Umweltstaatssekretär Jochen Flasbarth über Klima-Diplomatie: »Frustrierte werden diese Welt nicht retten«

Erfahrene Unterhändler sagen, er versuche stets das Äußerste, um verschiedene Länderinteressen zusammenzubekommen: Jochen Flasbarth, einst Präsident des Umweltbundesamtes sowie des NABU, ist seit 2013 Staatssekretär im Bundesumweltministerium. 2015 führte er mit anderen die Verhandlungen zum Pariser Klimaschutzabkommen. Was er dabei lernte? Ein Gespräch über aktives Moderieren, einen ungeplanten Coup mit dem Begriff »Treibhausgasneutralität« und das Lob eines haitianischen Ministers. Fotos: Gerald von Foris

Herr Flasbarth, Sie führten mit Ministerinnen und Ministern aus der ganzen Welt die Klimaverhandlungen von Paris. Wie blicken Sie nach fünf Jahren auf die Tage in der französischen Hauptstadt?
Das war eine sehr intensive Zeit – allerdings auch schon in den Monaten vor Paris. Der damalige französische Außenminister Laurent Fabius hatte als Präsident der UN-Klimakonferenz (auch »Conference of the Parties«, kurz COP, Anm.) einen sehr guten einjährigen Vorbereitungsprozess auf den Weg gebracht, in den auch ich eingebunden war. Dies alles war eine wichtige Voraussetzung dafür, dass wir am Ende des Verhandlungsmarathons in Paris das Klimaabkommen verabschieden konnten. Das war natürlich für alle eine riesige Erleichterung.

Es gab damals die Befürchtung, dass es nach der Pariser Konferenz »keinen weiteren Schuss« mehr geben könnte. Wie war der Satz zu verstehen?
Er beschrieb die Sorge, dass die Zeit für ein wegweisendes Abkommen davonläuft und speiste sich aus der Frustration über die kollabierten Verhandlungen bei der Klimakonferenz von Kopenhagen 2009. In der Zeit danach gab es einen mehrjährigen Prozess des Neuaufbaus mit einer neuen Denkweise. 

Welche Denkweise meinen Sie?
Bis Kopenhagen wurde versucht, ein »Top Down«-Verfahren zu installieren: Die Wissenschaft sagt uns, wie viele Treibhausgase noch in die Atmosphäre gebracht werden dürfen. Daraufhin sollen sich die Staaten nach einem Algorithmus darauf einigen, wie diese Menge an Emissionsrechten verteilt wird. Das Ergebnis soll in einen Vertrag gegossen werden, der Verstöße sanktioniert. Das war die sehr europazentrierte Denkweise.

Das heißt?
Damals wollten viele einen Vertrag, in dem alles so richtig von oben herab dingfest gemacht wird. Das aber haben sich einige Staaten einfach nicht bieten lassen. Nach 2009 entstand deshalb der heutige »Bottom Up«-Ansatz, der auch vielfach kritisiert wird: Die Staaten formulieren selbst, wie viel sie zum Klimaschutz beitragen können – und zusätzlich gibt es einen Mechanismus, der diese Anstrengungen immer weiter verschärft, verbessert, erhöht.

»Spieltheoretisch ist es eigentlich ausgeschlossen,
in einer Verhandlungssituation mit nahezu 200 Staaten eine einstimmige Lösung zu finden«

In einer Rede zitierten Sie folgende Szene von der Kopenhagener Klimakonferenz: »Der einzige Regierungschef, der nicht von seinem Platz aufgestanden und zur Bühne gegangen ist, sondern aus dem Hintergrund direkt auf die Bühne kam, war Präsident Obama. Derweil saß beispielsweise der chinesische Ministerpräsident wie alle anderen im Saal hinter seinem Schild. Dass das nicht mehr funktionieren konnte und nicht mehr mit dem Selbstbewusstsein von Regierungen aus anderen Teilen der Welt zusammenpasste, wissen wir heute sehr viel besser.«
Das Denken war 2009 noch vielfach davon geprägt, dass Amerika als Führungsmacht im Kern das Geschehen bestimmt. Wir waren aber längst in einer multipolaren Welt angelangt – und das war in den Vorbereitungen zu Kopenhagen noch nicht richtig angelegt. 

In der jährlichen »Conference of the Parties« finden die Länder der Erde zusammen, viele organisieren sich in Gruppen. Während die einen vehement auf die Bedrohung eines steigenden Meeresspiegels für ihre tiefliegenden Inseln hinweisen, bauen andere neue Kohlekraftwerke. Wie entsteht unter diesen Voraussetzungen eine Verhandlungsbasis?
Das ist in der Tat so etwas Ähnliches wie ein Wunder, nicht nur bei den Klimakonferenzen, sondern insgesamt bei den Verhandlungsprozessen der Vereinten Nationen: Fast überall gilt das Einstimmigkeitsprinzip.

