Die Wissenschaftsjournalistin Christina Berndt über Persönlichkeitsbildung: Hören Sie auf sich zu suchen, erfinden Sie sich selbst

Ihr Buch »Resilienz« stand jahrelang wie ein Fels in der Bestsellerliste, es folgten »Zufriedenheit« und »Individuation«: Ein Gespräch mit der Biochemikerin und SZ-Redakteurin Christina Berndt – über ihre Recherchen zum Corona-Virus in der »Süddeutschen Zeitung« und Lehren aus ihren psychologischen Sachbüchern, die jetzt besonders nützlich sind.

Frau Berndt, hat sich Ihre Arbeit in den vergangenen Monaten verändert?
Aber ja, ich warte ja seit 20 Jahren auf eine Pandemie, im Grunde seit ich Wissenschaftsjournalistin wurde. 

Wie meinen Sie das?
Viren-Experten erwarten alle 30 bis 40 Jahre eine sogenannte Supergrippe. Die letzte große Grippe-Pandemie brach mit der Hongkong-Grippe 1968 aus, entsprechend war bereits seit dem Jahr 2000 eine neue Welle fällig. Nun ist sie allerdings in Form eines Corona-Virus zu uns gekommen. 

Hat Sie das Ausmaß dieser Pandemie überrascht?
Anfangs gehörte ich auch zu denen, die dachten »Sind die Warnungen euer Ernst? Die Zahl der Toten ist doch überschaubar!« Ich hatte eine steile Lernkurve. 

Unterscheidet sich Ihre aktuelle Arbeit von jener in Nicht-Corona-Zeiten?
Ja, wir berichten selten über Dinge, die so wichtig sind und über die zugleich so wenig bekannt ist wie über Covid-19. Selbst unter Fachleuten haben von diesem neuen Corona-Virus nur wenige Ahnung. Vergangene Woche telefonierte ich für eine Grundlagengeschichte über Viren in der »Süddeutschen Zeitung« mit Experten, da wurde noch einmal deutlich: Kaum jemand kennt sich mit diesem Biest so richtig aus. Wir können von Glück reden, dass wir mit Christian Drosten einen weltweit führen Experten für Coronaviren in Deutschland haben. Doch auch ihm sind viele Details nicht bekannt: Wie gehen Kinder mit dem Virus um? Gibt es eine anhaltende Immunität? Gibt es einen saisonalen Effekt, sodass sich die Pandemie im Sommer abschwächen wird?

Die Krise bedeutet offenbar nicht nur für die Politik, sondern auch für die Wissenschaft und den Wissenschaftsjournalismus ein ständiges Abwägen zwischen Wissen und Nichtwissen.
Das stimmt. Wir müssen mehr Ungefähres berichten und uns immer wieder auch korrigieren. In vier Wochen werden wir sicherlich über manches anders schreiben. Deshalb müssen wir immer wieder darauf hinweisen, dass wir den Stand der Dinge referieren – das, was wir heute wissen – und dass vieles eben noch längst nicht bewiesen ist.

Erhalten Sie derzeit mehr Feedback von Leserinnen und Lesern?
Es ist Wahnsinn, wie viele Reaktionen uns erreichen. Viele Menschen sind aufgebracht und böse, weil sie nicht hören wollen, dass die Lage so gefährlich ist. Viele haben schlicht Angst.

Verspüren Sie ein Interesse, mit Ihrer Arbeit Ruhe oder Sicherheit zu vermitteln?
Ich habe vor allem ein Interesse daran, Wissen und Neuigkeiten zu vermitteln. Ich will möglichst viel über diese Krankheit herausfinden und dieses Wissen weitererzählen – zunächst unabhängig von seiner Wirkung. Das heißt aber nicht, dass ich die Angst in den Leserreaktionen nicht aufnehme. Denn auch wenn ich persönlich keine Angst habe: Es ist wichtig, positive Entwicklungen zu betonen und zum Beispiel zu beschreiben, wie sich in dieser Krise Resilienz gewinnen lässt – psychische Widerstandskraft. 

»Wir hinterfragen unsere Verletzlichkeit und überlegen, ob und wie wir uns ändern können.«

In einem Text in der SZ geben Sie fünf Tipps für die Stärkung der Resilienz während der Kontaktsperre: Es hilft Menschen, wenn sie so gut es geht ihre sozialen Bindungen leben, wenn sie großzügig sind und helfen; weiterhin ist es gut, wenn man sich in Dankbarkeit übt, Routinen in den Alltag einbringt und lernt, das Positive im Leben wahrzunehmen.
Richtig. Es gibt natürlich noch weitere Faktoren, die einen Menschen resilient machen, aber diese fünf sind sehr wesentlich.

