Gründer Thomas Kirchner über Produktentwicklung: »Die nützlichen Gedanken entstehen erst beim Bauen«

Ein Handschuh, der zugleich Barcodes scannen kann: Mit dem ProGlove traf das Gründerteam rund um den Münchner Maschinenbauer Thomas Kirchner einen Nerv, Investoren finanzierten die Idee bis heute mit mehr als 50 Millionen Euro. Aber wie sieht so eine Start-up-Reise genau aus? Ein Gespräch über Kirchners Weg vom Entwickler zum CEO zum Entwickler, über seine Liebe zu Post-its, echte Ahnungslosigkeit und seine Leidenschaft für eine bestimmte Arbeitsweise. Portraits: Gerald von Foris

Herr Kirchner, was ist ProGlove?
Die Menschen an der Produktionslinie von BMW oder in der Logistik von DHL müssen viel dokumentieren: Sie nehmen meist eine kleine Scanpistole zur Hand und scannen das Teil, das sie als nächstes verbauen oder verladen, dann legen sie die Pistole wieder weg. Wir haben einen solchen Scanner in einen Handschuh eingebaut. Viele Menschen bei BMW oder DHL scannen jetzt mit unserem Handschuh und können sofort weiterarbeiten. Das spart drei bis vier Sekunden je Vorgang.

Weil ich die Scanpistole nicht aufnehmen und weglegen muss?
So ist es. Bei mehreren tausend Scans pro Mitarbeiter am Tag spart das am Ende ganz viel Zeit und Geld. Wir bauen also ein Hardwareprodukt, das für jeden Kunden sofort einen »Return On Invest« erzeugt: Es rechnet sich vom ersten Tag an. Inzwischen arbeiten wir an Software, mit der sich die erfassten Daten aus dem Handschuh noch besser auswerten lassen.

Das heißt?
Wir können die Effizienz der Prozesse erfassen – welche Vorgänge gehen besonders schnell vonstatten, bei welchen treten Probleme auf? Wir sammeln Informationen, visualisieren sie und helfen den Verantwortlichen, ihre Prozesse zu verbessern.

Sie sind zu Effizienzexperten geworden.
Es geht bei unserem Produkt immer auch um Effizienz als Grundproblem. Am Anfang haben wir es mit Hardware gelöst, jetzt ergänzen wir es mit Software.

Wo steht ProGlove gerade?
Sieben Jahre nach Gründung arbeiten 250 Leute bei uns in München, Belgrad und Chicago. Zwei erfahrene Manager, die vorher schon große Unternehmen geführt haben, leiten die Company und wir sind zum ersten Mal Cashflow positiv.

Das heißt?
Wir verdienen Geld. Wir sind unternehmerisch fast erwachsen geworden, würde ich sagen.

»Ich komme aus dem tiefsten Osten, aus der Nähe von Dresden, meine ganze Familie arbeitet im Stahlwerk. Ich wusste bis zu meinem Studium nicht, dass man ein Unternehmen gründen kann.«

Sie haben vor ProGlove schon andere Ideen getestet. Einmal ging es nach meinem Wissen um Computeraccessoires aus Holz.
Wer an der Technischen Universität (TU) München studiert, stößt auf die UnternehmerTUM, das Zentrum für Innovation und Gründung. Die Mitarbeiter dort helfen einem, wenn man gründen möchte. Und dann macht man das halt.

Das sagen Sie so selbstverständlich. Was reizte Sie an dem Angebot?
Ich komme aus dem tiefsten Osten, aus der Nähe von Dresden, meine ganze Familie arbeitet im Stahlwerk. Ich wusste bis zu meinem Studium nicht, dass man ein Unternehmen gründen kann.

Wie meinen Sie das?
Es war mir einfach nicht klar. Die Unternehmer, die ich kenne, betreiben eine Fleischerei oder führen eine KFZ-Werkstatt. Sie sind Selbständige. Als ich für das Maschinenbaustudium an die TU kam, nahm ich diesen unternehmerischen Aspekt erstmal überhaupt nicht wahr. Ich wollte einfach nur mit anderen Leuten zusammenarbeiten und coole Projekte machen. Erst nach und nach wurde mir bewusst: Da kümmern sich wirklich mehr als 300 Leute darum, dass du ein Unternehmen gründest, dass du vorankommst und besser aufgestellt bist für die Zukunft. Ein mega Luxus, den keine andere Stadt in Deutschland hat.

