Der Tierfilmer Rolf Steinmann über seine Arbeit fernab der Zivilisation: Die besten Aufnahmen entstehen durch Disziplin, durch pure Disziplin 

In der Schule blieb er mehrmals sitzen und fühlte sich isoliert, dann entdeckte er die Wildnis und die Welt des Tierfilms: Ein Gespräch mit dem preisgekrönten Kameramann Rolf Steinmann über Polarwolfjagdszenen bei 45 Grad minus, tagelanges Ausharren in Erdlöchern und seinen eigenwilligen Weg in die großen Tierfilmproduktionen von BBC und Disney. Fotos: Gerald von Foris

Lesedauer: 30 Minuten. Wem diese Zeit fehlt: Am Ende dieses Textes steht erstmals eine anekdotische Kurzzusammenfassung mit Links zu besonders interessanten oder wichtigen Passagen.

Rolf, wie wurdest du Tierfilmer?
Meine Schulzeit war katastrophal, ich war schüchtern und verschlossen, blieb mehrmals sitzen und machte erst mit 21 Jahren das Abitur. Die einzigen Lichtblicke in der Zeit waren meine Radtouren nach Skandinavien … 

Inwiefern?
Ich hatte als Teenager so viele Probleme mit der Welt, dass mir die unberührte Natur zum Sehnsuchtsort wurde: Seit mir meine Mutter zum 16. Geburtstag einen Bildband über Alaska geschenkt hatte, sehnte ich mich weg von den Menschen und hinein in die Wildnis. 

Wie lange warst du auf dem Rad unterwegs?
Meine längste Tour begann kurz nach Schulabschluss und Zivildienst. Ich fuhr von München zum Nordkap und zurück, ein unheimlich schönes Erlebnis. 

Um was ging es dir?
Um die leeren Landschaften, in denen ich mich nicht mehr mit Menschen vergleichen musste, in denen ich ich selbst sein durfte. Dort hatte ich berührende Begegnungen – mit Elchen in der Mitternachtssonne, mitten auf der Straße, mit Luchsen und Rentieren. Es war so aufregend, dass ich mir sagte »Ich will häufiger in die Welt dieser Tiere«. Dazu brauchte ich natürlich Geld. Also fuhr ich zurück nach Deutschland und begann in einem Lagerhaus für Marketingartikel zu arbeiten. Die Kollegen nannten mich »Postminister«, weil ich für den Versand der Produkte zuständig war. Ich hatte eine Fehlerquote von nahe Null, was außergewöhnlich war, weil die Auszubildenden die Pakete häufiger falsch verschickten und Ärger bekamen. Mit mir war der Chef zufrieden. 

Das Rentier lief vor mir her und zeigte mir den Weg

War das nach der schwierigen Schulzeit eine Art Genugtuung?
Ich hatte immer Probleme mit Mitschülern und Lehrern, im Lagerhaus wurde ich respektiert. Ich machte meinen Job und alle freuten sich, dass ich keine Fehler machte. Zwar verdiente ich anfangs nur sieben Euro die Stunde, sparte aber genug, um bald wieder drei Monate durch die Wildnis von Norwegen, Schweden und Finnland reisen zu können. Und wenn ich nach der Rückkehr anrief, freute sich der Chef und sagte nur »Morgen, acht Uhr«. 

Haben die Reisen in den Norden deine Sehnsucht gestillt oder weiter angefacht?
Eher angefacht. Auf einer der Reisen schloss sich mir ein Rentier an und schlief neben meinem Zelt. Als ich am Morgen herauskroch, lief es erst weg, erkannte dann aber, dass ich der Typ vom Vortag war. Wir liefen zusammen, auf kleinen Pfaden: Das Rentier lief vor mir her und zeigte mir den Weg, dann wurde es abgelenkt vom Grasen, driftete ab, ich lief weiter, bald kam es wieder angerannt und ich musste Platz machen. So ging das tagelang. Für einen Stadtmenschen wie mich war das neu. Es berührte mich zutiefst. Als ich nach dieser Reise in die Stadt zurückkehrte, fühlte ich mich isoliert. Ich kam mit der Welt kaum klar, setzte mich vor den Fernseher und stillte mit Natur- und Tierfilmen meine Sehnsucht. Irgendwann begann ich Listen anzulegen, in denen ich jeden Film, jeden Kameramann, jeden Cutter bewertete. 

Wie meinst du das?
Ich vergab Noten auf die Qualität des Drehs oder des Schnittes. Es gab auch eine Spalte, in der ich vermerkte, ob das Stück auf Film oder mit digitalem Camcorder gedreht war. Ich liebte Film und konnte Camcorder-Filme nicht ausstehen. 

Weshalb?
Die digitalen Kassettenformate nahmen während einer Sekunde 50 Halbbilder auf – deshalb sahen beispielsweise Nachrichten anders aus als Spielfilme. Filmkameras hingegen machten 25 Vollbilder je Sekunde, stellten Farben und Kontrastumfang viel natürlicher da und erzeugten daher ein anderes Gefühl. Ich erkannte schon anhand meiner Auswertungen, dass ich nur auf das Filmbild emotional reagierte. Also begann ich, mich intensiv mit analogem Film zu befassen – schaute aber natürlich weiterhin jeden Naturfilm, den ich in die Hände bekommen konnte.

Sie gestanden mir beim Bier, dass alle dagegen gewesen seien, mich aufzunehmen

Wie viele Filme hast du in dieser Zeit aufgenommen?
Ich nahm die Filme mit einem damals teuren Festplattenrekorder auf und presste sie auf DVDs. Am Ende hatte ich 300 DVDs mit je bis zu fünf Filmen darauf – die ich natürlich alle auch geschaut habe.

