jemand nach einem Schema arbeitet, habe ich das nach 30 Seiten geschnallt. Ich bin dann furchtbar gelangweilt und auch richtig genervt, weil ich das Gefühl habe, der Autor manipuliert mich.

Wie wird aus all Ihren Gesprächen das Buch?
Ich habe eine Ermittlerin, meine Hauptfigur, die aus der Ich-Perspektive erzählt und das Wissen nutzt, das ich in meiner Recherche gesammelt habe. Mit ihr beginne ich den Roman, dann kommen nach und nach die Stimmen der anderen Figuren hinzu. Die Geschichte entsteht bei mir durch diese verschiedenen Perspektiven. Das ist kein bewusster Prozess. 

Wirklich?
Vielleicht macht dieser Prozess das Schriftstellersein aus. Ich kann ihn nicht benennen.

Was ich aber sehe: Sie arbeiten immer wieder mit kurzen Kapiteln.
Die entstehen intuitiv. Ich weiß einfach, wenn jemand alles gesagt hat. Dann kommen Absatz, Seitenumbruch, neues Kapitel. Ich folge einem inneren Rhythmus, der sich aufs Papier ergießt. 

Woher wissen Sie, dass die Spannung der Geschichte hält?
Das ist Intuition. Ich habe aber auch Kollegen, die gehen nach Lehrbuch vor und lieben das. Einer wäscht mir mit jedem Buch den Kopf: Du kannst schreiben, aber du verkaufst viel zu wenig! Würdest du konzeptioneller schreiben, einen Spannungsbogen ziehen, jede Menge Plot-Points setzen – du könntest 100.000 verkaufen!

Und?
Dann sage ich immer: Wenn jemand nach einem Schema arbeitet, habe ich das nach 30 Seiten geschnallt. Ich bin dann furchtbar gelangweilt und auch richtig genervt, weil ich das Gefühl habe, der Autor manipuliert mich. Ich weiß, was er von mir will, wie ich reagieren soll. Das finde ich frech, weil dann mein Lesevergnügen weg ist. Beim Schreiben nach Schema würde es mir ganz genauso gehen: Mein Vergnügen am Erzählen würde verschwinden. Darauf habe ich keinen Bock. Solche Muster wirken, wenn man sie einmal erkannt hat, beruhigend. Ich will aber nichts Beruhigendes schreiben, ich will beunruhigen. Ich will irritieren. 

Echte Weiterentwicklung findet nur im Austausch mit anderen statt – egal ob sie Musik, Theater oder Fernsehen machen.

Pflegen Sie viel fachlichen Austausch mit Kollegen?
Meine Kollegin Karen Köhler und ich wohnen im selben Haus. Wir treffen uns oft spontan zu Kaffee und Zigarette auf dem Balkon und besprechen alles, was ansteht. Und dann habe ich noch so eine Gruppe, mit der ich einmal im Jahr in eine Schreibwerkstatt nach Mecklenburg-Vorpommern fahre. Wir mieten uns zu zehnt oder zwölft ein Gutshaus und geben uns gegenseitig Workshops zu Themen wie Dialogschreiben, Erzählstruktur oder so Psychoscheiße: Wie gehe ich mit Scheitern um? Wie gehe ich mit Ängsten um? Wie schreibe ich ein Theaterstück, ein Hörspiel, ein Drehbuch?

Wer ist auf dem Gutshof dabei?
Ganz unterschiedliche Leute, das ist fast eine interdisziplinäre Gruppe – vom klassischen Schriftsteller über Hörspiel- oder Filmfachleute, bis zu jemandem, der für die Sesamstraße schreibt. Im letzten Jahr hatten wir sogar einen Musiker dabei, Frank Spilker, der Frontmann von den Sternen. 

Wie genau verläuft die Woche?
Bei der ersten Auflage haben wir am ersten Abend gekocht und uns danach hingesetzt und Post Its an die Wand geklebt, auf die wir geschrieben haben, worüber wir gerne reden würden. Am nächsten Morgen begannen wir um 11 Uhr mit „Schreiben über Sex“, nachmittags folgte der Workshop „Erzählstruktur“. Und so ging das dann Tag für Tag weiter.

Klingt sehr spannend.
Es gibt Leute, für die das die Hölle ist, so eng aufeinanderzusitzen. Ich finde vor allem dieses Interdisziplinäre toll, weil ich irre viel lerne. Echte Weiterentwicklung findet nur im Austausch mit anderen statt – egal ob sie Musik, Theater oder Fernsehen machen. Meine Arbeit kommt mir nach so einer Woche viel leichter vor.