Was war Ihre erste Entwicklung an der UnternehmerTUM?
Mit Paul, einem der ProGlove-Gründer, und einem weiteren Kommilitonen gründete ich zuerst einen Onlineshop für grüne Elektronik. Wir orientierten uns an »Manufactum«: Es sollte ein Laden mit den guten grünen Dingen sein, mit Tastaturen oder Computermäusen aus Holz. Bald aber erkannten Paul und ich, dass Einzelhandel nichts für uns ist. Deshalb zogen wir uns zurück – unser Kollege führt den Laden unter vireo.de noch heute weiter. Danach haben wir, inspiriert von »Uber«, ein Fahrkonzept getestet, das auf Flatrates aufbaute: Die Nutzer sollten nicht pro Fahrt, sondern für einen bestimmten Mobilitätsplan zahlen. Für die Idee fanden wir zwar keinen Investor, lernten dafür aber Jonas kennen, unseren späteren ProGlove-Mitgründer, der auch seine Masterarbeit über Mobilitätsmuster schrieb.

Sie sind testfreudig.
Na klar. Als dann neue Bluetoothstandards rauskamen, überlegten Paul, Jonas und ich, wie sich Hardware-Sensoren kostengünstig mit Dingen verbinden lassen. Unser Kickstarter-Pitch ging so: »Du möchtest alarmiert werden, wenn jemand dein Tagebuch oder deine Geldbörse anfasst oder bewegt? Dann nutze unsere Sensoren und du kannst immer auf den Standort der Dinge zugreifen.«

Gemeinsam mit anderen entwickelte Thomas Kirchner ProGlove, einen Handschuh, der zugleich scannen kann. Foto von Gerald von Foris
Gemeinsam mit anderen entwickelte Thomas Kirchner ProGlove, einen Handschuh, der zugleich scannen kann. Foto von Gerald von Foris

ProGlove kam durch einen Wettbewerb zustande, den Intel ausgeschrieben hatte, richtig?
Wir waren mitten in diesem Sensorprojekt, als Paul eines freitags sagte: »Hey, da gibt es einen Wettbewerb von Intel, bei dem man insgesamt 500.000 Dollar gewinnen kann. Ich hab da eine Idee, Sonntag ist Abgabe.« Ich sagte nur: »Nee, keine Lust auf den Scheiß«, vor allem, weil ich an dem Wochenende keine Zeit hatte. Aber Jonas machte mit. Ich stieß in der folgenden Woche dazu und wir kamen Runde um Runde weiter im Wettbewerb. Schließlich konzentrierten wir unsere Arbeit komplett auf die Ausschreibung und gewannen 100.000 Dollar Preisgeld.

Einmal inspiriert Sie »Uber« zu einer Gründung, dann der neue Bluetoothstandard, später ein Wettbewerb. Was denken Sie: Folgen Sie beim Gründen oder Entwickeln im Kern Ihren eigenen Interessen oder gehen Sie vor allem Impulsen von außen nach?
Ich finde diese Erzählung ja immer lustig, in der Gründer behaupten, sie würden sich schon ein Leben lang zum Beispiel mit Solartechnik beschäftigen, weshalb der Erfolg mit ihrem Solartechnikstartup nur konsequent sei. Eine solche inhaltliche Stringenz halte ich für Quatsch. Zumindest ist sie selten. Gründer nutzen ganz einfach Opportunities, passende Gelegenheiten; das kann ein Wettbewerb sein, das kann die Idee eines Kollegen sein, die so gut ist, dass ich dabei sein will.