Wann fiel deine Entscheidung, Tierfilmer werden zu wollen?
Die traf ich vermutlich in Grönland, als ich versuchte, Teil einer Moschusochsenherde zu werden. Ein völlig naiver Traum.

Wie alt warst du da?
24 Jahre. Natürlich klappte das mit der Herde nicht, aber nach der Rückkehr kam etwas in Bewegung. Weil der NDR besonders viele Naturfilme produzierte, nahm ich meinen Mut zusammen, schrieb eine Email und fragte, ob das entsprechende Team einen Praktikanten brauchen könne. Die Antwort lautete »ja«, aber ich hatte keinen Mut, mich zu bewerben. 

Weshalb?
Was sollte ich denen erzählen? Dass ich Naturfilmfan bin? 

Vielleicht.
Das konnte ich mir nicht vorstellen. Also nahm ich mir vor, eine 16mm-Filmausrüstung zu kaufen, nach Alaska zu gehen und einen Film zu drehen. Auf ebay stand eine Ausrüstung zum Verkauf, mit der der Verkäufer nach eigenen Angaben Naturfilmpreise gewonnen hatte. Wir kamen in Kontakt. Er arbeitete für den NDR und deutete an, dass sein Team gerade in Finnland einen Film über den Vielfraß drehen würde, den phantomartigen Marder in der Taiga. Leider sei der Produktionswagen voll und sie könnten keinen Praktikanten mitnehmen. Wir tauschten uns weiter aus und er bat mich um meinen Lebenslauf. Nun war ich ein Musiknerd und schrieb, dass ich zwar kein Biologe sei, mich aber mit der nordischen Tierwelt auskennen würde. An der Stelle sei es wie in der Musik: Nur wenn dir »Oasis« oder »Blur« gefallen, gräbst du weiter und entdeckst die kleinen Bands, die oft viel spannender sind als die Großen. Aber du brauchst die Großen, um die Kleinen zu entdecken. Ich schrieb ihm, dass es aus meiner Sicht auch in der Natur so sei: Ich kannte mich damals eigentlich nur mit Wölfen, Rentieren und Elchen aus, war aber der festen Überzeugung, dass ich auf der Reise in die Wildnis immer mehr entdecken würde. 

Die Analogie zwischen Tierreich und Indiemusik ist sehr schön.
Der Zufall wollte es, dass der Empfänger des Lebenslaufes seit seiner Jugend ein Indie-Musiklabel führte. Die britische Musikszene hatte ihn geprägt und er las mit Interesse, wie ich die Tierwelt mit Indiemusik verglich. Da war der Damm gebrochen und er sagte: Wenn du dir eine eigene Kameraausrüstung kaufst, auf eigene Kosten nach Finnland reist und dich um Themen kümmerst, für die wir keine Zeit haben, kaufen wir dein Material, wenn wir es gut finden. 

Du wirst im Tierfilm erfolgreich, indem du dir alles anschaust, was du finden kannst

Immerhin, ein Angebot.
Ich weiß noch genau, wie die mich im finnischen Frühling zur Birkhuhnbalz ins Tarnzelt steckten: Es war das erste Mal, dass ich eine Kamera einschaltete. Das Team nahm sich die Zeit zur Materialsichtung und schickte mich immer wieder in den Wald. Ich sollte wilde Waldrentiere und Wölfe filmen und war vollkommen erfolglos. Aber ich bekam mit, wie diese Typen arbeiteten, und durfte ihr Drehmaterial in Echtzeit einspielen – 180 Tapes zu je einer Stunde. 

Das dauert.
Parallel musst du aufzeichnen, was auf den Bildern zu sehen ist und Listen dazu  anlegen. Nach unserer Rückkehr schrieben die Produzenten eine Mail an eine Reihe von Tierfilmern in Deutschland: »Wir haben hier einen hypermotivierten Typen, sucht jemand Praktikanten?« Schließlich lud mich Nautilus ein, eine große Naturfilmproduktionsfirma nahe München. Der Chef Jan Haft holte mich zu einem gemeinsamen Mittagessen mit seiner Crew. Ich bekam bei dem Termin fast kein Wort raus, trotzdem erhielt ich das einjährige Kameraassistentenpraktikum und freundete mich mit den Kollegen an. Nach einem Jahr gestanden sie mir beim Bier, dass nach diesem Mittagessen alle dagegen gewesen seien, mich aufzunehmen. Jeder habe mich als seltsamen Typen empfunden. Doch Jan Haft hatte sein Veto eingelegt: Der Typ ist krass motiviert, dem geben wir eine Chance. 

Wie erging es dir bei Nautilus?
Unser Team räumte mit Filmen wie »Die ältesten Bäume Deutschlands« oder »Mein Isental« Preise ab und ich lernte viel. Immer wenn die Kameramänner nicht arbeiteten, fragte ich, ob ich die Kamera nutzen dürfe. Zu der Zeit lebte ich mit anderen Kollegen in einem alten Abrisshaus östlich von München. Ich installierte Tarnverstecke und filmte. Jan Haft mochte das Material und übernahm mich. Ich blieb zwei Jahre. 

Weshalb nicht noch länger?
Jan Hafts Produktionsfirma arbeitete mit einer gewissen Effizienz, die Bilder mussten schnell entstehen, Drehreisen dauerten manchmal nur zwei, drei Tage. Ich wollte aber immer ganz lange an einem Ort sein, ganz tief einsteigen.