Sie haben eben vom Dialogschreiben gesprochen. Ihre sind sehr markant, verdichtet, beinahe schon Markenzeichen.
Ist es so? 

Ich finde schon. Die haben eine Art Hamburger Knappheit.
Na ja, weil der Wind da so weht, darf man den Mund nicht so lang offenlassen. 

Auch eine Erklärung.
Zwei Prinzipien formen meine Texte. Das erste: Show, don’t tell. Zeigen, nicht erzählen. Ich nutze das Wetter, die Klamotten, die Getränke, das Essen, die Orte, um die innere Verfassung von Menschen zu zeigen. Wenn ich dann noch, zweites Prinzip, gute Dialoge habe, muss ich fast gar nichts mehr erklären. Dann entsteht so viel im Kopf des Lesers. Bei jeder Überarbeitung verdichte ich die Dialoge weiter, sodass sie schneller werden und man langsamer lesen muss. Ich lese sie mir immer wieder laut vor und prüfe, wie sie wirken. 

Wie genau verändert sich durch das Lautlesen der Text?
Die Sätze rücken näher an die Wirklichkeit. Du spürst den Beat und hörst, ob jemand so reden würde. Ich höre bewusst viel zu, an der Supermarktkasse, wie Leute so reden, über ihre Schnapspralinen zum Beispiel. 

Das Schreiben des ersten Entwurfs fühlt sich an wie Legosteine kotzen. Das ist eckig und hart auf dem Papier, das kann gar nicht rund raus.

Was suchen Sie beim Zuhören?
Vorlagen für gute Sätze. Es gibt diesen schönen Satz: Der FC St. Pauli ist schuld, dass ich so bin. Mit dem Satz geht eine ganze Geschichte auf – da ist ein Fußballspiel, bei dem die Leute die Nerven verlieren. Da ist ein Ort, an dem Menschen gerne leben; eine Zerbrochenheit, ein Humor. Solche Sätze sind wichtig, solche Sätze will ich aus den Versatzstücken, die ich im Alltag höre, rausarbeiten.

Das eigentliche Schreiben beginnt im Überarbeiten, oder?
Ja, im zweiten Entwurf. Das Schreiben des ersten Entwurfs fühlt sich an wie Legosteine kotzen. Das ist eckig und hart auf dem Papier, das kann gar nicht rund raus. 

Ist das ein gutes Gefühl?
Klar, auch wenn es kantig ist: Ich spüre im ersten Entwurf, ob eine Szene funktioniert. Dieses Gefühl entsteht beim Überarbeiten nicht mehr. Auch die aufregenden Momente, in denen ich erkenne, wen ich überleben oder wen ich sterben lasse, oder dass tatsächlich gerade wieder ein Buch daraus wird, erlebe ich nur in der ersten Fassung. 

Was haben Sie im ersten Buch gemacht, das Ihnen heute wie ein Anfängerfehler erscheint?
Über Serienmörder geschrieben. Interessiert keine Sau. Diese Film-Serienmörder, die Frauen umbringen, machen vielleicht ein Prozent aller Gewalt auf der Welt aus. Gewalt wird für gewöhnlich nicht geplant, sie eskaliert und findet in der Regel zwischen Männern statt. 

Wie haben Sie im Schreiben so etwas wie Sicherheit gewonnen?
Die Art, wie mein Verlag hinter mir steht, gibt mir viel Sicherheit. Ich muss nur spielen, alle anderen stehen verlässlich wie ein Fußballtrainer mit seinem Team an der Seitenlinie. Das verschafft einer Autorin große Stärke. Eine große Wertschätzung für meine Arbeit ist aber auch das Feuilleton. Von dem Moment an, in dem ich es ins Feuilleton im Deutschlandfunk, in der Süddeutschen Zeitung oder der FAZ geschafft hatte, kam zum ersten Mal so was wie ein schriftstellerisches Selbstwertgefühl. Das deutsche Feuilleton nimmt ja immer noch eine Schwellenhüterfunktion wahr, trennt gut von schlecht. Und wenn Kolja Mensing im Deutschlandfunk sagt, dass ihn lange kein Kriminalroman mehr existenziell so angefasst hat, gibt mir das sehr viel. 

Amazon-Rezensionen?
Schau ich mir nicht an. Was ich wichtig finde, ist der direkte Kontakt mit den Lesern auf Lesungen.