»Ich brauche fast immer diesen externen Trigger, durch den ein Grund entsteht, tätig zu werden.«

Also ist vor allem der Zufall der Antrieb für neue Projekte?
Na klar! Wir pflegen hier ja nicht eine Leidenschaft namens »Handschuhe«. Unsere Leidenschaft heißt »Produkte bauen«. Wir wollen ein gutes Produkt erstellen, das einen Wert stiftet. Zum spezifischen Inhalt unserer Leidenschaft kommen wir meiner Erfahrung nach immer durch äußere Einflüsse: Vor uns entsteht eine Möglichkeit, und wir fangen an, darüber nachzudenken.

Okay.
Ehrlich, ich brauche fast immer diesen externen Trigger, durch den ein Grund entsteht, tätig zu werden. Kennen Sie diese Accelerator Programme, in denen Startups weiterentwickelt werden?

Ja, das berühmteste ist »Y Combinator« in Kalifornien, wo unter anderem Airbnb oder Dropbox groß wurden.
Warum machen Gründer dort mit? Weil Ihnen jemand sagt, was sie morgen und übermorgen zu tun haben, was sie abgeben müssen – weil da einer mit der Peitsche steht und sagt: »Mach das!«

Wie fanden Sie zur Leidenschaft »Produkte bauen«?
Über jeden Gegenstand, den wir im Leben sehen, hat sich vorher jemand Gedanken gemacht – über den Stuhl, auf dem ich sitze, über den Stift auf dem Tisch, über die Post-its hinter mir an der Wand. Als ich mir dessen bewusst wurde, fing ich an, mir selbst Gedanken zu machen. Ich erkannte, dass vieles von dem, was in der Welt steht, verbesserungswürdig ist. Die meisten Menschen in meinem Arbeitsumfeld ticken ähnlich. Sie sehen Dinge und sagen: Das geht doch besser. Außerdem sind wir ja nicht nur Gründer, sondern auch Unternehmer und wollen etwas schaffen, das sich hält und womit sich Geld verdienen lässt.

Welche Dinge interessieren Sie überhaupt nicht?
Meine Horrorvorstellung ist, den Außenspiegel eines BMW um drei Prozent windschnittiger zu machen.

Warum?
Ich denke nicht an Rückspiegel, sondern an Autos. Mich interessieren ganze Produkte. Am meisten aber interessieren mich die Menschen in einem Prozess und die Frage, wie ich mit meinen Entwicklungen auf die Bedürfnisse von Menschen reagieren kann.

Sie bekamen 100.000 Euro von Intel. Wie sehen Sie rückblickend dieses Gel?
Das war unsere »Pre Seed-Finanzierung«, das erste Geld, das ein Startup heute vielleicht von einem Business Angel bekommen würde.

Welche Bedeutung hatte die Summe?
Wir hatten das Geld und wussten: Jetzt machen wir den Handschuh auch.

Thomas Kirchner von ProGlove
»Wir hatten nie ein Marketingproblem, die Kunden kamen immer auf uns zu. Das konnten wir den Investoren zeigen: Guckt mal, da sind viele Kunden, die wollen es haben, gebt uns Geld, damit wir es bauen können!«

Danach mussten Sie Ihre Gründerrollen definieren. Warum wurden Sie CEO?
Wir waren in dem Moment zu fünft. Einer von uns, Alex, war gut 15 Jahre älter als der Rest der Gruppe mit ihren gut 27 Jahren. Wir dachten, Alex wäre der richtige CEO, aber er hatte keine Lust. Er kannte uns gut und sagte: »Thomas, du bist der CEO.« Und wenn Alex das sagt, dachten wir, dann wird er recht haben.

Während Ihre Kollegen sich vor allem dem Vertrieb und der Produktentwicklung zuwendeten, kümmerten Sie sich um die Marke, um Pitches, ums Personal. Vermutlich mussten Sie häufig erklären, wie das funktioniert, mit dem Handschuh und dem Scanner und den drei gesparten Sekunden?
Diesen 5 Minuten-Pitch, den ich damals immer neu vor Investoren gehalten habe, kann ich noch heute, im Schlaf.

Wie war der Wechsel vom Entwickler zum CEO?
Die Rolle war natürlich ungewohnt für mich, ich hatte sie vorher nie gelebt. Aber ich ließ mich darauf ein und erkannte, dass sie mir liegt. Ich bin inzwischen gern der Typ, der anderen vorangeht.