Wie findet man in solch kurzer Zeit die richtigen Drehorte?
Jan ist ein lebendiges Lexikon mit vielen Kontakten, etwa zu Privatwaldbesitzern in Österreich, wo Hirschkäfer noch in höherer Zahl existieren. Er arbeitet bewundernswert, aber die Filme meiner Idole entstehen oder entstanden anders. 

Der Tierfilmer Rolf Steinmann, fotografiert von Gerald von Foris
Der Tierfilmer Rolf Steinmann, fotografiert von Gerald von Foris

Wie filmen die?
In »König der Anden« gewöhnte Hugh Miles ein Puma-Weibchen an sich und begleitete es über zwei Jahre hinweg durch die spektakuläre Landschaft des Torres del Paine. Es entstand ein persönlich erzählter, emotionaler Film mit unheimlicher Bildgewalt. Ein anderer Film, der mich faszinierte war „Soca – Der smaragdene Fluss“ von Michael Schlamberger. Ein Kunstwerk über die Soca-Forelle. Oder das gesamte Werk von Owen Newman, der nur in Ostafrika drehte. Er führte eine neue Ästhetik ein und ging während der größten Action in die Close-ups: Er filmte in Zeitlupe einen Geparden bei der Jagd, der auf die Kamera zurennt. Newman arbeitete gemeinsam mit seiner Frau, beide lebten bescheiden in der Wildnis. Das war mein Ideal. Ich wollte die Tiere kennenlernen, indem ich mich in ihrem Habitat einfinde. Deshalb wurde ich nach der Zeit bei Jan Haft Freiberufler und stellte mich auf internationalen Festivals vor. 

In welcher Form?
Wenn ich auf ein Festival ging, erkannte ich alle Kameramänner auf den ersten Blick, auch wenn ich sie nie in echt gesehen hatte. Als zum Beispiel der Italiener Rolando Menardi durch die Tür kam, der viel mit Michael Schlamberger gearbeitet hatte, erkannte ich ihn sofort, weil die Bücher zu den Schlambergers Filmen bei mir im Regal standen; darin sind neben Tieraufnahmen auch Making of-Bilder mit Rolando zu sehen. Bei unserer ersten Begegnung fragte ich ihn, von welchem Hersteller der Daunenanzug sei, den er auf einem bestimmten Motiv trug. Ich fragte ihn auch nach dem Canon-Objektiv 8-64, das er auf einem dieser Bilder auf seine Arri SR3 geschraubt hatte – ob es die erste oder die zweite Version gewesen sei? 

Das sind sehr detaillierte Gesprächseinstiege.
Ich will dir nur beschreiben, welch ein Nerd ich war. Dadurch aber nahmen mich die Kollegen ernst. Heute schreiben mich Menschen aus der ganzen Welt an, die mich darum bitten, ihnen Kontakte zu vermitteln. Dann antworte ich, dass Erfolg nicht durch vermittelte Kontakte entsteht. Du wirst im Tierfilm erfolgreich, indem du dir alles anschaust, was du finden kannst, indem du dich mit dieser Arbeit eingehend beschäftigst und dann auf die Festivals gehst. (Überlegt) Ich muss gerade an die Schauspielerin Franka Potente denken, die mit Johnny Depp spielte und beim Dreh eine Zeile vergaß. Er flüsterte ihr den Text zu und sie sagte »Woher kennst du meinen Text?« Johnny Depp entgegnete »Kennst du meinen etwa nicht?«

In dem Moment wurde ihm bewusst, wie sehr ich auf Details achte. Vor Kurzem schrieb ich ihm eine Karte, weil wir seit inzwischen zehn Jahren zusammenarbeiten.

Was entwickelte sich bei dir mit den Festivals?
Erst mal nicht so viel. Obwohl ich mit Jan Haft mal in den USA für die beste Kamera mit »Mein Isental« nominiert war, hatten die Leute auf den Festivals eigentlich keinen Bock, mit so einem unbekannten Typen wie mir zu reden. Einen habe ich dann gezwungen. 

Wie?
Am Ende großer Naturfilme zeigen die Engländer immer ein zehnminütiges Making of. Dort fiel mir die Geschichte eines Kollegen auf, der im Yellowstone-River mit Fischen tauchte. Dieser kleine Making of-Film hieß »Fishman« und haute mich um, weil er so emotional war. Als ich dem Kollegen bei einem Festival begegnete, rief ich instinktiv »Hey, Fishman«. Ich kam mit ihm ins Gespräch, er stellte mir seine Freundin vor, die wiederum für einen Produzenten aus England arbeitete, der an der Discovery Channel-Serie über Nordamerika arbeitete. Sie stellte mich eben jenem Produzenten vor und sagte »Unterhalte dich mal mit diesem Typen hier, der ist auch für beste Kamera nominiert«. 

Und, hat er mit dir gesprochen?
Er sagte nur »Entschuldigung, ich habe keine Zeit«. Ich entgegnete »Ich zeig dir nur ein bisschen Material von mir« und er antwortete »Entschuldigung, ich bin busy«. Ich blieb stur und sagte »Ich brauch nur eine Minute. Wenn dir das Material nicht gefällt, gehe ich.« Er wiegelte abermals ab und sagte »Ich muss zum Mittagessen«. Darauf sagte ich »Ich komme mit!«

Ganz schön beharrlich.
Er antwortete »Mein Gott, okay.« Wir setzten uns an eine Theke, an der zufällig auch ein deutscher Kameramann saß, mit dem der Produzent an Planet Earth gearbeitet hatte. Ich packte meine Zeitraffer-Aufnahmen aus, an denen ich damals total intensiv gearbeitet hatte. Der Produzent sah sie, drehte sich dann zu dem Kameramann und sagte »Die Bilder von dem Typen hier sind besser als deine.« 

Das ist gut für dich, aber doch auch ein wenig unverschämt?
Das sagte er natürlich auch, um ihn aufzuziehen. Er erzählt bis heute von unserer ersten Begegnung. Immer wenn er an der Theke abgelenkt war und wegsah, stoppte ich den Film, spielte zurück und sagte »Du hast was verpasst, du musst die gesamte Aufnahme anschauen«. In dem Moment wurde ihm bewusst, wie sehr ich auf Details achte. Vor kurzem schrieb ich ihm eine Karte, weil wir seit inzwischen zehn Jahren zusammenarbeiten. 

