Trauerrednerin Louise Brown über Nachrufe: »Ich suche nach der Melodie eines Lebens«

Wenn ein Mensch stirbt, erinnern sich die Angehörigen vor allem an Alltäglichkeiten: Ein Gespräch mit Trauerrednerin Louise Brown über ihr Buch »Was bleibt, wenn wir sterben«, den ersten Anruf bei einer Trauernden und die Wärme, die entsteht, wenn die Geschichten eines Lebens zusammenkommen. Fotos: Gerald von Foris

Frau Brown, wie viele Trauerreden halten Sie?
Vor der Geburt meiner Tochter hatte ich fünf Jahre lang eine feste Stelle in einem Bestattungshaus. Dort hielt ich etwa zwei Trauerreden die Woche. Seit gut einem Jahr arbeite ich frei für verschiedene Anbieter, unter anderem das Lotsenhaus in Hamburg-Ottensen, einen gemeinnützigen Bestatter, und komme neben meiner journalistischen Arbeit auf bis zu drei Reden im Monat.

Führen Sie mich durch Ihre Arbeit: Wie entsteht eine Trauerrede, von der Anfrage bis zum Vortrag?
Der Bestatter schickt mir das Datenblatt mit allen wichtigen Informationen wie Geburts- und Sterbedatum oder den Kontaktdaten der Angehörigen. Schon mein erster Anruf bewirkt etwas, weil ich zeige: Ich bin jetzt da, ich habe Zeit, ich höre zu. Wir verabreden uns zum Trauergespräch, meist bei den Angehörigen, mitunter aber auch in der Wohnung oder im leeren Haus der Verstorbenen.

Wie bekunden Sie Ihr Beileid? Ich mag das Englische »I am sorry for your loss«, das Sie auch in Ihrem Buch zitieren. Es klingt weniger förmlich als das »herzliche Beileid«.
Ich sage zum Beispiel »Es tut mir leid, dass der Mensch gestorben ist.« Gut ist, wenn ich den Schmerz höre und anerkenne. Im privaten Umfeld kann ich sagen »Das ist echt beschissen.« Wenn ich unsicher bin, kann ich auch sagen »Ich weiss nicht, was ich sagen soll.« Oder, wenn ich selbst noch keinen Trauerfall erlebt habe: »Ich fühle mit dir, auch wenn ich nicht weiß, wie es sich anfühlt.« Oder, ganz einfach: Ich nehme den Menschen in den Arm.

Wie beginnen Sie das Trauergespräch?
Mit dem Schwierigsten: dem Tod. Die Angehörigen haben die letzten Stunden eines Menschen meist sehr präsent vor Augen und sind oft erleichtert, davon erzählen zu können. Natürlich wird dabei auch geweint. Ich bin dann einfach da und höre den Schmerz. Das ist in dem Moment meine Aufgabe.

»Wenn die einzelnen Geschichten zusammenkommen, entsteht eine ganz eigene Wärme im Raum, das ist unheimlich schön«

Fällt es den Menschen leicht, Vertrauen zu fassen?
Gerade zu Beginn, wenn ich in der Tür stehe, spüre ich manchmal Misstrauen oder Unsicherheit, die sich immer wieder in dem Satz »Ich weiß gar nicht, was ich erzählen soll« ausdrückt. Je mehr wir dann aber reden, desto mehr schwindet die Anspannung und wir gehen gedanklich durch das Leben der Verstorbenen, was oft unheimlich schön ist – vor allem dann, wenn mir mehrere Angehörige gegenübersitzen. Erst neulich hatte ich ein Gespräch mit drei Angehörigen eines ehrenamtlichen Boxtrainers: Da waren die Ehefrau, die Stieftochter und ein geflüchteter Mann, der vom Verstorbenen sehr viel Unterstützung beim Boxen und auch sonst im Leben hatte. Natürlich kannten sich alle drei, aber in dieser Situation tauschten sie Erfahrungen und Momente aus, die ihnen jeweils so nicht bewusst waren.

Sie schürfen gemeinsam Erinnerungen.
Ja, und manchmal sitze ich dann weiter auf meinem Platz, trete aber innerlich einen Schritt zurück und lasse die Menschen sprechen. Ein Gespräch dauert meist zwei Stunden, mit den vier Söhnen einer verstorbenen Dame habe ich aber auch schon vier Stunden verbracht, alle hatten viel zu sagen. Wenn die einzelnen Geschichten zusammenkommen, entsteht eine ganz eigene Wärme im Raum, das ist unheimlich schön. Zuhause lasse ich alles sacken und arbeite den roten Faden heraus. Ich suche nach dem Klang, nach der Melodie eines Lebens.

