Wer Gewohnheiten pflegt, dem bleibt mehr Zeit zum Denken: Was ich mit James Clear gelernt habe

Auf dieser Webseite frage ich die Erfahrensten und die Besten eines Faches nach ihrem Wissen und ihrer Weisheit. Aber auch woanders finden sich hilfreiche Lehren über gelingende Arbeit. Hier ein Exkurs zu James Clear und seinem Rezept für all jene, die ein großes Ziel erreichen wollen: Es geht nur Schritt für Schritt, mit dem Etablieren von Gewohnheiten.

Gestern war ein großer Tag, ich habe meine Steuerunterlagen für das vergangene Jahr fertig zusammengestellt. Auch dieses Jahr hat es wieder furchtbar lange gedauert, drei Monate stand „Steuer“ in meiner To-Do-Liste, am Ende garniert von mehreren Ausrufezeichen. Und jedes Jahr, wenn dann alles geordnet vor mir liegt, schwöre ich: Nächstes Jahr, da machen wir das anders.


Aber wie?


Vor einer Weile stolperte ich im Internet über den Unternehmer und Autor James Clear, der sich ausführlich mit unseren Gewohnheiten beschäftigt. Clear schreibt im Grunde immer nur diesen einen Satz: Große Aufgaben kriegt man hin, indem man Gewohnheiten in seinen Alltag baut.

Was meint er damit?

Laotse hat mal geschrieben: „Auch der längste Marsch beginnt mit dem ersten Schritt.“ Dann kommt der zweite, dann der dritte undsofort. Die amerikanische Autorin Gretchen Rubin erfuhr die Logik hinter diesem Satz während der Recherche zu ihrem Buch „Das Happiness Projekt“. Dauernd stand auf ihrer To Do-Liste der Hinweis, dass sie noch die Bilder ihrer Familie auf dem Computer sortieren müsse. Ein Unterfangen, das sich seinen Charme mit dem Erstellen der Steuererklärung teilt. Dann aber hatte Rubin eine Idee. Sie zerlegte das große Ziel in kleine Teile. Sie schrieb sich einen Stundenplan und nahm sich vor, jeden Tag, sobald die Kinder aus dem Haus sind, 15 Minuten lang am Computer Fotos zu ordnen. 15 Minuten, nicht mehr und nicht weniger.


Der Trick verfing.


Über die Tage hinweg kam Rubin tüchtig voran und immer wieder saß sie viel länger als erwartet vor dem Bildschirm. Das große Ziel namens geordnetes Familienbilderalbum rückte wie von selbst in Reichweite. Es materialisierte sich Tag um Tag, mindestens 15 Minuten lang. Sie hatte eine neue Gewohnheit in ihren Alltag gebaut.
Bringen wir es gleich auf einen Punkt: Wer es schafft, das Prinzip der Gewohnheit zu nutzen, kriegt auch große Sachen gebacken. Der hauptberufliche Denker Aristoteles hat das im Kern bestätigt: „Wir sind, was wir wiederholt tun. Exzellenz ist somit keine Aktivität, sondern eine Gewohnheit.“
In diesem Sinne versuche ich mich an einer siebenpunktigen Anleitung dazu, wie man Gewohnheiten ins Leben kriegt. Für die Eiligen: Das entscheidende steht in den Punkten drei und vier.

1. Wirklich wollen, wirklich müssen
Nur wenn wir Ziele haben, die uns wirklich wichtig sind, finden wir auch Gefallen am Weg dorthin. Wer Spanisch lernen möchte, sollte nicht nur Freude an dem Gedanken haben, in Madrid den Weg zum Prado erfragen zu können. Auch der Gedanke an das tägliche Lernen und Vorankommen sollte ein gutes Gefühl bereiten. Psychologen sprechen von der nötigen „intrinsischen Motivation“, die wir benötigen, um Dinge anzugehen: Es muss ein Wollen in uns sein. Ist das vorhanden, können wir uns guten Mutes ans Trainieren der neuen Gewohnheit machen.

2. Ziel umreissen
Wichtig ist es, aus der inneren Motivation eine klare Handlungsanweisung abzuleiten. „Dieses Jahr möchte ich endlich mehr Sport machen“ ist leider ein schlechter Satz. Viel zu schwammig. Ziele müssen realistisch sein, sie müssen sich in den Alltag verfrachten lassen. Ein Satz wie der folgende ist da schon brauchbarer: „Vom nächsten Monat an möchte ich zweimal in der Woche jeweils zehn Minuten joggen.“ Klingt beim ersten Lesen ein bisschen komisch, nicht wahr? Nicht ganz so sexy, nicht ganz so groß. Das muss aber so sein, wie wir gleich feststellen werden.