Wer ist der Mann?
Huw Cordy. Er produzierte drei Teile von »Planet Earth« und gehört zu den Großen des Fachs. Die Begegnung war der Ausgangspunkt meiner internationalen Arbeit, meines Weges in den hoch budgetierten Naturfilm. Seitdem bin ich im Jahr bis zu zehn Monate auf Drehreise. Erst arbeitete für Discovery Channel, dann an BBC-Produktionen, inzwischen kam auch Disney hinzu.

Ein Series-Producer der BBC sagte mir mal, er habe Kälte nie so gespürt wie in diesem Film.

Wie stelle ich mir deine Arbeit vor?
Ich bin »Sequence Worker«, drehe also keine Filme, sondern Sequenzen – hier eine Wolfsequenz in Nordkanada, dort eine Pinguinsequenz in Südgeorgien. 

In welcher Funktion drehst du?
Ich mache »Longlens« und bin meist als erster Kameramann für das Teleobjektiv zuständig. Andere managen die Drohne oder sind sogenannte »Cineflex Operator«. 

Das heißt?
Die sitzen im Hubschrauber oder in einem Schlauchboot und drehen mit bildstabilisierenden Kamerasystemen.

Du sagst, dass die Entscheidung fürs Tierfilmen in Grönland fiel. Die Arktis spielt in deiner Arbeit bis heute eine große Rolle, dein Film »In Between« widmet sich einer Moschusochsenherde und dem Leben im arktischen Klima.
Er ist die Blaupause meines Arbeitens. Ich drehte im Winter, die Sonne stand nur knapp über dem Horizont, es war irre kalt und stürmte, alles war pure Stimmung, eine andere Welt. Diese Umgebung hat mich immer fasziniert. Ein Series-Producer der BBC sagte mir mal, er habe Kälte nie so gespürt wie in diesem Film.

Ein schönes Lob.
Wenn du das von einem altgedienten BBCler hörst, ist das ein großes Kompliment. In Between war der einzige Kurzfilm in 25 Jahren, der bei der Wildscreen, dem wichtigsten Naturfilmfestival der Welt für beste Kamera nominiert war.

In Teilen wirkt er wie ein Gemälde.
Es ging mir nicht um die Bewegung der Kamera, sondern um die Bewegung im Bild. Das Wissen darum spürte ich immer, konnte es aber lange Zeit nicht in Worte fassen. 

Die Verstecke waren so klein, dass ich meine Beine nicht strecken konnte. Aber ich verließ sie nicht – ich aß dort, trank dort und machte in Tüten.

Kannst du an einem Beispiel erklären, welche Vorarbeiten nötig sind, um so nah an die Tiere zu kommen?
Ich bin spezialisiert auf sehr scheue Tiere in der Wildnis und hatte einmal den Auftrag von Disney, eine Tibetantilope bei der Geburt zu filmen. Die Tibetantilope zieht jeden Sommer 300 Kilometer in ein völlig entlegenes, ultrakarges Gebiet des nordtibetischen Hochplateaus. Niemand weiß, warum sie da hinzieht, das Futterangebot ist karg. Die Weibchen werfen dort, bleiben ein paar Wochen und ziehen wieder in die Wintergebiete. 

Sind sie besonders scheu?
Ultrascheu. Sie wurden von Wilderern fast ausgerottet, weil man aus ihrem Fell Shahtoosh-Schals machte, die vor allem in den Neunzigern populär waren und bis zu 10.000 Euro das Stück kosteten – für einen Schal mussten fünf Antilopen sterben. Wir gruben in dem entlegenen Gebiet vier Löcher in den Boden und installierten Tarnverstecke, sodass die Kamera gerade so über dem Boden postiert war. Dann positionierten wir eine Metallkuppel darüber, die einen halben Meter hoch war und verdeckten sie mit Erde. Ich blieb immer drei bis vier Tage am Stück in diesem Erdloch, ehe mich der Field-Director abholen ließ, um in einer Ranger-Station das Material zu sichten. 

Konntest du dich in den Löchern bewegen?
Kaum. Die Verstecke waren so klein, dass ich meine Beine nicht strecken konnte. Aber ich verließ sie nicht – ich aß dort, trank dort und machte in Tüten. Für die Tiere existierte ich in dieser riesigen Landschaft nicht und hatte sie deshalb irgendwann durch Zufall vor mir stehen. 

Hast du denn eine Geburt filmen können?
Ja. Aber es war heikel: Nachts ist es auf 5000 Metern Höhe eiskalt, tagsüber wird es sehr warm und du siehst in Bodennähe ein starkes Hitzeflimmern. Das macht die Bilder unscharf. Deshalb musst du immer ganz nah am Objekt sein. Einmal aber hatte ich Glück und konnte eine Geburt aus 80 Metern Entfernung beobachten – nah genug, um schöne Bilder zu machen. 