Was war für Sie der Anlass, Ihr Sachbuch »Resilienz« zu schreiben?
Meine beste Freundin ist Pädagogikprofessorin in Berlin. Ich fragte sie eines Tages nach einem Rat für die Kindererziehung, weil ich Sorge hatte, dass mein Kind nach einem schlimmen Ereignis Schaden genommen haben könnte. Sie sprach damals von »Resilienz« und ich fand das Thema sofort unglaublich spannend. So begann die Recherche für einen Text in der »Süddeutschen«, aus dem dann das Buch wurde. 

Es erschien 2013 und der Erfolg war groß. Welches gesellschaftliche Bedürfnis stillten Sie?
Viele Menschen sind heute gestresst oder an der Seele krank und brauchen Resilienz. Weil wir uns heute mehr als früher mit psychischer Gesundheit beschäftigen, sehnen wir uns in Krisen nach Unterstützung. Wir hinterfragen unsere Verletzlichkeit und überlegen, ob und wie wir uns ändern können.

Erinnern Sie sich, wie »Resilienz« erfolgreich wurde?
Der Buchhandel war am Anfang gar nicht so wahnsinnig stark interessiert – die erste Auflage betrug 5000 Exemplare und die Vorbestellungen hielten sich in Grenzen. Dann erschien eine Besprechung auf Zeit Online, die auf das Buch aufmerksam machte. Von da an entschieden die Leser über das Schicksal des Buches, indem sie es Freunden und Bekannten weiterempfohlen haben. 

Wie viele Exemplare haben sich bis heute verkauft?
»Resilienz« blieb als sogenanntes Paperback zwei Jahre auf der Bestsellerliste und wurde dann als Taschenbuch zum meistverkauften Taschenbuch des Jahres. Zusammengerechnet haben wir etwa 250.000 Exemplare verkauft, und das Buch läuft immer noch weiter.

Änderte diese Resonanz Ihren Blick auf das Buch?
Tatsächlich stehe ich heute anders dazu als kurz nach Abgabe des Manuskripts. Ich habe viele Vorträge zum Buch gehalten und sehe, wie viel den Menschen der Ratgeberteil bedeutet.

Die Leserinnen und Leser suchen nicht nur Aufklärung, sondern auch ausdrückliche Anleitung?
Ja, aber zum Glück erforschen Psychologen nicht nur, was Resilienz ist, sondern auch, wie man sie erlernen kann. Da kann man also sehr fundierte Ratschläge geben. Früher dachten wir, Resilienz sei eine Eigenschaft, die Menschen mitbekämen. Heute ist klar, dass Resilienz eine Strategie ist, die jeder lernen kann. Die Wissenschaft beschäftigt sich bewusst mit der Frage, wie sich schützende Faktoren aufbauen lassen – ein ganzer Zweig der positiven Psychologie will Menschen anleiten und ihnen zu einem besseren Leben verhelfen. 

Die Wissenschaftsjournalistin Christina Berndt von der Süddeutschen Zeitung
Die Wissenschaftsjournalistin Christina Berndt, fotografiert von Gerald von Foris

Zu Beginn dieses Jahres waren Sie noch auf Lesereise mit Ihrem neuen Buch »Individuation«. Haben die Besucher der Veranstaltungen dabei bereits Ihre Sicht auf den Text verändert?
Das kann man so sehen. Besonders an einer Stelle kamen irritierte Nachfragen: Im Buch schreibe ich, dass den Erlebnissen der frühen Kindheit nicht mehr so viel Bedeutung zugemessen wird, wie Sigmund Freud das einst tat. Der Begründer der Psychoanalyse beschrieb, dass die ersten Lebensjahre das Schicksal eines Menschen bestimmen würden. 

Stimmt das denn nicht?
Die ersten Lebensjahre sind auf jeden Fall prägend. Aber sie sind nicht alles. Die moderne Persönlichkeitspsychologie weiß, dass sich Menschen ständig wandeln, durch Feedback und Erlebnisse. Was einem Menschen in der jüngeren Vergangenheit widerfahren ist, hat ebenso viel Bedeutung wie die lange zurückliegenden Ereignisse. Wenn ich diese eher neue Einschätzung allerdings mal so eben nebenbei in einem Vortrag abhandele, überzeugt das die Zuhörer nicht sofort, weil ihr erlerntes Wissen so tief sitzt. 