Das ist schön formuliert.
Sobald ich den Anfang habe, rolle ich den Faden aus und knüpfe die verschiedenen Perspektiven, Erinnerungen und Fakten daran, so dass eine Geschichte entsteht. Zwischen Gespräch und Beerdigung rufe ich nochmal an, vergewissere mich zu bestimmten Informationen und zeige wieder: Hier bin ich. Bei der Trauerfeier stelle ich mich bei Beginn ans Pult, die erste Musik wird gespielt und die Abschiedsfeier beginnt.

Die Trauerrednerin und Journalistin Louise Brown mit ihrem Labrador Mogli, fotografiert von Gerald von Foris

Leiten Sie die Feier?
Ja. Ich begleite die Trauernden bis zum Grab, sage dort noch wenige Worte, um alle zu versammeln. Dann treten die Bestatterin und ich einen Schritt zurück und die Angehörigen gehen ans Grab und verabschieden sich.

Wächst der Bedarf an Trauerreden?
Laut den Bestatterinnen und Bestattern, mit denen ich spreche oder arbeite: Ja. Überhaupt wächst die Zahl an nichtreligiösen Trauerfeiern. Ich habe viele Menschen kennengelernt, die ihren Glauben haben, mit der Institution Kirche aber wenig anfangen können. So entstehen im Abschied Mischformen und ich rede häufig in Kapellen, anstelle eines Pastors.

Sie deuteten an, dass schon das erste Gespräch viel bewirke. Was passiert da?
Nehmen wir an, ich wähle die Nummer einer Witwe, die gerade im Supermarkt steht. Ich melde mich mit den Worten »Guten Tag, ich bin die Trauerrednerin«. Manchmal folgt dann ein Stocken am anderen Ende der Leitung, weil – das kenne ich auch aus meiner Trauererfahrung – in dieser ersten Zeit alles unwirklich ist. Gerade beim Einkaufen lässt sich vielleicht noch ausblenden, dass der Mann gestorben ist, das Leben fühlt sich phasenweise normal an. Dann kommt dieser Anruf von mir, der Trauerrednerin. Einen Moment lang spüre ich Ablehnung: Die Witwe mag eigentlich kein Gespräch führen, weil sie nicht will, dass dieser Mensch gestorben ist.

Ein schwieriger Moment.
Ich erlebe allerdings auch regelmäßig, dass Menschen sagen: »Ich freue mich richtig auf unser Gespräch.« Was ich unfassbar mutig und offen finde.

»Von diesen Menschen ist so viel geblieben, weil sie präsent waren, weil sie ihren Kindern Essen kochten, an das diese sich noch immer erinnern. Oder weil sie ihren Kindern Spiele erfanden, die diese heute mit ihren eigenen Kindern spielen. Vom Alltäglichen bleibt viel in Erinnerung.«

Sind Sie Teil eines Vergewisserungsprozesses?
Eher Teil eines Trauerprozesses, würde ich sagen – zumindest in dieser ersten Zeit, in dieser Phase des Schocks und der Starre, des Nicht-Wahrhaben-Wollens, des Schmerzes, weil ein Mensch vielleicht erlebt hat, wie der Partner sich im Sterben quälte. In dieser Phase begleite ich die Angehörigen, halte die Trauerrede und begleite die Trauerfeier. Sie markieret den Beginn einer neuen Zeit, ohne den verstorbenen Menschen. Und deswegen, glaube ich, ist es auch so wichtig, einen schönen Abschied zu schaffen. Er kann den Hinterbliebenen ein klein wenig helfen auf ihrem Weg.

Sie knüpfen Erinnerungen zu der Geschichte eines Menschen. Was glauben Sie: Hilft den Angehörigen diese Geschichte, um loslassen zu können?
Nein, das würde ich nicht sagen. Der Tod und der Verlust sind so präsent, wenn ein Mensch gestorben ist. Aber durch das Hervorholen von Erinnerungen und Details aus einem Leben rückt der Schmerz des Verlustes ein wenig nach hinten.