Mit Hitzeflimmern?
Als ich sah, dass die Mutter werfen wird, war es 11 Uhr mittags. Das Hitzeflimmern war irre stark. Plötzlich aber kam eine Wolke, zog vor die Sonne, verschattete die Szene und das Flimmern hörte fast komplett auf – bis das Kalb stand. Die Wolke ging weg, die Szene war im Kasten. 

Was für ein Glück.
Das erlebte ich in den zwei Monaten, die ich dort verbrachte kein zweites Mal, obwohl ich von vor Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang jeden Tag 16 Stunden lang aus meinen Tarnverstecken die Landschaft nach Tieren absuchte. Ohne jede Ablenkung. 

Das heißt?
In dieser Zeit lese ich nicht, ich höre keine Musik, mache kein Nickerchen. Schließlich kommen die Antilopen aus dem Nichts vor dein Tarnversteck und sind genauso schnell wieder weg. Du kannst dir keine Pause erlauben und musst dich immer konzentrieren, wochenlang, jeden Tag.

Das heißt im Klartext: Die besten Aufnahmen entstehen durch …
… Disziplin, durch pure Disziplin.

Bist du hart zu dir?
Einmal drehte ich mit Huw Cordy in Kamtschatka Bären im Tal der Geysire. Das Gebiet ist vulkanisch sehr aktiv. Nach einer Woche trat ich in kochenden Schlamm, verbrannte mir den Fuß – und arbeitete trotzdem noch eine Woche weiter. Nach kurzer Zeit konnte ich nicht mehr stehen, führte den Job aber trotzdem zu Ende, indem ich im Sitzen filmte. Nach meiner Rückkehr verbrachte ich einen Monat im Krankenhaus, zur Hauttransplantation. 

War Kamtschatka dein schwierigster Dreh?
Nein, der war im Kongo. Dort war ich der erste Kameramann, der mit einer wilden, von Wissenschaftlern habituierten Bonobo-Familie durch den Regenwald zog. (Überlegt) Das war das Krasseste, was ich neben der Arbeit mit Polarwölfen in der Arktis erlebt habe: Bei minus 40 Grad sechs Wochen lang jeden Tag draußen zu arbeiten ist hart, weil es schmerzt. Wenn du nach einem Drehtag zurückkommst, sind deine Socken auch in den fettesten Stiefeln komplett vereist. Ich kenne Kollegen, die versucht haben, in dieser Umgebung in einem Zelt zu übernachten. Sie mussten nach einer Woche mit Erfrierungen ausgeflogen werden.

Wo hast du in der Arktis übernachtet?
In einer kanadischen Wetterstation. 

Hält eine solche Wetterstation genug Betten vor?
Ja. Allerdings kostet dort eine Nacht pro Person 500 Dollar. Der kanadische Staat hält sie mit einem gigantischen logistischen Aufwand aufrecht – unter anderem für eine nahe Forschungsstation für Astrophysiker. Ohne diese Wetterstation und die Heizung dort wäre meine Arbeit unmöglich. Nach zehn bis zwölf Stunden draußen bist du körperlich zerstört.

Ich nehme an, du folgst den Polarhasen oder Polarwölfen nicht zu Fuß?
Im Erdloch bin ich ein klassischer Tierfilmer aus dem Tarnversteck heraus, in der Arktis fahren wir mit dem Schneemobil. Wenn Wölfe jagen, bewegen sie sich sehr schnell viele Kilometer weit. 

Rolf Steinmann in München
»Die Insekten fressen dich bei lebendigem Leibe auf, du wirst von Bienen gestochen und von Ameisenvölkern angegriffen«: Rolf Steinmann (Foto: Gerald von Foris)

Für die National Geographic Serie »Hostile Planet« hast du eine Szene gefilmt, in der ein Rudel Wölfe eine Herde Moschusochsen jagt. War den Wölfen deine Gegenwart egal?
Den Wölfen ist meine Gegenwart völlig wurst, weil sie nie in ihrem Leben gejagt wurden.

Du hast dann diese unwirkliche Szene gedreht, in der die Wölfe ein Moschusochsenkalb reißen. Wie kam es dazu?
Wir folgten den Wölfen schon geraume Zeit und stellten kurz vor dieser Szene unser Schneemobil etwa 300 Meter entfernt von den Tieren ab. Wir sahen, wie die Polarwölfe die Moschusochsenherde beobachteten und versuchten, ihnen so schnell wie möglich näher zu kommen – so schnell man sich wilden Tieren eben nähern kann.

Wie reagierten die Moschusochsen?
Sie sind sensibler als die Wölfe und schauten zu uns. Sie wurden von den Wölfen umkreist. Wir waren voll Adrenalin, weil wir wussten, dass noch nie jemand Polarwölfe im Winter bei der Jagd auf Moschusochsen gefilmt hatte. 

Was kostete der gesamte Dreh?
Ich schätze mal 500.000 Euro. 