Verstehe.
Viele klammern sich auch an das Narrativ von der Prägung, die wir in der frühen Kindheit erfahren – weil sie vielleicht Scheidungskinder sind und die Schuld an bestimmten Problemen mit ihrem Vater oder ihrer Mutter verbinden. Aber auch wenn wir gewiss durch Erlebnisse in der Kindheit geprägt werden, so müssen diese uns nicht für den Rest unseres Lebens in unserem Handeln steuern. Dieses Thema, das wurde mir in den ersten Lesungen und Vorträgen bewusst, braucht mehr Zeit. Darüber kann man einen ganzen eigenen Vortrag halten. 

»Studien zeigen sogar, dass wir uns am authentischsten finden, wenn wir uns am meisten anpassen. Nämlich dann, wenn wir uns freundlich, extrovertiert, gewissenhaft und interessiert geben«

Sind Ihre Bücher ein vortherapeutisches Werkzeug?
Auf jeden Fall, sie dienen zwar zuallererst der Wissensvermittlung und dem Erkenntnisgewinn. Aber vielen Lesern sind sie auch ein wichtiger Part der Selbsthilfe. Leser signalisieren mir, dass sie mit den Büchern auf Ideen kommen, wie sie besser mit ihren Problemen oder Reaktionen umgehen können und selbst in echten Krisen Hilfe finden. Bei der Vorstellung von »Individuation« in Stuttgart erzählte mir eine Frau, wie sehr sie in ihrer Arbeit gemobbt worden sei und dass ihr »Resilienz« in dieser schwierigen Situation geholfen habe. 

In »Resilienz« schreiben Sie unter anderem, dass ein intakter Freundeskreis und die Kunst der Dankbarkeit einem Menschen psychische Widerstandskraft verleihen. Wie leben Sie selbst mit diesem Wissen?
Es ist mir sehr bewusst. Die Zahl der Freunde zum Beispiel wird mit zunehmendem Alter kleiner, das ist auch in meinem Leben so. Man vernachlässigt Kontakte, weil man mit Beruf und Familie viel zu tun hat. Ich habe mich deshalb wieder vermehrt auf meine Freunde besonnen und sehe zu, dass ich sie häufiger treffe oder spreche.

Aus »Individuation« nehme ich mit, dass ich viel weniger authentisch bin, als ich es mir einbilde. Sie beschreiben ein spannendes Phänomen: Bis zum Alter von 30, 40 Jahren passen wir uns Vorbildern an. Danach folgt eine Zeit, in der wir die Anpassung aufgeben und uns fragen, wer uns wirklich liegt. In dieser Zeit legen wir entsprechend Freundschaften ab oder intensivieren sie. Erstaunlich ist, dass wir uns in beiden Phasen als authentisch erleben.
Studien zeigen sogar, dass wir uns am authentischsten finden, wenn wir uns am meisten anpassen. Nämlich dann, wenn wir uns freundlich, extrovertiert, gewissenhaft und interessiert geben – also die Charakterzüge präsentieren, die in unserer Gesellschaft besonders hoch angesehen sind, ganz unabhängig davon, wie es unserer Persönlichkeit eigentlich entspräche.

Tatsächlich?
Wir sind uns oft nicht bewusst, wie variabel unsere Persönlichkeiten sind. Heute gebe ich dem Bettler 50 Cent, morgen nicht – obwohl ich behaupte, ich sei generell großzügig und herzlich. 

Was kann, abgesehen von Sparsamkeit, der Grund für diese Flexibilität sein?
Vielleicht fühle ich mich am einen Tag selbstbewusst und gütig, am anderen aber nur bemitleidenswert. Es gibt große Richtungen, in denen wir agieren – und doch sind wir täglich wandlungsfähig. Wir sind, wenn wir genau hinsehen, nie dieselben. Manche Menschen finden das beängstigend, weil sie die Überzeugung brauchen, immer stabil und sie selbst zu sein. Für diese Menschen ist die Annahme eines variablen Selbst schwierig. 

»Sie backen ihre Persönlichkeit täglich selbst, gemeinsam mit Ihrer Umgebung. Jeder Reiz verändert Sie, es ist ein ständiges Nehmen und Geben.«

Ist es nicht eigentlich befreiend zu wissen, dass wir uns ändern können?
Ganz genau. Es bedeutet, dass ich raus kann aus dem Korsett, das mir Eltern, Partner und Arbeitgeber auferlegen. Ich kann mich entwickeln und dadurch mein Leid verringern. 

