Der Seenotretter Claus-Peter Reisch über heikle Momente: Keine Entscheidung treffen ist kein guter Weg

Als Handelsvertreter für Heizungs- und Sanitärbedarf stattete er Großküchen aus, als Schiffskapitän der »Lifeline« rettete er Hunderten das Leben: Ein Gespräch mit Claus-Peter Reisch über seinen Konflikt mit libyschen Küstenwächtern, einen dreiminütigen Gerichtstermin auf Malta und die wesentliche Eigenschaft eines guten Verkäufers. Fotos: Gerald von Foris

Herr Reisch, Sie liefen vergangenen Sommer mit dem Seenotretter »Eleonore« in einen Hafen auf Sizilien ein, an Bord 104 gerettete Bootsflüchtlinge. Das italienische Innenministerium hatte das Anlegen untersagt und stellte Ihnen später einen Strafbefehl über 300.000 Euro zu, wegen Beihilfe zur illegalen Einwanderung. Müssen Sie zahlen?
Ich hatte gegen den Strafbefehl Einspruch eingelegt, für den 6. Juni 2020 war eine Anhörung auf Sizilien angesetzt. Plötzlich aber wollte der Richter weder mich noch meine Anwälte sehen: Er schrieb, dass der Fall »angesichts der Komplexität der Thematik« so schnell nicht abgehandelt werden könne. Die Vollstreckung des Strafgeldes werde deshalb bis Januar 2021 ausgesetzt – erst dann soll die erste Präsenzverhandlung stattfinden.

Sorgen Sie sich?
Die 104 Bootsflüchtlinge waren damals noch nicht richtig auf der »Eleonore«, als schon eine Mail aus dem italienischen Innenministerium kam, die mir das Einlaufen in italienische Hoheitsgewässer untersagte; würde ich dennoch anlegen, müsse ich mit einer Strafe zwischen 100.000 Euro und 1 Million Euro rechnen. Ich bin also mit den 300.000 Euro noch gut weggekommen.

So kann man es sehen.
Ich nehme den Strafbefehl sehr ernst, hatte nach einem schweren Gewitter aber keine Wahl mehr: Wir fuhren mit 104 Flüchtlingen auf einem kleinen Schiff von fünf mal 20 Metern, alle waren durchnässt und drohten zu unterkühlen. Die Verhältnisse an Bord wurden untragbar, ich musste an Land gehen.

Eine solche Mission ähnelt einem Schachspiel: Jede Aktion erzeugt eine Reaktion, die ich bedenken muss. Was im einen Moment schlüssig klingt, kann mir zwei Züge später auf die Füsse fallen

Sie sind die Anspannung während eines Gerichtsprozesses zumindest gewohnt: Mit dem Schiff »Lifeline« hatten Sie 235 Bootsflüchtlinge vor dem Ertrinken gerettet, wurden dann aber auf Malta angeklagt. Weshalb?
Es ging um eine Strafe von 10.000 Euro wegen angeblich nicht richtiger Registrierung des Schiffes. Ein blödsinniger Vorwurf: Das Schiff war in Holland registriert. Im Januar dieses Jahres wurde ich in zweiter Instanz freigesprochen.

Sie waren nach meinem Wissen bei jedem Gerichtstermin auf Malta präsent.
Ja, zwölf Mal insgesamt, zehn Mal flog ich auf eigene Kosten nach Malta – Montag Hinflug, Dienstag Verhandlung, Mittwoch zurück. Einmal dauerte der Termin nur dreieinhalb Minuten.

Bitte?
Ich ging in den Saal, der Richter sagte »Hello Captain, how are you?« und ich antwortete »Fine, thanks.« Darauf sagte er »Wir vertagen uns«. Er verkündete einen Termin und schloss die Verhandlung.

Sie engagierten sich drei Jahre als Kapitän von Seenotrettern im Mittelmeer. Wie blicken Sie auf diese Zeit?
Es waren drei anstrengende Jahre, in denen wir erst die jeweiligen Schiffe zum Laufen brachten und dann Spendengelder für unsere Missionen sammelten. Die Arbeit an Bord während der Missionen war strapaziös. Wir betrieben zum Beispiel die »Lifeline« mit 18 Menschen Besatzung im Drei-Schicht-Betrieb. Das klingt viel, bedeutete aber trotzdem, dass die meisten jeden Tag nur drei, vier Stunden schliefen. Besonders gut erinnere ich mich an das heftige mediale Nachspiel nach unserer Ankunft in Malta mit 13 Interviews an einem Tag.