Das heißt, wenn wir über die Wirkung Ihrer Arbeit sprechen, ist die eigentliche Rede nur ein Aspekt?
Der Effekt des Erzählens im Trauergespräch ist vielleicht mindestens so wichtig wie die Rede selbst. Menschen, die behaupten, sie hätten nichts zum Verstorbenen zu erzählen, schauen nach zwei Stunden mit Staunen auf meine vielen beschriebenen Seiten.

In Ihrem Buch beschreiben Sie sehr schön, wie gerade das Erinnern an Alltäglichkeiten die Trauerfeier bereichert.
Kürzlich hielt ich die Rede für eine verstorbene Frau, deren zwei Enkelsöhne im Streit leben. Die Frau schlug als Beifahrerin im Mercedes ihres Mannes immer aufs Armaturenbrett, wenn der Mann falsch fuhr. Als ich diese Szene vortrug, saß auf jeder Seite der Kapelle ein Enkel. Beide mussten gleichzeitig schmunzeln. Eine schöne Szene, weil beide in Erinnerung kurz vereint waren.

Sie schreiben, dass wir »in unserer Alltäglichkeit einzigartig und wertvoll sind«.
Ich habe viele Reden für Frauen gehalten, die für ihre Kinder da waren, die ihren Beruf aufgaben, um sich um ihre Familien zu kümmern. Von diesen Menschen ist so viel geblieben, weil sie präsent waren, weil sie ihren Kindern Essen kochten, an das diese sich noch immer erinnern. Oder weil sie ihren Kindern Spiele erfanden, die diese heute mit ihren eigenen Kindern spielen. Vom Alltäglichen bleibt viel in Erinnerung.

»Die Karriereschritte der Eltern bleiben den Angehörigen nur selten in Erinnerung. Ich erlebe häufig, dass Kinder nicht wissen, was genau ihr Vater, wenn er zum Beispiel Arzt war, im Krankenhaus machte.«

Sie haben Ihre eigenen Eltern vor mehr als zehn Jahren kurz nacheinander verloren. Wie erinnern Sie sich an deren Trauerfeiern?
Die Trauergottesdienste meiner Eltern waren beschwerliche, bleierne Angelegenheiten. Mein Vater war gebürtiger Brite und trug auch nach unserem Umzug nach Norddeutschland gerne Anzug und Krawatte. Gutes Aussehen war ihm wichtig, und auch sein Rasen war ihm wichtig! Also schob er seinen Handrasenmäher immer wieder in Anzug und Krawatte übers Grün. Die Trauerfeier wäre leichter gewesen, wenn wir davon erzählt hätten. Das Leben ist schräg und komisch, das sollte sich auch im Abschied spiegeln.

Nun gibt es in der Rückschau nicht immer nur diese eine, milde Sicht auf einen Menschen. Wie gehen Sie in Ihrer Arbeit damit um?
Ich habe einige Trauerfeiern für Menschen gehalten, die zu Lebzeiten alkoholabhängig waren. Die Krankheit sorgte in den Familien, gerade bei den Kindern, für Schmerz. Im Gespräch offenbaren sich die widersprüchlichen Gefühle und ich frage dann, ob ich die Alkoholkrankheit benennen soll. Die Kinder wünschen es sich meist, wenn auch dann in wenigen oder verschlüsselten Worten. Und auch wenn sich zwei Töchter unterschiedlich an ihren Vater erinnern, nehme ich die verschiedenen Erinnerungen auf – etwa von dem gutmütigen Vater auf dem Jahrmarkt, aber auch von dem Mann, der oft wütend sein konnte.

Legen Sie die Rede den Angehörigen vor?
Nein, grundsätzlich nicht. Zum einen wird die Rede geschrieben, um gesprochen zu werden. Sie wirkt anders, wenn man sie nur liest. Hinterher gebe ich den Familien das Manuskript. Für die Angehörigen kann es schön sein, darin zu blättern – ein Leben, zusammengefasst auf 15 Seiten, wie in einem Fotoalbum.

»Ich erlebe den Alltag inzwischen in anderer Intensität. Was wir haben, ist nicht für immer«, sagt Louise Brown.