Ein hilfreicher Gedanke.
Hier liegt auch der Grund, warum ich diese Bücher schreibe. Ich will Hilfe aufzeigen und psychische Gesundheit fördern. Sätze wie »Ich bin eben so« oder »Mia san mia« sind aus meiner Sicht Schlachtrufe der Unflexibilität, des Verharrens in einem gewohnten, manchmal leidvollen Leben. Meine Botschaft lautet: Du kannst da raus. Das ist auch die Grundlage jeder Verhaltenstherapie: Wir können uns ändern.

Sie beschreiben, wie diese Veränderung funktionieren kann – unter anderem, indem wir unseren Alltag durch Experimente bereichern.
Wenn ich lediglich sage »Ich will abnehmen«, wird es mir nicht gelingen. Wenn ich mich dagegen flexibler gebe und offen bin für neue Erfahrungen, kann mir das helfen, meine Ziele zu erreichen. 

Inwiefern?
Viele »Schmerzen«, wie etwa Übergewicht, entstehen durch Gewohnheiten. Abends auf dem Sofa beim Fernsehen esse ich in aller Gewohnheit Chips und trinke ein Glas Wein, nach dem Essen rauche ich vielleicht eine Zigarette. Aus diesem gelernten und geübten Verhalten komme ich nur heraus, wenn ich mich anders verhalte. Logisch, ich darf halt keine Chips essen. Aber das gelingt mir am ehesten, wenn ich gar nicht bei den Chips anfange, sondern an anderer Stelle versuche, mal etwas anders zu machen.

Wie?
Beginnen Sie mit kleinen, unsinnigen Dingen. Steigen Sie mit dem anderen Bein zuerst in die Hose. Rühren Sie den Kaffee in der entgegengesetzten Richtung. Füllen Sie das Kreuzworträtsel rückwärts aus. 

Das sind sehr kleine Schritte.
So aber geben Sie sich selbst das Signal: Ich kann anders, ich muss nicht in Routinen feststecken. Laut Studien helfen solche Experimente bei der Aktivierung des Lebens. Und dadurch auch beim Abnehmen. 

An einer Stelle schreiben Sie einen großen Satz, der diesem Experiment zugrunde liegt: »Selbsterfindung ist wichtiger als Selbstfindung«.
Ja, Sie backen ihre Persönlichkeit täglich selbst, gemeinsam mit Ihrer Umgebung. Jeder Reiz verändert Sie, es ist ein ständiges Nehmen und Geben. Sie können sich deshalb auch bewusst verändern und zum Beispiel sagen: Ich will nicht immer so schüchtern sein, ich möchte extrovertierter werden. 

Wollen das denn viele?
Das ist Lebenswirklichkeit. Machertypen sind die beliebten, das ändert sich gerade auch in der asiatischen Gesellschaft, wo die Stillen bislang einen guten Ruf hatten.

Wie werde ich extrovertiert?
Der Wissenschaftler Nathan W. Hudson hat einen tollen Change Plan mit kleinen Übungen erstellt, die jede Woche schwieriger werden: Sagen Sie beim Betreten eines Geschäfts laut »Guten Tag«. In der darauffolgenden Woche fragen Sie den Verkäufer auch noch »Hallo, wie läuft’s denn?« Melden Sie sich in einer Diskussion und stellen Sie wenigstens eine Frage, auch wenn es Ihnen nicht behagt. Das geht bis hin zu der Übung, einfach mal einem Fremden in der Schlange anzubieten, seinen Kaffee zu bezahlen. Sie steigern mit solchen Aktionen Ihre Extrovertiertheit und es tut nicht mal weh, wenn Sie das Scheitern einkalkulieren. Es ist nicht schlimm, wenn der Verkäufer nicht Hallo sagt oder der Mensch in der Cafeteria die Einladung zum Kaffee ablehnt. Aber meist werden die Menschen freundlich reagieren. Je häufiger ein Schüchterner solche Erfahrungen macht, desto mehr wird er seine Schüchternheit verlieren.

So betrachtet ist »Individuation« eine Anleitung zur Lebenserkundung.
Und eine Anleitung, in Ihrem Leben gezielt etwas zu verändern: Hören Sie auf, sich zu suchen, erfinden Sie sich selbst. 

Fotos: Gerald von Foris

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