Was die Sache, vorsichtig ausgedrückt, nicht einfacher macht.
In meinem Volkswirtschaftsstudium habe ich auch Spieltheorie studiert, und spieltheoretisch ist es eigentlich ausgeschlossen, in einer Verhandlungssituation mit nahezu 200 Staaten eine einstimmige Lösung zu finden. Wie soll das gehen, wenn jeder seine Interessen hat und ein einziges »Nein« genügt, um alles zum Einsturz zu bringen?

Sie müssen es wissen.
Das einzige Pfund, mit dem man solche Verhandlungen zum Erfolg führen kann, ist Verhandlungsgeschick: Es muss gelingen, den Prozess so aufzubauen, dass am Ende alle sagen »Okay, jetzt gebe ich mir einen Ruck und stimme zu«.

 Bundesumweltstaatssekretär Jochen Flasbarth, fotografiert von Gerald von Foris
Bundesumweltstaatssekretär Jochen Flasbarth, fotografiert von Gerald von Foris

Ein erfahrener Diplomat sagte mir, dass es in Verhandlungen unter anderem darum gehe, eine »Ambience of Energy« zu erzeugen, eine Stimmung oder einen Moment, der genau diesen Ruck auslöst.
Ja, das ist so. Es braucht auch ein Quäntchen Glück, damit zum richtigen Zeitpunkt die nötige Empathie entsteht und der gemeinsame Wille, nach vorne zu kommen. Allerdings ersetzt dieser Moment nicht die Vorbereitung der Verhandlungen und viele, viele Gespräche, um die Interessen der Staaten gut zu verstehen. Laurent Fabius hatte vor Paris vier Minister-Vorkonferenzen einberufen, um Vertrauen aufzubauen und Lösungsmöglichkeiten auszuloten. 

Wie sahen diese Konferenzen aus?
Bei jeder Konferenz trafen sich bis zu 50 Ministerinnen und Minister, die die Anliegen der Weltgemeinschaft möglichst gut repräsentierten. In diesen Runden ging es darum, die unterschiedlichen Interessenslagen zu klären. Es gab einige Themen, die absehbar besonders schwer zu lösen waren: Wie gelingt die Ambitionssteigerung über die Zeit, was müssen Staaten zu ihren selbst festgelegten Klimazielen berichten, wie wird Transparenz sichergestellt und welche Finanzierungsmechanismen braucht man? Darum gab es dann den »Facilitating Process«, moderierte kleinere Arbeitsgruppen: Immer zwei Vertreter – je aus einem Industrie- und einem Entwicklungsland – wurden mit der Leitung dieser Gruppen beauftragt. So entwickelte Laurent Fabius einen Pfad zu einer möglichen gemeinsamen Lösung. 

»Mein Kollege aus Gabun und ich haben bewusst nicht nur Sprecherlisten abgearbeitet, wir haben die Leute unterbrochen, sie herausgefordert.«

Welche Gruppe moderierten Sie im Rahmen dieses Prozesses?
Bei den Vorkonferenzen waren das jeweils wechselnde Themen. In Paris selbst befasste sich meine Gruppe mit der Klimafinanzierung: Es ging um die Frage, wie Entwicklungs- und Schwellenländer, die am wenigsten zum jetzigen Klimawandel beigetragen haben, an Geld kommen, um etwa in Klimaschutztechnologien zu investieren.

Was war Ihre Aufgabe?
Ich habe die Gruppe gemeinsam mit dem Außenminister von Gabun moderiert. Und die Aufgabe war von Laurent Fabius klar vorgegeben: Wir sollten eine Einigung herbeiführen, die in das Abkommen Eingang finden konnte.

Wie kam es zu diesem Moderationsduo?
Laurent Fabius war schon in den Vorkonferenzen sehr präsent. Er saß immer wieder in den verschiedenen Arbeitsgruppen und beobachtete den Fortschritt aber auch die Gruppendynamik. Irgendwann sagte ich zu ihm: »Laurent, du nutzt diese Konferenzen doch als Schaulaufen für mögliche Moderatorenpaare in Paris.« Er sagte nichts und lachte nur. Ich glaube, er suchte Paarungen, die funktionieren konnten. Es ging ja darum, eine Verhandlungsatmosphäre zu schaffen, in der Vertrauen entsteht und in der jeder sicher sein kann, dass die Moderatoren keine eigenen Interessen vertreten. 