Bei eben dieser Mission mussten Sie mit 235 Flüchtlingen an Bord sechs Tage auf dem Meer ausharren, weil Ihnen in Italien und Malta das Einlaufen in einen Hafen verweigert wurde. Eine schwierige Zeit, in der Sie als Kapitän für vieles verantwortlich waren, etwa für die Funktionstüchtigkeit des Schiffes, die Organisation der Crew, die Bergung der Flüchtlinge, die Kommunikation mit dem Festland, das Verhandeln mit den Behörden und der libyschen Polizei. Kann man sich auf eine solche Anforderung vorbereiten?
Nicht im Detail, aber ich spielte immer wieder die möglichen Situationen und ihre Abläufe und Folgen im Kopf durch.

Das heißt?
Für jede mögliche Situation überlegte ich mir vorab mehrere plausible Lösungswege und dachte sie zu Ende. Eine solche Mission ähnelt einem Schachspiel: Jede Aktion erzeugt eine Reaktion, die ich bedenken muss. Was im einen Moment schlüssig klingt, kann mir zwei Züge später auf die Füße fallen.

Der Seenotretter Claus-Peter Reisch, fotografiert von Gerald von Foris
Der Seenotretter Claus-Peter Reisch, fotografiert von Gerald von Foris

Welcher Moment war am folgenreichsten?
Wir hatten in internationalen Gewässern vor Libyen die 235 Flüchtlinge von zwei Schlauchbooten geborgen. Plötzlich tauchte auf unserem Radar ein Schiff der Küstenwache auf.

Libyen bekommt von der EU Geld dafür, dass es Flüchtlinge abfängt und zurück ins Land bringt – wo den Menschen immer wieder Folter oder Erpressung in Lagern drohen.
Ja. Die Beamten machten uns klar, dass sie auf Hoher See mit ihrem Schiff bei uns anlegen wollen um die Menschen zu sich zu holen.

Wäre das so einfach gewesen wie es sich anhört?
Bei solch einer Aktion können Sie beide Schiffe versenken! Ich versuchte über Funk mit den Beamten zu reden. Das war aber kaum möglich, weil die entweder gar nicht antworteten oder auf meine Fragen nicht eingingen. Wir drehten das Schiff den Libyern immer so zu, dass es ihnen unmöglich wurde, bei uns anzulegen. Dann schrien wir einander von Schiff zu Schiff zu, und ich versuchte zu deeskalieren.

Der Erste, der gesprungen war, hing kurzzeitig halb im Wasser und wirkte entsprechend angefressen.

Wie?
Durch Reden, möglichst viel Reden, erst durch Zuruf, dann doch wieder per Funk. Ich sagte ihnen, sie sollten mit ihrem Schlauchboot übersetzen, dann könnten wir uns besser unterhalten. Das ging aber nicht, weil sie es nicht schafften ihr Schlauchboot zu wassern. Schließlich beschloss ich mit Martin, unserem ersten Offizier, dass wir zu den Libyern fahren und einen unbewaffneten Beamten zu uns holen. Martin fuhr rüber. Dort standen entgegen unserer Abmachung acht Mann von der insgesamt 15-köpfigen Besatzung und wollten in unser Schlauchboot springen. Der Erste machte sich schon bereit zum Sprung, hatte aber nicht bedacht, wie unsere Leute trainiert sind: Wenn die sehen, dass einer ins Boot springen will, reißen sie den Rückwärtsgang rein und fahren zurück.

Weshalb?
Wenn Sie sich bei einer Rettung einem Schlauchboot mit Flüchtlingen nähern und sofort zehn Menschen zu Ihnen springen, gefährden Sie sich selbst: Auf diese Weise können Sie gemeinsam das Rettungsboot zum Kentern bringen. Martin und seine Kollegen setzten also intuitiv vor den acht libyschen Beamten zurück und sagten »Freunde, hier springt niemand, sind wir uns einig?« Der Erste, der gesprungen war, hing kurzzeitig halb im Wasser und wirkte entsprechend angefressen. Wir nahmen schließlich ihn und den Kapitän des Schiffs an Bord. Dann folgte eines der wichtigsten Verhandlungsgespräche meines Lebens.