Wie haben Sie geführt?
Wir nannten es »Management by Walking Around« und gingen jeden Tag von Mitarbeiterin zu Mitarbeiter und sorgten dafür, dass die Firma in die richtige Richtung fährt. Das machte mir einen Riesenspaß.

Fehlte Ihnen zu jener Zeit das Bauen und Entwickeln?
Nein, ich konnte ja anderen beim Bauen helfen.

»Wir dachten, Alex wäre der richtige CEO, aber er hatte keine Lust. Er kannte uns gut und sagte: »Thomas, du bist der CEO.« Und wenn Alex das sagt, dachten wir, dann wird er recht haben.«

Was war nach dem Gewinn des Wettbewerbs der Meilenstein in der Unternehmensentwicklung?
Das Kundeninteresse. Wir hatten durch den Wettbewerbsgewinn ein bisschen Aufmerksamkeit, und schon lief das Emailfach mit Nachrichten voll: Alle wollten so einen Handschuhscanner haben.

Tatsächlich?
Wir hatten nie ein Marketingproblem, die Kunden kamen immer auf uns zu. Das konnten wir auch den Investoren zeigen: »Guckt mal, da sind viele Kunden, die wollen es haben, gebt uns Geld, damit wir es bauen können!« Und die Investoren vertrauten uns. Das war ein Meilenstein für mich.

Hatten Sie je Sorge, ob Sie die Wünsche und Anforderungen der Kunden auch wirklich erfüllen können?
Bei den Produkten dachte ich immer: Das kriegen wir hin, wir können mit Ingenieurskunst auf jedes Bedürfnis antworten. Worüber wir lange nachgedacht haben, war die Frage, ob wir darauf eine Firma aufbauen können, ob sich von diesem Geschäft Leute bezahlen lassen. Wir erlebten viele bange Momente, waren mehrfach »near death« und wussten: Wenn dieser eine Kunde nicht noch vor Weihnachten bestellt, wenn wir nicht diese eine Investitionsrunde abschließen, können wir keine Gehälter mehr zahlen.

»Wenn man bei uns reinkommt, ist da ein Post-it, auf dem steht: »Build things.« Selber umsetzen ist immer besser als alles andere.«

Sehen Sie Ähnlichkeiten zwischen der Arbeit eines Entwicklers und eines CEOs?
In der Produktentwicklung bauen wir etwas, testen es, holen beim Kunden Feedback ein und bauen neu. Wir gehen immer wieder in diesen Zyklus, der beim Bauen unendlich gut funktioniert. Bei Investoren funktioniert er nicht so gut. Investoren sprechen über Visionen und formulieren mitunter schwammige Ziele. Sie suchen lange nach Sicherheit, die sich selbst mit dem besten Prototypen nicht geben lässt.

Ich verstehe.
Der Typ an der Linie bei BMW wird mir deshalb immer lieber sein als der Investor, weil das Problem des Typen an der Linie klar zu sehen ist. Dafür kann ich immer eine Lösung finden.

Investoren erwarten auch Weiterentwicklung. Haben Sie je Druck gespürt, mehr als den ProGlove zu entwickeln, um nicht zum »One Trick Pony« zu werden?
Zunächst müssen Sie sich bewusst machen, dass ein sehr gutes One Trick Pony Sie weit bringen kann. Wir könnten uns hier voll auf den Handschuhscanner fokussieren, der hat eine gute Marge und einen tollen »Return On Invest«. Mit Blick auf die Märkte haben wir erst 20 Prozent der Möglichkeiten ausgeschöpft. Auf dieser Aussicht können Sie eine megagute Firma bauen.

Okay, verstanden.
Ein gewisser Entwicklungsdruck kommt aber, wie Sie richtig sagen, von Investoren. »Ihr macht ja Hardware«, sagen die. »Dabei hat Software viel höhere Multiples.« Uns war klar, dass die Weiterentwicklung der Softwarekomponente ein gutes Zusatzangebot sein könnte, das die Firma noch steiler gehen lässt. Die Investoren begrüßen, dass wir da nun aktiver sind. Wir haben das aber nie richtig als Druck wahrgenommen.