Formen die Lesungen das Schreiben?
Nein, das sind zwei verschiedene Dinge. Ich habe Strichversionen für meine Lesungen, bei denen ich Passagen ausspare, weil sie sich schlecht vorlesen lassen. Trotzdem sind sie im geschriebenen Manuskript wichtig. Was mein Schreiben aber verändert, ist die Übersetzung ins Englische.

Inwiefern?
Meine englische Übersetzerin Rachel Ward ist auf eine wunderbare Art nervig. Sie fragt so viel nach, nach der Bedeutung von Begriffen etwa, und zeigt mir damit, wo ich ungenau war. 

Zum Beispiel?
Ich bilde gerne zusammengezogene Worte, wie etwa „Rinnsteinbiergarten“. Da steht in der ersten Version noch „Kantsteinbiergarten“. Dann fragt Rachel: Meinst du den Kantstein und sie sitzen vom Bild her oben? Oder sitzen sie im Rinnstein, unten, wo es dreckig ist? Es nervt im ersten Moment natürlich tierisch, wenn sie so was fragt. Aber sie hat recht: So wie die Menschen in dieser Szene aussehen und wie sie drauf sind, sitzen sie im Rinnsteinbiergarten. Inzwischen denke ich beim Schreiben immer: Würde Rachel das verstehen? Das hilft mir total, sprachlich präzise zu sein.

Recherche ist alles. Lerne die Welt kennen, in die du deine Figuren stellst. Dein Schwamm muss so voll sein mit Wissen, dass es nur so raustropft.

Was haben Sie in den vergangenen Jahren über das gelingende Schreiben gelernt?
Nicht gefallen wollen. Nicht auf eine Zielgruppe schielen, sondern die eigene Geschichte erzählen. Der Empfänger bleibt dir eh verschlossen. Und mit Hirn, Herz und Bauch schreiben. Das Hirn darf ein bisschen vernebelt sein beim Schreiben, aber jeder Satz muss im Herzen geprüft werden, ob er politisch auf der richtigen Seite steht. Und es muss im Bauch was passieren. Jeder Satz muss in der Lage sein, einen Menschen anzufassen, mindestens jede Szene. 

Für wen schreiben Sie?
Ich schreibe für meinen Lektor. 

Ja?
Ich spiele nur für den Trainer. Wenn er einen Text gut findet, dann ist er gut. Und, noch eine Lehre: Recherche ist alles. Lerne die Welt kennen, in die du deine Figuren stellst. Dein Schwamm muss so voll sein mit Wissen, dass es nur so raustropft. 

Mir geht Frank Spilker nicht aus dem Kopf. Songschreiber müssen maximal verdichten, damit in wenigen Versen Gefühls- und Bildwelten entstehen. Von ihnen lässt sich viel übers Schreiben lernen, oder?
Absolut! Frank und ich saßen in dieser Workshopwoche unterm Baum im Garten und sprachen über Lyrics. Ich fragte: Wie fängst du beim Schreiben an? Er sagte: Naja, ich fange mit dem Beat an. (Schnippt) Und du? – Ich fange auch mit dem Beat an. Und das stimmt: Ich sitze oft wie hospitalisierend am Schreibtisch, wippe mit dem Oberkörper in einem bestimmten Rhythmus, vor und zurück, vor und zurück. Ich tippe meine Texte sogar im Beat in die Tastatur – was supernervig ist, wenn man mit mir in einem Zimmer sitzt. Es war Wahnsinn, sich mit Frank darüber auszutauschen, wie ein Text entsteht. Wir waren uns einig: Erst mal müssen wir die Syntax bouncen lassen. Erst mal den Beat fühlen und auf den Text warten – komm her, komm ruhig her … Ich kann diesen Prozess nur schwer beschreiben. Ich fand es sehr inspirierend. Es ist schon unglaublich wichtig, anderen Künstlern zuzuhören, wenn man sich in einem kreativen Job weiterentwickeln will.

Ich mag die Idee von Rhythmus als Grundlage von gutem Schreiben.
Vielleicht ist es sogar mehr als Rhythmus, vielleicht ist es Musik. Mein Kollege Jan Costin Wagner fragte mich mal: Du kommst vom Beat, oder? Ich antwortete: Ja, schon. Aber du, du kommst doch auch von der Musik, oder? Du kommst nur von der Melodie. Da sagte er: Stimmt, ich schreibe Melodie. Und du schreibst Beat. 

Fotos: Gerald von Foris