Die Okularistin Barbara Zimmermann über das Fertigen künstlicher Augen: Es ergibt keinen Sinn zu hetzen, es geht nur mit Ruhe

Gut 70 Menschen in Deutschland stellen künstliche Augen her, die Okularistin Barbara Zimmermann ist eine von ihnen. Ein Gespräch über die Farbzeichnung der Iris, menschliche Versehrtheit und die Befriedigung, die sich einstellt, wenn man die Wirksamkeit der eigenen Arbeit erleben darf. Foto: Gerald von Foris

Frau Zimmermann, wir treffen uns im Arnold Greiner-Institut für künstliche Augen, das Sie seit einiger Zeit führen. Wer war Arnold Greiner?
Mein Urgroßvater. Er kam in Lauscha im Thüringer Wald zur Welt, wo die Okularistik ihren Ursprung hat. Seine Ausbildung absolvierte er in Wiesbaden, 1920 ließ er sich dann in München nieder. Nach dem frühen Tod meines Urgroßvaters stieg 1942 mein Großvater Alfred Greiner im Alter von knapp 20 Jahren ins Unternehmen ein. 2003 übernahm mein Onkel das Geschäft, 2016 folgte dann ich. 

Die Okularistik ist ein seltener Beruf.
Ja, in unserem deutschlandweiten Verband gibt es nur gut 15 Institute mit jeweils einem bis drei Okularisten. Das größte Institut mit mehr als 13 Mitarbeitern existiert in Wiesbaden. In ganz Deutschland arbeiten etwa 70 Okularisten. 

Aus welchem Bedürfnis ist Ihr Handwerk entstanden?
Das menschliche Bedürfnis nach Unversehrtheit und Vollständigkeit gibt es schon immer. Erst vor Kurzem fanden Archäologen Abdeckungen für Augenhöhlen, die aus Bitumen gefertigt waren. Aus der Antike wissen wir von Abdeckungen aus Holz oder auch von sogenannten Vorlege-Augen, die vor den Lidern positioniert und mit einem Spanndraht um den Kopf befestigt wurden. Es war dann der Arzt und Professor Heinrich Adelmann, der anregte, die Kunst der Puppenaugenmacher für Menschen zu nutzen, die ein Auge verloren haben. Der Okularist, der 1835 die ersten dünnen Augenschalen aus reinem Beinglas fertigte, war Ludwig Müller-Uri. 

Was ist Beinglas?
Beinglas ist ein sehr hartes und schwer zu bearbeitendes Glas. Deshalb nutzen wir seit seiner Erfindung im Jahr 1870 fast ausschließlich Kryolithglas, das sogenannte Menschenaugenglas aus Lauscha, das sich bei einem niedrigeren Schmelzpunkt bearbeiten lässt. Es bringt eine Weißfärbung mit sich, die der Farbe der Sklera, der äußeren Umhüllung des menschlichen Augapfels sehr nahekommt. 

Und dieses Menschenaugenglas gibt es in Lauscha?
Das bekommen Sie weltweit nur von dort. 

Wie lerne ich Ihren Beruf?
Es gibt keine Berufsschule, weil die Zahl der Institute überschaubar ist. Die Ausbildung ist im Grunde ein sechsjähriges Fernstudium mit Präsenz-Anteilen. Wir widmen uns der Anatomie, der Medizin, der Psychologie, der Physik und vielem mehr. Gerade haben wir 16 Auszubildende in ganz Deutschland, so viele wie nie. Wir erleben im Moment einen Generationenwechsel.

Was reizt diese 16 Auszubildenden und Sie selbst an der Okularistik?
Wir arbeiten medizinisch, wenn wir ein künstliches Auge einpassen. Wir arbeiten künstlerisch, wenn wir die Iris oder die Sklera nachzeichnen. Hier im Institut begegnen mir alle Gesellschaftsschichten. Auf dem Stuhl, auf dem Sie sitzen, saßen Scheichs und Gefängnisinsaßen. Dort saßen Menschen, die ihr Auge bei einem Gewaltverbrechen, nach einer Krebserkrankung oder durch einen Unfall verloren haben. 

Innerhalb von zwei Stunden kann ich mit meinen Händen einem Menschen, der am Boden zerstört ist und ängstlich in unsere Räume kommt, substanziell helfen.