Studierenden haben Sie mal diesen eingängigen Rat gegeben: »Bauen, Bauen, bauen. Da lernt man was, da kommt man weiter.« Was lernt man beim Bauen?
Wenn man bei uns reinkommt, ist da ein Post-it, auf dem steht: »Build things.« Selber umsetzen ist immer besser als alles andere.

Was ist daran so gut?
Auf dem Weg zu einem fertigen Ding denke ich über Sachen nach, die mir bei der ursprünglichen Ideenentwicklung nie in den Sinn gekommen wären. Die nützlichen Gedanken entstehen immer erst beim Bauen. Daher auch das befriedigende Gefühl, wenn ich fertig bin: Ich habe dann auch inhaltlich das Gefühl, vorangekommen zu sein. Ich kann zu einem Kunden gehen und dem das zeigen und erklären, und der gibt mir Feedback. Und wieder lerne ich total viel. Bauen und Testen, etwas schaffen und dabei weiterkommen – besser kann Arbeit ja nicht sein.

Noch einmal, was genau ist das Befriedigende daran? Ist es eine Form von Welterkundung, die Sie betreiben?
Welterkundung spielt auch eine Rolle, weil ich mehr herausfinde. Wenn ich durch ein besseres Produkt das Problem eines Menschen besser löse, bin ich zufriedener, weil ich Wert generiere, indem ich das Leben des Kunden angenehmer mache. Die Arbeit entlang von Prototypen, die wir immer weiter verändern, bringt uns schneller in solch befriedigende Situationen.

Haben Sie Ihr Bauen-Mantra auch auf die Softwarenentwicklung übertragen?
Ja, wir können Software genauso prototypisieren wie Hardware, ein Stück Code lässt sich ebenso testen wie ein Handschuh. Einmal im Quartal rufen wir zum Hackathon, einer 24 Stunden-Challenge. Dort werden 30 Ideen vorgestellt, dann bilden sich Teams, die innerhalb von 24 Stunden an 15 dieser Ideen arbeiten. Ziel ist immer ein funktionierender Prototyp. Und 80 Prozent dieser Prototypen sind inzwischen Softwareprototypen.

Akuter Post-it-Freund: Thomas Kirchner
Akuter Post-it-Freund: Thomas Kirchner

Im Hintergrund sehe ich bei Ihnen viele Post-its an der Wand.
Einen Block Post-its mit Stift habe ich immer dabei. Bei uns liegen in jedem Raum Post-its, die guten von 3M. Die einzig wahren Stifte dazu sind Sharpies.

»Wir erzeugen mit den Post-its neue Zusammenhänge und entdecken vorhandene Strukturen.«

Was passiert im Arbeiten mit Post-its?
Es hat viele Vorteile. Zum einen passt nicht viel drauf, ich muss mich kurz fassen. Ich kann Gedanken einzeln aufschreiben, die ich dann in verschiedene Kontexte klebe. Wir Menschen sind außerdem total visuelle Wesen: Ich kann einen Gedanken umhängen und sehen, wo er besser funktioniert. Ich kann ihn mit anderen kombinieren, ihn wieder vereinzeln. In der Textverarbeitung am Laptop ist das schwierig.

Der Mensch erkennt unter anderem dort Sinn, wo er Zusammenhänge erkennt. Ist es das, was Sie an der Post-it-Arbeit schätzen?
Absolut: Wir erzeugen neue Zusammenhänge und entdecken vorhandene Strukturen. Gerade war noch ein Wust in meinem Kopf und dann sehe ich: Die wichtigen Gedanken lassen sich auf zum Beispiel vier Post-its reduzieren – und alle anderen Ideen kann ich unter diese vier Zettel ordnen. Ich erkenne eine Struktur, die mir klarer vermittelt, was als nächstes zu tun ist.

Im Jahr 2019 haben Sie Ihren CEO-Job an Andreas König übergeben. Warum?
Wir hatten eine Firma durch Ausprobieren auf 10 Millionen Euro Umsatz gebracht. Wir hatten aber keinen Schimmer, wie wir sie von 10 auf 100 Millionen Euro Umsatz bringen sollten.