Es war ein existenzieller Moment, weil wir den gesamten Prozess filmen konnten – auch noch, wie die Wölfe die Mutter des Kalbes rissen

Erzeugt das Wissen um den Aufwand zusätzlichen Druck in einer solchen Situation?
Allerdings. Dir ist ja bewusst, welcher finanzielle und logistische Aufwand notwendig ist, um dich in solch eine Situation zu bringen. Noch dazu willst du das Tierverhalten auf keinen Fall beeinflussen. Deshalb ist eine solche Situation Adrenalin pur. Besonders, wenn dann die Action losgeht, und, wie diesem Falle, die Moschusochsen zu rennen beginnen. Wir liefen mit allem Equipment durch den Schnee hinterher. In einer bestimmten Entfernung machte ich Halt, knallte die Kamera auf den Boden, drückte auf Record und sah, wie die Moschusochsenherde sich teilte. Der Blick wurde frei und ich sah, wie die Wölfe im Hintergrund auf ein Kalb gingen. Ich habe den Moment noch vor Augen, in dem ich zu meinem Kollegen aufschaute. Er war auf die Herde fixiert und rief »Gott, wir haben den Moment verpasst« Und ich sagte  »Warum? Ich hab ihn noch drin.« Vor lauter Erleichterung umarmte er mich. Es war ein existenzieller Moment, weil wir den gesamten Prozess filmen konnten – auch noch, wie die Wölfe die Mutter des Kalbes rissen. Sie war stehen geblieben und hatte zugesehen, wie ihr Kalb von den Wölfen bearbeitet wurde. Dann stürzten sich die Wölfe auf die Mutter und nach einem kurzen, heftigen Kampf ging auch sie zu Boden. Sie nahm ihr Schicksal hin und konnte oder wollte sich nicht mehr wehren. Die Wölfe fraßen sie bei lebendigem Leibe auf.

Hm.
Diese Augenzeugenschaft macht etwas mit dir. Ich war mitgenommen, als ich danach in die Wetterstation kam. Am folgenden Tag kehrten wir zur Stelle zurück und fanden einen dritten Moschusochsenkopf – die Mutter war schwanger gewesen. Sie hatte noch ein Kalb im Körper gehabt. (Überlegt) Und dann kommst du nach Deutschland und erkennst: Diese Welt existiert hier nicht mehr. Mensch, Natur und Tier sind gezähmt. Nach der Rückkehr von solchen Drehs werde ich häufig depressiv und brauche eine ganze Weile, ehe ich wieder unter Menschen gehen kann. 

Warst du je in Gefahr?
Für die BBC-Serie »The Hunt« drehten wir einen Eisbären, der einmal auf mich zurannte, als ich an der Kamera war. Ich fand das superspannend und filmte weiter. Aber irgendwann rief mein Guide »Rolf, spring sofort aufs Schneemobil«. Ich ließ die Kamera stehen und sprang auf – allerdings mit dem Gesicht nach hinten. Aus irgendeinem Grund wollte ich dem Eisbären nicht meinen Rücken zudrehen. Der Bär beschleunigte, das Schneemobil aber auch, sodass ich fast runtergefallen wäre. Mein Guide nahm wahr, dass ich schlecht saß und packte meine Jacke. Ich sah, wie der Eisbär ohne jede Mimik auf mich zuhielt und wusste: Wenn ich falle, ist es zu Ende.

Du drehst gerade wieder für einen Disney-Film Eisbären. Wie gern oder ungern lassen sich die Tiere filmen?
Ein Guide in der Arktis sagte mir, dass es drei Arten von Eisbären gebe: Der aggressive »Arschlochbär« geht sofort auf dich los. Den »Popo-Bär« siehst du nur von hinten, weil er immer wegläuft. Und dann gibt es den »Star«, der sich von dir nicht stressen lässt und einfach sein Ding macht. Wir müssen Stars finden.

Die menschliche Emotion beim Zuschauen entsteht durch Dramatisierung von Tierverhalten. Wir filmen und bilden bewusst Charaktere

Nun habe ich ein bestimmtes Bild von Eisbären im Kopf: Weißes Fell, erhaben, eine Majestät der Kälte. Suchst du solche Bilder, wenn du in die Arktis gehst?
Das hängt von der Geschichte ab, die der Produzent erzählen will. Ich bekomme vorab ein Skript, teilweise gezeichnete Storyboards mit den gewünschten Sequenzen. Bestimmte Tiere fallen dann aus, weil wir dem Bild folgen, das du beschreibst. Ich erinnere mich an einen mageren Eisbären, den wir tagelang begleiteten. Er war ein schlechter Jäger: Wenn die Robben ins Wasser zurückgehen, obwohl der Eisbär noch hundert Meter entfernt ist, weißt du Bescheid.

Die Geschichten für die großen BBC- oder Disney-Produktionen entstehen demnach am Reißbrett und nicht entlang des Materials, das du mitbringst?
Die Produktionsfirmen beschäftigen Biologen als Rechercheure. Nehmen wir an, eine Produktion plant »Planet Earth 3« mit dem Schwerpunkt »Berge«. Die Rechercheure lesen dann alle Artikel von Forschern mit Bergschwerpunkten. Wenn sie eine interessante Geschichte entdecken, gehen sie tiefer und finden heraus, ob es möglich ist, diese auch zu filmen. Denn wenn ein Wissenschaftler im Gespräch sagt, dass man das Beschriebene durchaus sehen könne, heißt es nicht, dass wir das auch filmen können – und erst recht nicht, dass wir das schön filmen können. Wenn wir eine Geschichte dann aber anpacken, ist es meine Arbeit, die Bilder zum Skript zu finden. Die Geschichten entwickeln sich jedoch  immer anders als im Drehbuch. Manches bekomme ich nicht, dafür filme ich meist auch Dinge, mit denen ich nicht gerechnet habe.

Eben sprachen wir über die Jagd der Wölfe auf die Moschusochsen, die im Film auch entsprechend dramatisiert wurde. Das ist Absicht, nehme ich an?
Die menschliche Emotion beim Zuschauen entsteht durch Dramatisierung von Tierverhalten. Wir filmen und bilden bewusst Charaktere – es geht nicht um den Eisbären generell, es geht um einen bestimmten Eisbären, damit der Zuschauer eine Beziehung zum Individuum aufbaut und so Gefühle entstehen können. Im Zentrum unserer Arbeit steht allerdings immer zeitloses Tierverhalten. 