Auf alten Grabsteinen lese ich neben den Namen häufig die Berufe der Verstorbenen. Wie erleben Sie die Bedeutung von Arbeit in Ihrer Arbeit?
In der Landwirtschaft oder im Handwerk gibt es eine hohe Identifikation mit dem Beruf, die sich hin und wieder auf die Kinder überträgt. Ein Verstorbener zum Beispiel war leidenschaftlicher Tischler, samt Werkstatt im Haus. Besonders emotional, erzählte mir sein Sohn, war er nicht. Aber als er ein Kind war, schreinerten sie gern zusammen. Erst vor Kurzem schrieb mir der Sohn eine Mail und bedankte sich für meine Rede und erzählte mir, dass er heute das Werkzeug seines Vaters weiterverwende.

Wissen die Kinder viel über die Arbeit der Eltern?
Die Karriereschritte der Eltern bleiben den Angehörigen nur selten in Erinnerung. Ich erlebe häufig, dass Kinder nicht wissen, was genau ihr Vater, wenn er zum Beispiel Arzt war, im Krankenhaus machte. Oder wie genau der Alltag des Vaters als Versicherungsvertreter aussah.

Es ist interessant zu sehen, wie wichtig einem selbst die eigene Arbeit häufig vorkommt – und wie nebensächlich sie den Familienmitgliedern zwangsläufig sein muss.
Es geht mir ja genauso. Ich wollte als Journalistin unbedingt immer in der ZEIT schreiben und war ganz stolz, als ich meinen ersten Artikel untergebracht hatte. Mein Sohn aber wird sich vermutlich dafür wenig interessieren. Ihm wird es sicher nicht so wichtig sein, ob ich noch fünf Bücher über Trauer schreibe. Für ihn ist wichtig, ob ich es schaffe, meinen Computer auszuschalten, um für ihn präsent zu sein. Damit will ich nicht sagen, dass Arbeit unwichtig ist. Sie zeichnet uns Menschen aus und erfüllt uns. Aber bei unseren Angehörigen bleibt weniger davon hängen, als wir glauben.

»Ich bin aufmerksamer und präsenter geworden. Ich bin dankbarer für das, was ich habe.«

Wenn Sie auf die vergangenen Jahre zurückblicken: Hat sich durch Ihre Erfahrungen als Trauerrednerin Ihr eigenes Leben verändert?
Ich erlebe den Alltag inzwischen in anderer Intensität. Was wir haben, ist nicht für immer. Deshalb genieße ich es so, wenn meine Kinder da sind, dass wir spielen und reden können. Ich finde, der Alltag wird sehr unterschätzt. Ich bin Alltagsfan geworden.

Sie deuteten eben an, wie sehr sich die Menschen darüber wundern, dass es zu den Verstorbenen so viel zu sagen gibt. Ich überlege, ob es zu Lebzeiten genug Punkte gibt, an denen wir auf das Geschehene zurückschauen?
Die ältere Generation, das sehe ich immer wieder, hat nach meiner Erfahrung viel mehr gefeiert. Da wurde zur Silberhochzeit geladen und in einer einführenden Rede Bilanz gezogen – zumindest haben mir Kinder schon mehrmals eine solche Rede als Orientierung zum Trauergespräch mitgebracht. Im Buch beschreibe ich auch Walther, einen Verstorbenen, der gemeinsam mit seiner Frau Tagebuch zum Aufwachsen der Kinder führte. Die zehren heute davon, selbst wenn nur drin steht, dass das eine Kind Pfannkuchen mochte und das andere nicht. Inzwischen habe ich selbst angefangen, meinen Kindern aus dem Alltag Mails zu schreiben, an eine Adresse, die ich ihnen eingerichtet habe. Vielleicht freuen sie sich später darüber.

Sie schildern immer wieder Paare, für die sie nur kurze Zeit nacheinander die Trauerrede halten …
Ja, manche sterben innerhalb von Tagen nacheinander. Ich habe gehört, dass es so etwas gibt wie ein »Broken Heart Syndrom«.

Genau, darunter kenne ich das Phänomen auch. Die Trauer schwächt das Immunsystem der Angehörigen, sodass Krankheitsspiralen in Gang kommen.
Und ich kann es aus meiner eigenen Erfahrung mit Verlust bestätigen. Ungefähr ein Jahr nach dem Tod meiner Eltern haben wir ihr Haus ausgeräumt. Das war für mich wie ein dritter Tod, unfassbar emotional. Danach hatte ich eine Lungenentzündung. Trauer, glaube ich, belastet nicht nur seelisch, sondern auch körperlich. Viele Trauernde erzählen mir, wie schlecht sie schlafen, wie vergesslich sie werden. Ich selbst wuchs ja in Großbritannien auf, ehe wir nach Deutschland zogen. In der Phase nach dem Tod meiner Eltern hatte ich Schwierigkeiten, sauber Deutsch zu sprechen. Als dann meine Mutter starb, war mein Vater bereits gesundheitlich angeschlagen. Er starb schließlich an den Folgen einer Entzündung am Bein. Vielleicht wäre das nicht geschehen, wenn meine Mutter noch gelebt hätte.