Wie kann ich mir diese Schimmerlosigkeit genau vorstellen?
Wir sitzen da als Gruppe und wissen: Ja, also, wir müssen also jetzt wachsen. Wie machen wir das denn jetzt? Und plötzlich sagen alle im Raum: »Keine Ahnung! Noch nie gemacht.« Phasen, in denen wir auf alles Anworten hatten oder fanden, wichen immer häufiger Phasen, in denen wir nicht weiterwussten. Wir fragten die Investoren um Rat, die uns einen Advisor zur Seite stellen, der uns auf der Verkaufsseite helfen sollte. Das war Andreas. Er fand sehr schnell bei uns rein und konnte nicht mehr loslassen, bald kamen auch sonntags Mails von ihm. Irgendwann sagten wir: Wir brauchen eigentlich einen CEO wie Andreas. Schließlich fragten wir ihn, und er sagte überraschenderweise zu.

Fiel Ihnen der Abschied von der Chef-Rolle schwer?
Nö. Wir waren plötzlich alle total relaxt, weil endlich einer im Raum war, der sagte: »So machen wir das.« Was wir vorher mühsam miteinander und gegeneinander diskutieren mussten, entschied nun Andreas aufgrund seiner Erfahrung, zum Beispiel als ehemaliger CEO von Teamviewer. Für uns als Gründerteam war das eine mega Entspannung. Wir behielten unseren Einfluss, haben aber genauso viel zu sagen wie vorher und genug Zeit, über unser nächstes Ding nachzudenken.

»Interessante Probleme erzeugen wie von alleine die Motivation und die Lust auf das Lösen dieser Probleme – und auch den Stolz, wenn es gelingt.«

Sie berichten immer wieder Studierenden von Ihren wichtigsten Gründungserfahrungen. Welchen Rat geben Sie besonders häufig weiter?
Mein Nummer 1-Tipp ist: »Don’t upgrade«.

Was bedeutet das?
Viele wollen eigentlich nach dem Studium gründen, fühlen sich aber nicht reif und arbeiten erst bei einer Unternehmensberatung. Dort verdienen sie 80.000 Euro im Jahr, beziehen eine schöne Wohnung. Wenn sie auf diesem Niveau gründen wollen, müssen sie ihren Lebensstandard wieder runterfahren. Das ist schwer. Deswegen: Don’t upgrade. Behalte deinen niedrigen Lebensstandard und gründe. Dann kannst du nicht so viel verlieren.

Was können Sie über das Führen von Teams weitergeben?
Ich versuche eigentlich immer einen kreativen Raum zu bauen, in den ich die Leute hineinlocke.

Was finde ich in diesem Raum?
Interessante Probleme! Sie erzeugen wie von alleine die Motivation und die Lust auf das Lösen dieser Probleme – und auch den Stolz, wenn es gelingt. Worauf wir große Stücke halten ist außerdem Humor. Humor ist der schnellste Weg, Leute aus einem geschlossenen Modus in einen offenen Modus zu bringen. Humor ist ein Werkzeug fürs Management. Humor aktiviert die Menschen.

Humor ist ein weites Feld. Geben Sie mir ein Beispiel?
Wir hatten hier einen sehr, sehr langweiligen Flur, den ich in vierwöchiger Arbeit zum Museum umgebaut haben.
Wir haben die Wände rot gestrichen und Samtmöbel in den Gang gestellt. An den Wänden hängen jetzt große Bilder: die Mona Lisa zum Beispiel, mit einem ProGlove an der Hand. Auf der gegenüberliegenden Seite hängen Motive von Kollegen, die schon mehr als fünf Jahre im Unternehmen arbeiten – alle als klassische Porträts umgesetzt. Ich bin da als Friedrich der Große im Rahmen zu sehen.

Eine schöne Idee.
Du läufst durch den Gang – und kommst direkt aus dem Museum in unsere Werkstatt. Ich finde das super. In solchen Dingen drückt sich unsere Unternehmenskultur aus.

Portraits: Gerald von Foris

Hinweis: Vom Fotografen Gerald von Foris erschienen jüngst zwei Bildbände, die wir hier vorstellen und freundlich zum Kauf empfehlen.

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