Das heißt?
Wir beobachten Tiere beim Umgang mit den Herausforderungen der Evolution. Nur werden diese Geschichten heute nicht mehr so nüchtern erzählt wie einst. 

Du wolltest noch vom Dreh im Kongo erzählen.
Wir verfolgten die Bonobos bis zu 30 Kilometer am Tag und schnitten uns den Weg durch den Dschungel mit Gartenscheren frei, weil wir keine Macheten benutzen durften. Das ist in der Hitze unfassbar anstrengend. Die Insekten fressen dich bei lebendigem Leibe auf, du wirst von Bienen gestochen und von Ameisenvölkern angegriffen – du musst dich am Ende ausziehen, um jede einzelne Soldatenameise aus der Haut zu ziehen. Meine Mutter sagte, sie habe mich noch nie in so schlechtem Zustand erlebt wie nach dieser Zeit im Kongo. Anders als in der Arktis bist du immer nur im dichten Wald, kriegst keine Sonne ab, siehst keinen Horizont. Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr ich mich am Ende nach einem Berg gesehnt habe!

Gibt es eine Verbindung zwischen deiner Leidensfähigkeit und der Qualität deiner Aufnahmen?
Durchhalten ist eine wesentliche Voraussetzung für das Entstehen von Qualität. Qualität entsteht aus meiner Sicht aber auch nur dann, wenn ich mir bei der Arbeit eine Verbindung zu meinem inneren Kern erhalte – zu meinen Wünschen, Werten oder Idealen. 

Das heißt?
Die innere Stimme ist dir immer voraus und weist dir den Weg. Der Kopf hingegen ist häufig manipuliert.

Kannst du diese Verbindung zum inneren Kern ein ganzes Berufsleben lang aufrechthalten?
Grundsätzlich schon. Ob sie aber auch immer zu Erfolg führt, ist eine andere Frage. Ich glaube, dass alle großen Filmemacher nur einmal im Leben dem Zeitgeist voraus sind. 

Bist du es gerade?
In einem Making of zu »Seven Worlds – Antarctica« spreche ich offen über meine Gefühle im Blick auf die Königspinguinkolonie, die ich zu dem Zeitpunkt filmte und die es vielleicht bald nicht mehr in dieser Form geben wird. Die Vorstellung, dass der Mensch die Lebensgrundlagen dieser Tiere zerstört, zermürbt mich. 

Dir kommen in der Szene die Tränen.
Auf diesen Moment habe ich so viel Resonanz erfahren wie selten zuvor. Dadurch, dass ich vor der Kamera unverstellt sprach, berührte ich ein Millionenpublikum und war, auf meine Art, am Puls der Zeit. Die Menschen konnten meine Gefühle anscheinend nachvollziehen. Sie spüren wohl genauso wie ich, wie viel wir gerade verlieren. So einsam und isoliert ich mich manchmal fühle – in solchen Szenen kann ich mich durch meine Arbeit mit der Gesellschaft verbinden. Weil ich ausdrücke, was andere nicht ausdrücken können. Weil ich meiner inneren Stimme folge. 

Rolf Steinmann in München
»Wenn ich mit der Natur arbeite, führe ich automatisch ein sinnerfülltes Leben«, sagt Rolf Steinmann (Foto: Gerald von Foris)

Seit deiner Schulzeit hat sich das Klima massiv verändert, Arten sterben aus. Wie nimmst du diese Veränderung beim Filmen noch wahr?
In der Arktis sind die Buchten nicht mehr zugefroren, die früher zugefroren waren. Manche Gletscher in den Polarregionen, so sagen es Einheimische, waren vor zwanzig Jahren um mehrere Kilometer länger. In Kenia siehst du, anders als früher, keine Wildtiere mehr, sobald du die Nationalparks verlässt. In Tibet findest du keine wilden Yaks mehr, dagegen Millionen domestizierter Yaks. Vor zwei Jahren habe ich eine Tibetfuchs-Sequenz gedreht, in der immer wieder Motorräder, Zäune, Strommasten oder die Yakherden von Nomaden auftauchen. Ich sagte dem Produzenten, dass ich seine Traumwelt nicht mehr kreieren könne. Immer ist da irgendwas im Bild, das in echter Wildnis nicht hingehört. 

Die geskripteten Geschichten sind also nicht mehr zu finden?
Du kannst sie visuell oft nicht mehr so umsetzen wie geplant, weil der Mensch alles verändert hat. Ich komme deshalb immer mit einer Dringlichkeit aus der Natur zurück, sehe aber nur alle am Handy am Daddeln. Ich frage mich dann: Leute, wie könnt ihr immer noch so weitermachen, während draußen alles brennt?  

Was möchtest du mit deinen Bildern auslösen?
Ich will, dass der Zuschauer nachdenkt über die Welt, dass er sein Leben reflektiert. In meiner Branche gibt es dazu viele Diskussionen. Wollen wir Menschen zum Umdenken inspirieren? Oder machen wir einfach nur erfolgreiche Filme, die dem erschöpften Menschen die Möglichkeit bieten, abzuschalten und sich neu aufzuladen? 

Die Frage beschäftigt dich?
Die beschäftigt mich extrem, weil das der große Konflikt im kommerziellen Naturfilm ist. Manche Produzenten sagen: Wenn du Natur auf den Bildschirm bringst, tust du doch schon was fürs Bewusstsein des Zuschauers. Das sehe ich anders. Gerade jetzt wollen immer mehr Zuschauer die Wahrheit sehen – und nicht unsere romantische Vorstellung von der Natur. 