Mit dem Kapitän der libyschen Küstenwache?
Ja. Als klar war, dass die rüberkommen, rief ich in die Kombüse: »Kaffee, Tee, Kekse, alles herrichten.«

Haben Ihre Besucher davon genommen?
Ich bot es ihnen an, aber sie wollten nix.

In einer solch intensiven Situation wirkt das Anbieten von Keksen zumindest ungewöhnlich.
Ich wollte von Beginn an Aggressivität aus dem Gespräch nehmen. Es hilft ja nichts, sich gegenseitig anzubrüllen und zum Schluss zieht einer den Revolver.

Für mich war klar, dass ich ihm meinen Willen aufoktroyieren musste

War das Ihre Befürchtung?
Die wollten längsseits anlegen, damit die 235 Flüchtlinge übersteigen. Aber machen die 235 das so einfach? Nein. Wie bringen nun 15 Libyer 235 Geflüchtete dazu, das Schiff zu wechseln? Sie werden sich Zwangsmaßnahmen einfallen lassen und mit Waffen und Prügeln drohen. Was aber tun sie, wenn sich eine Frau mit kleinem Kind vor ihnen auf den Boden setzt und sagt »Ich gehe nicht?« Sie werden Gewalt anwenden. Und dann dauert es nicht mehr lange und ich habe einen Menschen mit Schussverletzung auf meinem Schiff.

Nun verstehe ich, was Sie mit dem Durchspielen der Situationen andeuteten. Sie befanden sich in dem Moment außerhalb der libyschen Hoheitsgewässer?
Ja, wir befanden uns über 30 Seemeilen vor der Küste, die Hoheitsgewässer enden bei zwölf Meilen. Die Libyer haben dahinter keine Rechte.

War Ihre Mannschaft bei Ankunft der beiden Libyer an Ihrer Seite?
Wir hatten ein Empfangskomitee aufgestellt: Unsere Besatzung stand komplett und demonstrativ vor den Flüchtlingen.

Wie reagierten die Flüchtlinge?
Als ich von der Brücke zum Achterdeck ging, war da ein junger Bangladeshi. Der wollte gar nicht nach Europa, der wollte heim nach Bangladesh: Er hatte in der libyschen Ölindustrie gearbeitet, wurde dann aber nicht mehr bezahlt. Als er nach seinem Geld fragte, sperrten sie ihn ein, schließlich konnte er flüchten. Er fiel vor mir auf die Knie, hielt mich an den Beinen und flehte, ich möge ihn nicht rausgeben, er würde sonst über Bord springen und lieber ertrinken. Ich sagte ihm, dass ich niemanden rausgeben würde.

Der Kapitän der Libyer kam Ihnen nah.
Wir standen »Face to Face«.

Sie begannen mit Smalltalk …
Ohne Erfolg.

… und redeten über das schöne Wetter.
Einen Versuch war es wert. Ich erklärte ihm dann sofort, dass da noch ein drittes Schlauchboot unterwegs sei, das wir auf dem Radar gehabt hatten.

Ja?
Die Flüchtlinge berichteten, dass zu dem Zeitpunkt insgesamt drei Schlauchboote draußen unterwegs gewesen seien. Tatsächlich hatten wir zur Zeit der Bergung der ersten beiden Boote drei Ziele auf dem Radar. Ich sagte dem libyschen Kapitän »Da draußen ist noch ein Schlauchboot mit über 100 Leuten drin. Wollen wir das nicht zusammen suchen?« Lieber nimmt der Libyer die Leute aus dem dritten Boot mit nach Hause, als dass sie elend ersaufen.

Wie reagierte er?
Das hat ihn überhaupt nicht interessiert. Ich wiederholte mich und sagte »Guter Mann, da draußen ist noch ein Schlauchboot unterwegs, dem es sicher nicht gut geht.« Das nervte ihn. Mich nervte es nicht, weil ich wusste, dass ich am Drücker bin. Für mich war klar, dass ich ihm meinen Willen aufoktroyieren musste. Es ging um die Menschen auf meinem Schiff, es gab keine Chance auf einen Kompromiss.