Ihre Arbeit mündete unter anderem in Artikel 9 des Pariser Klimaabkommens: »Die Vertragsparteien, die entwickelte Länder sind, stellen finanzielle Mittel bereit, um in Fortführung ihrer bestehenden Verpflichtungen aus dem Rahmenübereinkommen die Vertragsparteien, die Entwicklungsländer sind, sowohl bei der Minderung als auch bei der Anpassung zu unterstützen.« Können Sie illustrieren, wie die Arbeit Ihrer Gruppe gelang?
Man darf eine Diskussion nicht einfach laufen lassen. Mein Kollege aus Gabun und ich haben bewusst nicht nur Sprecherlisten abgearbeitet, wir haben die Leute unterbrochen, sie herausgefordert. Also zum Beispiel gesagt: »Ich habe das nicht ganz verstanden, beschreib das doch bitte nochmal genauer.« Oder: »Die Grundhaltung von euch kennen wir, aber sag doch mal präzise, was das an dem Punkt bedeutet.« 

Sie forderten Details ein.
Und wir haben die Teilnehmer vor allem miteinander ins Gespräch gebracht, indem wir sagten »Aus einem anderen Land haben wir vorhin eine Position konträr zu eurer gehört. Könnt ihr mit eurem Argument nochmal auf diese Wortmeldung eingehen, so dass wir den Dissens gut verstehen?« Wir haben eine sehr aktive Moderationsrolle eingenommen. 

Soweit ich es sehe, haben Sie die Statements nicht brav nebeneinander stehen lassen, sondern versucht, sie aufeinander zu beziehen.
Ja, das stimmt. Natürlich ist es auch hilfreich, dass sich in dieser Szene und auch auf Ministerebene viele kennen. Deshalb funktionieren die internationalen Verhandlungsprozesse derzeit auch noch virtuell, weil wir von unserem Sozialkapital zehren, weil wir Netzwerke und Freundschaften aufgebaut haben, die über Positionsgrenzen hinweggehen.

»Es ist wichtig, eine Atmosphäre zu schaffen, in der alle Lust haben,
ein Ergebnis zu erzielen – auch wenn jeder unterschiedliche
Ausgangspunkte und Interessen hat.«

Sie waren Chef des Naturschutzbund Deutschland und des Umweltbundesamtes, heute arbeiten Sie im Bundesumweltministerium. Welche Fähigkeit half Ihnen an den drei Stationen am meisten?
Es macht mir Spaß, Lösungen zu suchen, denen alle Beteiligten am Ende zustimmen können.

Okay.
Es ist wichtig, eine Atmosphäre zu schaffen, in der alle Lust haben, ein Ergebnis zu erzielen – auch wenn jeder unterschiedliche Ausgangspunkte und Interessen hat. Dann kann es gelingen, dass eine Gruppe über sich hinauswächst und mehr zustande bringt als die Summe der Einzelnen, weil alle noch einmal ihre Positionen überprüfen und über mögliche Kompromisse nachdenken.

Das heißt, durch eine empathische Verhandlungsweise …
… werden Lösungen greifbar. Beim NABU war ich zwar Präsident, konnte aber nicht einfach Ansagen treffen. In einem Verband, der ehrenamtlich mit 1500 Ortsgruppen arbeitet, bezweckt ein »Basta« nichts. Wenn ich Dinge nach vorne bewegen will, gibt es keinen anderen Weg als zu überzeugen und Begeisterung auszulösen. Das ist, wie ich heute weiß, in einem Ministerium auch eine gute Herangehensweise. 

In welchem Projekt haben Sie am meisten für die Klimaverhandlungen von Paris gelernt?
Als ich von 2008 bis 2010 den Vorsitz der UN-Biodiversitätskonvention innehatte. Das war ein sehr intensiver Verhandlungsprozess mit Staaten aus der gesamten Welt. Der hatte zwar nicht eine so große politische Aufmerksamkeit wie die Klimaverhandlungen, aber unsere Arbeit führte schließlich zur Weltbiodiversitätsstrategie und zu einem Abkommen gegen Biopiraterie.

Was ist Ihnen in dieser Zeit zugewachsen?
Die Fähigkeit, auch bei internationalen Verhandlungen andere mitzureißen und ihnen auch Lust dazu zu machen, eine Lösung herbeizuführen. 

Da sind wir wieder beim Herstellen einer guten Verhandlungsatmosphäre, nehme ich an.
Ja. Im Vorstand der Konferenz saß damals ein Vertreter aus Haiti. Nach einer zweitägigen Sitzung sagte er mir beim Abendessen den Satz »Mister President, I must say, you make me feel comfortable«. 