Ihre Arbeit birgt also Vielfalt.
Und eine große Befriedigung, weil vom Anfang bis zum Ende alles hier im Haus entsteht: Wir blasen das Glas, färben das Auge, zeichnen die Iris und passen das Ergebnis an und erfahren sofort, wie sich die Menschen damit fühlen. 

Das ist eine Erfahrung, die viele in der arbeitsteiligen Gesellschaft nicht kennen: ein Produkt von Beginn an zu erstellen und die Wirkung am Menschen zu erleben.
Diese menschliche Komponente ist etwas Besonderes: Innerhalb von zwei Stunden kann ich mit meinen Händen einem Menschen, der am Boden zerstört ist und ängstlich in unsere Räume kommt, substanziell helfen. Ich kann dafür sorgen, dass er mit einem Lächeln die Praxis verlässt. 

Was genau stellen Sie mit Ihrer Arbeit her?
Symmetrie. Unversehrtheit. Unser Ziel ist es, dass unser Patient nachher wieder auf die Straße gehen kann – und niemandem fällt das künstliche Auge auf. 

Was nicht unwesentlich ist, weil der Mensch bei der Begegnung mit anderen immer zuerst den Blickkontakt sucht.
Die Augen stellen beim Kommunizieren in der Tat den ersten Kontakt her. Gibt es hier eine Abweichung irgend einer Art, fällt uns das auf: Da ist irgendetwas anders – aber was? Und warum? 

Diese Fragen entstehen unwillkürlich.
Wenn Sie der Betroffene sind, kann das unangenehm sein. Daher ist es uns wichtig, den Patienten ihr natürliches Aussehen wiederzugeben, damit sie dieser direkten Konfrontation entgehen können, wenn sie das möchten. Wenn niemandem auffällt, dass Ihnen ein Auge fehlt, haben Sie die Chance, selbst zu entscheiden, wem Sie davon berichten.

Sie geben den Menschen mit Ihrer Arbeit also Autonomie zurück.
Ja.

Erzählen alle Patienten von der Ursache, die zum Verlust des Auges führte?
Wir vereinbaren mit den Patienten eineinhalbstündige Termine, in denen wir uns viel Zeit für Sie nehmen, Fragen beantworten und immer auch die Vorgeschichten erfahren. Die Patienten können zusehen, wie ihr künstliches Auge entsteht. 

Setzen Sie denn einen komplett nachgebildeten Augapfel ein?
Nein. Viele Patienten haben noch ihren Augapfel und nur die Linse ist eingetrübt. Wenn der Augapfel entfernt wurde, dann wurde er meist durch ein volumenähnliches Implantat ersetzt. Das kann aus Haut und Fett entstehen, die dem Gesäß entnommen, zu einer Kugel geformt und mit Bindehaut überzogen wurden. Diese Kugel wird dann mit den Augenmuskeln vernäht. Es gibt aber auch alloplastische Implantante aus zum Beispiel Acryl. 

Das Implantat ersetzt das Volumen des natürlichen Auges, damit die Augenhöhle nicht zusammenfällt, nicht wahr?
Ja, sie würde sonst tief einfallen. Wir Okularisten formen im Anschluss ein künstliches Kryolithauge, welches das Implantat abdeckt – ähnlich einer großen Kontaktlinse aus Glas. Wenn der Patient kommt, schauen wir uns die Volumenverhältnisse in seiner Augenhöhle an und eruieren mit der Hilfe von Modellen, welche Schalengröße angenehm zu tragen ist. Lässt sich das Lid komplett schließen? Stellt die Schalenform die Symmetrie des Gesichtes her? Wir beschäftigen uns mit der Augenfarbe, mit der Iris: Wie ist ihre Struktur? Welche Pupillengröße hat das gesunde Auge? Wie stark ist der Muskel der die Pupille, der Sphinkter, ausgeprägt? Nur durch den ganz genauen Vergleich mit dem Original können wir das Kunstauge so natürlich wie möglich nachbilden. Wir suchen auch nach Ablagerungen und Leberfleckchen, wir schauen uns das Weiß des Auges an: Wie viele Äderchen verlaufen auf der Oberfläche? Dann beginnt das Zeichnen. All die Farbstängel, mit denen wir dann die Iris und die Sklera nachzeichnen, stellen wir schon vorher selbst her. 