Sie verhinderten demnach, dass das Gespräch auf die 235 kam?
Erst wollte ich Ruhe reinbringen. Deeskalieren. Und dann wollte ich das Gespräch auf etwas anderes bringen, auf das dritte Boot, weil die bereits Geretteten für mich nicht zur Debatte standen. Der mit den nassen Hosenbeinen trat zwar relativ aggressiv auf, ich blendete ihn aber aus, nach dem Motto »Ich rede mit deinem Chef, nicht mit dir.«

Wie wirkte der Chef, der Kapitän des libyschen Schiffes?
Deutlich ruhiger als sein Kollege. Als es nach 20 Minuten nicht weiterging, sagte ich entschieden »Wir sind in internationalen Gewässern, ich gebe die Leute nicht raus.« Ich sagte, dass ich dann entgegen der Genfer Flüchtlingskonvention handeln würde und dass ich dafür in Deutschland möglicherweise ins Gefängnis gehen würde und ob er verstehen könne, dass ich das nicht wolle?

Ich höre mir grundsätzlich die Sichtweisen aller Leute an. Aber es kommt dann ein Punkt, an dem ich entscheiden muss

War das ein entscheidendes Argument?
Das kann ich nicht sagen. An dem Punkt allerdings benutzte er noch einmal sein Funkgerät und zog zähneknirschend ab. Das Schiff der Küstenwache drehte nach Süden, Richtung Tripolis. Wir fuhren los und suchten das dritte Schlauchboot, fanden es aber nicht.

Wie blicken Sie heute auf diese Situation?
Für die Rettung des dritten Schlauchboots war die Episode entscheidend: Die zwei Boote, die wir abgeborgen hatten, waren in keinem guten Zustand – deshalb beeilten wir uns, das dritte zu finden. Wir waren bis auf sechs Meilen an das Boot herangekommen und hätten es innerhalb einer Stunde erreichen können. Dann aber kamen die Libyer. Wäre es wirklich um Humanität gegangen, hätten sie uns stehen lassen können, wären hingefahren, hätten die Leute geborgen und sich dann mit uns beschäftigt. Wo hätte ich mit der 15 km/h schnellen Lifeline hinfahren sollen? Deren Schiff war schneller, sie hätten mich innerhalb weniger Minuten eingeholt.

Wie wurden Sie Kapitän der »Lifeline«?
Ich segle seit ich 14 Jahre bin und besitze seit 20 Jahren ein hochseetaugliches Segelboot. 2015 fuhr ich mit meiner Lebensgefährtin von Sardinien durch die Straße von Messina nach Griechenland. Auf dieser Reise sahen wir in süditalienischen Häfen abgewrackte libysche Fischerboote, mit denen die Menschen zwischen 2013 und 2015 aus Libyen übergesetzt hatten. Darin lagen Kinderspielzeuge, Flipflops, Damenhandtaschen – Dinge, die Flüchtende vergessen oder verloren hatten. Das erschütterte uns. Wir diskutierten viele Stunden darüber und machten uns schlau.

Wie kamen Sie aus dieser Diskussion zu Ihrer ersten Mission auf dem Seenotretter »Sea-Eye«?
Vor zwölf Jahren habe ich meine Firma verkauft und kann mich seither mit Dingen beschäftigen, die mir persönlich wichtig sind. 2016 bewarb ich mich bei den Regensburger Seenotrettern von »Sea-Eye«. Ich wollte eigentlich nur Crewmitglied werden. Dann aber war die Personalsituation so eng, dass man mich bat, das Schiff zu führen. So kam ich im April 2017 zu meiner ersten Mission auf der »Sea-Eye«. Zum Jahreswechsel 2017/2018 dann sollte ein anderes Seenotrettungsschiff, die »Lifeline«, zur Winterwerft ins sizilianische Licata überführt werden. Ich bewarb mich für die Fahrt und sah, dass bei allem Enthusiasmus das Geld der dahinterstehenden Organisation nicht mal für die Reparaturen während der Winterwerft reichte. So wurde ich zum Spendensammler für »Mission Lifeline« und akquirierte mehrere Hunderttausend Euro.

Hatten Sie vor der ersten Mission Skrupel?
Inwiefern?

Sie wurden Schiffsführer bei einer hochpolitischen Mission.
Es ist schon eine Herausforderung. Bis dahin fuhr ich Schiffe bis 16 Meter, Sportboote. Dann stand ich vor diesem Teil: 26,5 Meter Länge, 180 Tonnen. Das ist kein Boot, das ist ein Schiff. Das nötigte mir Respekt ab. Die politische Seite war mir damals noch nicht in ihrem ganzen Umfang bewusst.