Hm.
Zugleich, das habe ich schon angedeutet, scheinen Sterbende mehr mitbestimmen zu können: Ich habe die Rede für einen Mann gehalten, der »wartet«, bis seine Frau von einer Reise zurückkehrt – und erst in ihrer Gegenwart stirbt. Mein Vater sagte, als unsere Mutter im Sterben lag: »Wenn sie geht, dann gehe ich auch.« Für ihn war es ein tröstlicher Gedanke, zu seiner Frau zu kommen.

»Inzwischen habe ich selbst angefangen, meinen Kindern aus dem Alltag Mails zu schreiben, an eine Adresse, die ich ihnen eingerichtet habe. Vielleicht freuen sie sich später darüber.«

Liegt der Ursprung Ihres Wunsches, Trauerrednerin zu werden, im Tod Ihrer Eltern?
Nein, nicht direkt im Tod meiner Eltern. Ich glaube, er liegt in der Erkenntnis dessen, was die Trauer mit mir gemacht hat. In meinem Unverständnis. Meine ersten Schritte als Trauerrednerin machte ich, weil ich verstehen wollte, was da mit mir passiert war – und was ich machen kann, dass es anderen anders geht.

Wie fanden Sie zur Trauerrede?
Wir hatten das Haus meiner Eltern geräumt, ich war wieder in Hamburg und ging mit meinem zweijährigen Sohn hinunter zur Elbe. Dort kamen wir am Lotsenhaus vorbei, einem gemeinnützigen Bestatter. Ich sah das Schild »Kostenlose Trauerbegleitung«. Als stolze Journalistin dachte ich, ich wüsste doch alles über das Leben und ignorierte das Angebot eine Weile. Als die Trauer mich immer mehr überwältigte, rief ich doch an, saß meiner heutigen Chefin gegenüber, und alles kam raus. Ich schüttete ihr einen Eimer mit all meiner Frustration, meinem Schmerz, meiner Wut, meinem Nichtverstehen im Angesicht des Todes meiner Eltern über den Kopf. Das war der Moment, in dem ich verstand, dass ich mich mit dem Verlust auseinandersetzen muss. Es war der Beginn dieses Weges. Einige Zeit danach begann ich über die Themen Tod und Trauer zu recherchieren und zu lesen. Für einen Beitrag interviewte ich einen Bestatter, der mich nach unserem Gespräch fragte, ob ich mir vorstellen könne, Trauerreden zu schreiben? Das war der Moment, in dem mein Leben eine neue Richtung einschlug. Als ich vier Jahre nach dem Tod meiner Eltern zum ersten Mal bei einer Trauerfeier am Pult stand, hatte ich großes Lampenfieber. Aber ich wusste – das hat man selten im Leben – es war genau das, was ich machen will und soll!

Sie beschreiben im Buch die Sinnhaftigkeit Ihrer Arbeit. Nutzt sich dieser Sinn mit den Jahren ab?
Nein. Gar nicht. Es ist jedes Mal anders, bewegend, berührend. Jedes Mal klopft mein Herz, wenn die Musik angeht. Habe ich nichts überhört? Die richtigen Schwerpunkte gesetzt? Wenn ich besonders aufgeregt bin, schaue ich beim ersten Lied zum Sarg und sage in Gedanken zu der Verstorbenen oder dem Verstorbenen: Ich mach das für Dich. Dann beruhigt sich mein Puls.

Was ist Ihnen in den vergangenen Jahren als Trauerrednerin zugewachsen?
Ich bin aufmerksamer und präsenter geworden. Ich bin dankbarer für das, was ich habe. Das war vor dem Tod meiner Eltern nicht so.

Fotos: Gerald von Foris

Was bleibt, wenn wir sterben: Das Buch von Louise Brown erschien bei Diogenes

Hinweis: Vom Fotografen Gerald von Foris erschienen jüngst zwei Bildbände, die wir hier vorstellen und freundlich zum Kauf empfehlen.

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