3. Kleine Schritte gehen
Professor BJ Fogg von der Universität Stanford hatte keine besondere Lust, seine Zähne mit Zahnseide zu reinigen. Also überlegte er sich einen Kniff: Er nahm sich vor, jeden Tag einen Zahn mit Seide zu bearbeiten, gleich nach dem Zähneputzen. Ähnlich wie Gretchen Rubin nahm er sich nur wenig vor, ein fast lächerliches Ziel – ein Zahn, was ist das schon? Aber das ist der Kern der ganzen Kunst: klein anfangen. Wer sagt denn, dass man mit fünfzig Liegestützen starten muss, um stark zu werden? Wie wäre es stattdessen mit drei? Am Anfang zählt nicht die Menge, am Anfang zählt: der Anfang. Es zählt die Tatsache, dass wir überhaupt beginnen. Der Organisationspsychologe Karl Weick weist darauf hin, dass wir nur durchs Anfangen erkennen können, zu was wir in der Lage sind. Nur wer anfängt, erkennt die wahren Hürden – und seine wahren Ressourcen. Darauf kommt es an.

4. Zeit finden
Eine neue Gewohnheit gedeiht besonders gut im Schatten einer alten Gewohnheit. Zumindest haben das Wissenschaftler herausgefunden. Wer aus dem Wohnungsputz nicht immer einen großen Zinober machen möchte, könnte versuchen, jeden Tag gleich nach der Rückkehr in die Wohnung einen Teil der Arbeit in Angriff zu nehmen. Nur 15 Minuten lang. Jacke und Schuhe runter, Musik an, Putzeimer raus, los gehts. Die Badewanne dürfte in der Zeit zu schaffen sein. Aber auch die Ankunft im Büro ließe sich mit einer neuen Gewohnheit koppeln. Computer an, ein Glas Wasser holen, Mailprogramm NICHT öffnen und stattdessen dreißig Minuten lang arbeiten. Ideen notieren, Exposés schreiben, ein Projekt vorbereiten, sich in eine Arbeit einlesen. Klingt nach einer guten Gewohnheit, die sich an die Ankunft im Büro knüpfen lässt. BJ Fogg hat die Sache mit der Zahnseide übrigens direkt ans Zähneputzen gehängt.

5. Nur einmal aussetzen
Wer sein Leben mit einer guten Gewohnheit verändern will, wer täglich an einer Sache arbeitet, um ein großes Ziel zu erreichen, der wird automatisch zum Kalenderfreak. Jeden Tag ein bisschen, auf diese Weise kommt viel zusammen. Allerdings sollte man nicht zum Sklaven seiner Gewohnheit werden. Gerade in der Anfangsphase ist es okay, mal einen Tag auszusetzen. James Clear zum Beispiel findet nichts dabei. Allerdings: Von Faulheit hält er auch nichts. „Don‘t miss twice“ lautet das Credo, das er in seinem Blog notiert hat. Bitte nicht zwei Tage hintereinander nichts machen. Und wenn es doch passiert, muss es Herr Clear nicht wissen.

6. Den Wert von Gewohnheiten schätzen lernen
Gewohnheiten schaffen Freiheit. Es ist mühsam, alle drei Wochen den Großkampftag im Wäschekeller zu erledigen. Oder den Großputz, oder den Großeinkauf. Viel klüger ist es, den immer wiederkehrenden Aufträgen und Projekten Plätze im Leben und im Alltag zuzuweisen. Das Leben fällt einem leichter, wenn man sich einen Stundenplan zulegt. Wer zum Beispiel weiß, wann er im Wohnzimmer saugt und wann er die Fenster wischt, der braucht nicht nachsehen, ob es dreckig ist, der braucht nicht immer neu nachdenken, wann er sich Platz für diese Arbeit schafft. Zähneputzen ist da ein gutes Beispiel: Wir denken nicht jeden Tag nach, wann wir es tun. Wir tun es einfach. Morgens und abends. Diese simple Gewissheit entlastet unseren Kopf enorm. Wer Gewohnheiten pflegt, dem bleibt mehr Zeit zum Denken.

7. Geduldig bleiben
Wer heute eine mit einem kleinen Schritt eine neue Gewohnheit in seinem Leben etabliert, der betritt Neuland. Es kann viel geschehen. Das kann aber auch eine Weile dauern. Erfolge sind manchmal – darauf weist auch der Psychologe Karl Weick hin – erst nach gewisser Zeit zu sehen. Ein langer Marsch läuft sich eben nicht in fünf Tagen. Er kann fünfzig Tage dauern. Oder, ach, vielleicht noch länger. Aber das ist okay. Schließlich ist der Weg das Ziel. Das ist ein ziemlich altes Sprichwort, schon klar. Aber wer sich mit Gewohnheiten beschäftigt, der weiß die Botschaft dahinter immer wieder neu zu schätzen.