Claus-Peter Reisch in Landsberg
»Treffen Sie lieber eine Entscheidung und kehren Sie um, wenn Sie sich als falsch erweist. Das ist besser als keine Entscheidung zu treffen.«

Half Ihnen das Wissen aus der Leitung Ihrer Firma, mit der Sie bis 2008 Sanitär- und Heizungsprodukte vertrieben?
Eine solche Mission muss tatsächlich organisiert werden wie eine Firma. Das Projekt muss funktionieren und gegebenenfalls muss sich einer durchsetzen.

Das bedeutet?
Ich höre mir grundsätzlich die Sichtweisen aller Leute an. Aber es kommt dann ein Punkt, an dem muss ich entscheiden, und diese Entscheidung muss ich vollumfänglich vertreten.

Was genau verkauften Sie mit Ihrer Firma?
Wenn Sie an einer Raststätte in eine unbewachte Toilettenanlage gehen und die Edelstahl-WCs sehen: Die habe ich mit meinen fünf Mitarbeitern verkauft. Oder Großküchenentwässerungstechnik für Küchen, aus denen täglich bis zu 9000 Essen ausgegeben werden. Oder die Fußbodenheizung in der Rad- und Schwimmsporthalle Berlin. Waschraumausstattungen. Solche Dinge.

Wenn ich von einem Produkt nicht überzeugt bin und es trotzdem verkaufe, bin ich ein schlechter Verkäufer.

Sie sind heute 58 Jahre alt und haben vor zwölf Jahren verkauft. Sie kommen über die Runden?
Ich halte meine verdienten und investierten Ressourcen zusammen, habe keine Kinder und lebe nicht auf großem Fuß. Ich weiß, dass mein letztes Hemd keine Taschen hat und habe entsprechend vorgesorgt.

Im Grunde leben Sie einen Traum, oder? Sie haben ein Geschäft aufgebaut und dann verkauft, um ein gutes Leben zu führen.
Ich hatte viel Glück und gebe nun etwas davon weiter, indem ich mich neben der Segelei mit Gemeinwohldingen beschäftige. Unter anderem bin ich Genosse im »Bellevue di Monaco«, einem Wohn- und Kulturzentrum für Geflüchtete in München. Dort sammle ich gerade Geld für einen Dachsportplatz.

Sie sind gelernter Kraftfahrzeugmechaniker und übernahmen nach einer kaufmännischen Ausbildung die Anstellung Ihres Vaters. Später machten Sie sich dann mit einer Handelsvertretung selbtständig. Sind Sie ein guter Verkäufer?
Ich glaube schon, ja.

Was zeichnet einen guten Verkäufer aus?
Überzeugungskraft. Wenn ich von einem Produkt nicht überzeugt war, verkaufte ich es nicht. Wenn ich von einem Produkt nicht überzeugt bin und es trotzdem verkaufe, bin ich ein schlechter Verkäufer. Ich kommunizierte offen, wenn ich der Meinung war, dass ein Produkt nicht marktreif war. Das trug mir nicht immer Freunde ein.

Welches Wissen war Ihnen auf der »Lifeline« besonders dienlich?
Ich wusste durch die Arbeit in der Firma und im Vertrieb, wie ich Sachverhalte klar rüberbringe, wie ich Handlungen anleite. Ich war trainiert in schneller Entscheidungsfindung. Und ich wusste mich durchzusetzen – wenn Sie als Unternehmer nicht durchsetzungsfähig sind, machen Sie Ihre Arbeit nicht lange.

Erst wenn Schwung in den Tag kommt, entsteht die Energie, mit der ich auch Liegengebliebenes angehen kann.

Wie entwickelten Sie die Sicherheit, die es für das Fällen von Entscheidungen braucht?
Sie entsteht durch Lebenserfahrung und aus der Gewissheit, dass Entscheidungen die Arbeit und das Leben erleichtern.

Wie meinen Sie das?
Keine Entscheidung treffen ist kein guter Weg. Treffen Sie lieber eine Entscheidung und kehren Sie um, wenn sie sich als falsch erweist. Das ist besser als keine Entscheidung zu treffen.

Verschafft Ihnen Arbeit unter Hochspannung Zufriedenheit?
Ja, ich bin immer dann gut, wenn Druck da ist. Wenn in meiner Firma das Telefon von morgens 7 Uhr bis abends 18 Uhr klingelte, ging der Tag schnell rum und ich hatte was bewegt. Es gab aber auch Phasen, in denen nix los war, in denen ich mich zwingen musste, die Arbeit auf dem Schreibtisch wegzukriegen. Sie lag einfach da und interessierte mich nicht. (Überlegt) Sobald es dahinplätschert, werde ich faul.