Ich habe den Eindruck, dass an entscheidenden Stellen der Klimaverhandlungen immer wieder Werkzeuge oder Begriffe entwickelt werden, die dabei helfen, Streitpunkte zu überwinden. Nach meinem Wissen haben Sie den Dekarbonisierungsansatz in die Verhandlungen eingebracht, also die Idee vom schleichenden Abschied aus der kohlenstoffbasierten Energiegewinnung. Stimmt das?
Nein, das war ich gewiss nicht allein. Deutschland hatte 2015 die G7-Präsidentschaft inne und die Staatsschefs trafen sich im Sommer auf Schloss Elmau. In der Schlusserklärung tauchte zum ersten Mal der Ansatz von der »Dekarbonisierung in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts« auf. Ein solches Ziel hatte es vorher noch nicht gegeben. Daran hatten wir im Umweltministerium viel gearbeitet und dann zusammen mit dem sehr erfahrenen Chefunterhändler Lars-Hendrik Röller aus dem Kanzleramt entsprechende Textvorlagen entwickelt. 

Welche Wirkung hatte der Ansatz auf die Pariser Verhandlungen?
Dort wollten einige Staaten den Begriff »Dekarbonisierung« nicht aufnehmen. Vor allem Indien nicht. Nun habe ich mit Indien immer viel verhandelt, auch bilateral. Spät abends saß ich mit dem damaligen Umweltminister Prakash Javadekar zusammen. Ich habe ihn gefragt: »Was stört euch an dem Begriff Dekarbonisierung?« Er sagte: »Wir wollen nicht, dass CCS ausgeschlossen wird.«

CCS beschreibt Carbon Capture and Storage, also die Möglichkeit, CO2 aus der Luft zu holen und im Boden zu verpressen. Welches Problem hatten die Inder damit?
Indien setzt wie Australien auf sogenannte Green Coal: Sie wollen sich die Option offen halten weiter Kohle zu verstromen, dann aber das CO2 abzuscheiden und unterirdisch einzulagern. Die Sorge der Inder war, dass Dekarbonisierung dem Abschied von der Kohle gleichkommt – selbst wenn sie mit einer Abscheidetechnik verbunden ist. 

»Sehr positiv stimmt mich die aktuelle Dynamik. Die EU spricht von Treibhausgasneutralität für 2050, das wäre vor Jahren undenkbar gewesen.«

Wie haben Sie reagiert?
Ich habe gesagt, dass CCS mit dem Wort Dekarbonisierung nicht ausgeschlossen ist. Wenn wir das in Elmau so gemeint hätten, dann hätte vermutlich kein Staat mitgemacht. Mit dem Argument konnte ich aber nicht überzeugen. Daraus ist die Idee entstanden, nach einem anderen Begriff zu suchen. Wir habe uns dann mit ein paar Leuten zusammen gesetzt und überlegt, wie man das Ziel anders ausdrücken kann. Es geht ja letztlich darum, dass nicht mehr Treibhausgase in die Atmosphäre gelangen, als wieder gebunden werden, etwa in Wäldern und Mooren. Der Begriff Treibhausgasneutralität schien das gut zu beschreiben.

Ja.
Das hat schließlich überzeugt. Der Begriff entpuppte sich zudem als ein ungeplanter Coup, weil »Treibhausgasneutralität« eine viel schärfere Anforderung bedeutet als »Dekarbonisierung«, denn damit geht es nun nicht mehr nur um Kohlendioxid, sondern auch um andere Treibhausgase wie etwa Methan. 

Nun sind seit Paris fünf Jahre vergangen. Eben sind die USA offiziell aus dem Abkommen ausgetreten, eine Regierung unter Joe Biden will wieder beitreten. Sehen Sie Hoffnung für die kommenden fünf Jahre?
Sehr positiv stimmt mich die aktuelle Dynamik. Die EU spricht von Treibhausgasneutralität für 2050, das wäre vor Jahren undenkbar gewesen. Für Deutschland ist sie für 2050 gesetzlich festgelegt, Japan und viele weitere Länder haben sie angekündigt und die Chinesen wollen Kohlenstoffneutralität bis 2060 erreichen. Auch das habe ich bis vor kurzem für ausgeschlossen gehalten. Ich hatte angenommen, dass China zunächst abwartet, was in Amerika passiert. Auch Russland hat das Vertragswerk von Paris im vergangenen Jahr als letzte große Volkswirtschaft auch ratifiziert. Das alles erfüllt mich mit Hoffnung. 

Und doch heißt es bei »Fridays For Future«, es ist nicht genug.
Ja, ich habe kürzlich wieder mit einigen Leuten von Fridays For Future gesprochen und ihnen gesagt »Frustrierte werden diese Welt nicht retten.« 

Das bedeutet?
Ich finde, man muss sich auch über Erfolge freuen können. Es stimmt doch einfach nicht, wenn die Klimaaktivisten von sich selbst sagen »Wir erreichen nichts«. In dem Gespräch habe ich darum darauf geantwortet: »Ihr habt die Welt aus den Angeln gehoben und weltweit in eine viel zu lahme Regierungsarbeit Dampf gebracht. Das ist ein Riesenerfolg.«

Zum Nachlesen: Der Text des Klimaabkommens von Paris. 

Fotos: Gerald von Foris