Mein Onkel zeichnet die Sklera nicht nur aus der Hand, er nutzt seinen ganzen Arm. Die Zeichnung wird schöner und echter, wenn die Bewegung aus dem Arm kommt.

Es ist erstaunlich, wie natürlich die Augen aussehen, die Sie produzieren. Wie erzeugen Sie diesen Effekt?
Jeder Okularist hat Hunderte von Farbstängeln in seiner Schublade, die jeweils aus bis zu fünf Farben bestehen. Das Herstellen dieser Farbstängel, die dann mithilfe eines Bunsenbrenners erhitzt und auf das künstliche Auge aufgetragen werden, nimmt einen großen Teil unserer Arbeitszeit in Anspruch. Allein die Zusammenstellung eines Stängels kann bis zu einer Stunde dauern – und jeder Okularist hat Hunderte in seiner Schublade. Unsere Auswahl ist so riesig, weil ein Auge ja nicht nur die eine Farbe hat. Sie haben vielleicht ein bisschen Blau in der Iris, gemischt mit Grau, vielleicht sieht man einen Hauch Grün und ein Fädchen Braun. Das sind Winzigkeiten, die wir beim Zusammenstellen der Farbstängel berücksichtigen.

Wie kann ich mir das Blasen der künstlichen Augen vorstellen?
Das Grundmaterial bekommen wir als Kryolithröhre. Davon ziehen wir über dem Bunsenbrenner kleine Stücke ab, aus denen wir die Kugeln blasen. Das ist einer der schwierigsten und wichtigsten Schritte: Wie viel Luft blase ich rein, sodass die Glasverteilung homogen ist? Im ersten Ausbildungsjahr sind die Auszubildenden damit beschäftigt, ein Gefühl für das Material zu bekommen: Wie lange halte ich es in der Flamme? Wie stark blase ich? Sobald ich aufhöre, das Glas in der Flamme zu drehen, läuft das Material davon. Ich muss deshalb mit beiden Händen ständig drehen und drehen und drehen. Es vergeht einige Zeit, ehe ich eine Kugel so hinbekomme, dass die Glasstärke überall gleich ist und Sie insgesamt rund läuft. 

Was haben Sie von Ihrem Onkel gelernt?
Dass unser Produkt eigentlich ein Gefühl ist: Der Patient muss das Institut mit einem Lächeln verlassen. 

Was genau beherrschte er besonders gut?
Seine Sklerazeichnungen waren wahnsinnig naturgetreu. Darauf legen wir bis heute Wert – das genaue Auftragen der Adern, die richtige Mischung der Farbe des Augapfels, das Rosa im Nasenwinkel. An der Stelle wird unsere Handschrift erkennbar. 

Wie haben Sie sich diese Fingerfertigkeit angeeignet?
Durch Beobachtung und Übung. 

Was ist Ihnen dabei aufgefallen?
Mein Onkel zeichnet die Sklera nicht nur aus der Hand, er nutzt seinen ganzen Arm. Die Zeichnung wird schöner und echter, wenn die Bewegung aus dem Arm kommt.

Welche Tugend suchen Sie in den Auszubildenden?
Wer den Beruf lernen will, muss es wirklich wollen. In den beiden ersten Jahren sehen Sie wenig Erfolg und können schnell demotiviert werden. Sie müssen geduldig üben und üben, drehen, blasen, drehen, blasen. Ich unterrichte selbst in den Fernkursen und weiß: Es ergibt keinen Sinn zu hetzen. Es geht nur mit Ruhe. Die Belohnung ist der Moment, wenn es dann klappt, wenn Sie einem Menschen die Schale einsetzen. Sie sehen ihn erst ohne Auge und eine Sekunde später mit Auge. Dann kommt der Spiegel und das Lächeln taucht auf.

Welcher Prämisse folgen Sie beim Ausbilden?
Es geht nicht darum, negative Erlebnisse zu vermeiden: Aus jedem Fehler kann der Auszubildende unheimlich viel für die Zukunft mitnehmen. 

Foto: Gerald von Foris