Das Gefühl kenne ich.
Nicht wahr? Erst wenn Schwung in den Tag kommt, entsteht die Energie, mit der ich auch Liegengebliebenes angehen kann.

War Ihre Arbeit im Vertrieb sinnvoll?
Was ist sinnvolle Arbeit? Am besten ist es vermutlich, ich verdiene mit Spaß und Freude viel Geld. Meinen Sie das?

Ging Ihnen das mit Ihrer Firma so?
Ja. Viele Jahre war das so. Ein gewisser Erfolg bringt ja auch eine gewisse Erotik mit sich. Wenn am Monatsende die Provisionsabrechnungen kommen und Sie sehen, dass Sie den Umsatz des Vormonats toppen – das hat was. Ich war ein leistungsorientierter Typ.

Vermissen Sie die Zeit mit Ihrer Firma?
Nicht wirklich. Das war ein superguter Lebensabschnitt. Aber der ist jetzt rum. Der Erfolg des Handelsvertreters ist auch sein Schafott.

Was heißt das?
Wie kommen Sie für gewöhnlich zu einer Handelsvertretung? Es gibt zwei Möglichkeiten. Erstens: Ihr Vorgänger geht in Rente. Zweitens: Die Firma ist nicht zufrieden mit ihrem Vorgänger. In beiden Fällen müssen Sie als Neuling viel Anschubarbeit leisten. Wenn Ihr Vorgänger zum Beispiel in Rente geht, hat er schon zwei Jahre vorher alles ausklingen lassen.

Das bedeutet?
Wenn ich heute in ein Ingenieurbüro gehe und berate, kann es sein, dass das Produkt, über das wir sprechen, erst in einem Jahr in einer Ausschreibung drin ist und vielleicht erst in zwei Jahren zum Einbau kommt. Wenn ich nun sehe, dass ich in zwei Jahren in Rente gehe und von dem erwartbaren Umsatz vermutlich nichts mehr sehe, lasse ich es schleifen.

Es sind in dieser Form des Vertriebs also keine schnellen Umsätze möglich.
Das Geschäft hat einen irrsinnigen Vorlauf. Wenn ich dennoch anschiebe und Gas gebe und Umsätze mache, entsteht ein anderes Problem: Irgendwann sieht der Verkaufsleiter der Firma, die Sie vertreten, dass er selbst nur einen Audi A4 fährt, während Sie einen 320er Mercedes fahren.

Es entsteht Neid.
Und das nicht selten. Der Verkaufsleiter schaut auf Ihre Provisionsabrechnung und erkennt, dass seine Firma jeden Monat zwischen 30.000 Euro und 50.000 Euro an Sie überweist. Dann denkt er »Und einen fetten Karren fährt er auch noch«. Das ist der Punkt, an dem die Gier das Hirn frisst. Der Verkaufsleiter spart sich das viele Geld für seinen Handelsvertreter und stellt sich einen oder zwei Verkäufer ein. Das ist mir mehrmals passiert. Und zwei Jahre später klingelt bei mir das Telefon und eine Stimme fragt, ob wir nicht doch wieder miteinander arbeiten könnten. Und irgendwann ist man es leid, dass man unten anschiebt und immer der Stecker gezogen wird, sobald der Verkauf floriert.

Wie geht es bei Ihnen weiter?
Ich setze im Herbst meine Vortragsreihe fort und muss natürlich die rechtlichen Auseinandersetzungen in Italien beenden. Ich werde mich weiter für das »Bellevue di Monaco« engagieren und für Fairafric einsetzen.

Was ist Fairafric?
Fairafric produziert Schokolade in Ghana, von der Bohne bis zur verpackten Tafel. Gerade entsteht in Ghana eine neue Schokoladenfabrik, die 85 Arbeitsplätze schafft, vom Maschinenführer bis zur Designerin. Die gesamte Wertschöpfungskette verbleibt bei diesem Projekt im Land und gibt den Menschen eine Perspektive. Das ist aus meiner Sicht einer der vielversprechendsten Wege, Fluchtursachen zu bekämpfen.

Fotos: Gerald von Foris

Claus-Peter Reischs Buch »Das Meer der Tränen« erschien 2019 bei riva.