Fragst du dich nach dem Sinn deiner Arbeit?
Ja, die Frage kann ich allerdings einfach beantworten: Wir kommen aus der Natur, deswegen ergibt die Beschäftigung mit der Natur an sich schon Sinn. 

Das heißt?
Wenn ich mit der Natur arbeite, führe ich automatisch ein sinnerfülltes Leben.

Du bist inzwischen meist der erste Kameramann am Set. Was rätst du deinen Assistenten?
Wenn du dahin willst, wo ich hin will, musst du zeigen, dass du weitergehen kannst als ich. Du musst vor mir wach sein und nach mir ins Bett gehen.

Hast du das gemacht?
Immer. Ich habe jede Sekunde gedreht, in der bei meinen Kameramännern die Kamera frei war. Rainer Maria Rilke hat die »Briefe an einen jungen Dichter« geschrieben. Auf die Frage des jungen Dichters »Was hältst du von meinen Versen?« antwortet Rilke sinngemäß: Du musst dir eine wichtige Frage stellen: Brauchst du Poesie zum Überleben? Wenn nicht, hör sofort auf. 

Du brauchst das Filmen in der Abgeschiedenheit?
Ich brauche den Naturfilm zum Überleben. Rückblickend hatte ich auch keine andere Wahl, weil ich mit der Welt auf Kriegsfuß stand. Ich war immer schüchtern, schlecht zu integrieren. Wenn du sitzen bleibst und wieder in eine neue Klasse kommst, obwohl du bereits zweimal sitzen geblieben bist und alle sind jünger als du … 

Dann lebst du im Teeanageralter in einer anderen Welt.
… und bist immer isoliert. Ich habe lange nach einer Welt gesucht, in der ich mich wirklich wohlfühle, in der die Menschen so sind wie ich.

Bist du heute zufrieden?
Ich habe Traumjobs und arbeite dieses Jahr bis Dezember an je einem Film über Eisbären und Geparden, darüber hinaus in Alaska, Hawaii, Kalifornien und im Amazonas-Regenwald. Nur gehen die Produktionen unterschiedlich weit auf den Habitatverlust, die Klimakrise und das Artensterben ein. Deshalb bin ich nicht zufrieden: Viele Filme, an denen ich arbeite, gehen mir inhaltlich nicht weit genug.

Bist du denn gut gebucht?
Ich bin dieses Jahr komplett ausgebucht und bekomme schon Anfragen für nächstes Jahr. Mein Cutter, mit dem ich meinen Kurzfilm gemacht habe, ist drei, vier Jahre im Voraus ausgebucht. Du findest keine Filmcrews mehr in England, weil die alle auf dem Set sind. Die Streamingportale schaffen immer mehr Arbeit.

Wie verändert dich die lange Zeit in der Wildnis?
Ein Disneyproduzent sagte mir, Tierfilmer seien für ihn die Mönche des Kinos. Ich mag den Vergleich. Wir sind diszipliniert in dem, was wir tun.

Warst du immer so oder bist du so geworden?
Ich bin ein Mensch, der sehr hart gegenüber sich selbst sein kann. Das ist ein Resultat meiner Erziehung: Mein Vater kommt aus Schlesien, er ist ein preußischer Katholik. 

Was bedeutet das?
Es gab bei ihm für alles Regeln – und wenn man sich an diese nicht hielt, hatte es natürlich Konsequenzen. Ich glaube, durch diese Erfahrungen bin ich bis heute ein extrem ängstlicher Mensch, weil ich mich immer mit den Konsequenzen meines Handelns beschäftige. (Überlegt) Ich weiß aber auch: Ich kann weit gehen, weil ich viel ertrage. Das ist mir heute Fluch und Segen. Auf der einen Seite habe ich ein gutes Leben, weil ich streng erzogen wurde und hart zu mir sein kann. Auf der anderen Seite wäre das Leben vielleicht schöner, wenn ich einen netten Job in München hätte und viel Liebe erfahren würde. Schlussendlich sehnen wir uns doch nicht danach, die Meisterschaft in einem Handwerk zu erringen, sondern geliebt zu werden, oder?

Fotos: Gerald von Foris

Dieses Gespräch gehört zu den Längsten, die bislang auf meisterstunde.de erschienen. Deshalb hier eine Zusammenfassung, verbunden mit der Möglichkeit, zu den erwähnten Passagen zu springen: Rolf Steinmann entdeckte seine Leidenschaft für die Wildnis während mehrerer Reisen durch Skandinavien. Einmal wurde er dabei tagelang von einem Rentier begleitet. Danach bewertete er aus schierem Interesse weit über 1000 Naturfilme mit einem eigenen Punktesystem, entdeckte Ähnlichkeiten zwischen Indiemusik und Tierwelt, fragte einen Kameramann auf einem Naturfilmfestival nach dessen Daunenanzug, blieb beim Werben um die Aufmerksamkeit von Produzenten häufig sehr beharrlich, filmte Tibetantilopen aus selbstgegrabenen Erdlöchern heraus, übernachtete für 500 Dollar in einer Wetterstation, um der arktischen Kälte zu entkommen und erlebte Polarwölfe beim Reißen von Moschusochsen. Außerdem erklärt Rolf Steinmann die Arbeit der großen Tierfilmproduktionen und seine Sorge um den Planeten; er benennt den Sinn seiner Arbeit und wie seine Erziehung seinen Erfolg ermöglichte. Steinmanns Film »In Between« ist kostenfrei auf Vimeo zu sehen.