Die Astronautin Samantha Cristoforetti über Wagnisse: Frag nicht gleich, was dir eine Arbeit bringt, sei vielmehr großzügig mit deinem Engagement
Fast sieben Jahre vergingen vom Beginn der Bewerbung bis zum Start der Rakete: Samantha Cristoforetti beschreibt in »Die lange Reise: Tagebuch einer Astronautin« ihren Weg ins All, auf dem sie sich gegen mehr als 8400 Mitbewerber durchsetzte. Ein Gespräch über Wetten auf die Zukunft, die heilsame Wirkung eines verpatzten Fluges und wie sie sich im Lesen die Welt eroberte. Fotos: Gerald von Foris
Frau Cristoforetti, Sie verbrachten von November 2014 bis Juni 2015 zweihundert Tage auf der Internationalen Raumstation ISS im Weltall. Was machen Sie heute?
Ich arbeite in Köln bei der Europäischen Raumfahrtagentur, kurz ESA. Dort beschäftige ich mich mit Lunar Gateway, einer kleinen Raumstation, die in den nächsten Jahren gebaut wird und ab 2022 um den Mond kreisen soll.
Wozu wird Lunar Gateway dienen?
Die Station ist als Stützpunkt für bemannte Missionen zum Mond gedacht. In der Hauptsache führt die NASA derzeit das Projekt. Wir steuern Technologie und ein eigenes Habitatmodul bei, in dem die Astronauten leben sollen.
Da nützt Ihre Erfahrung, nehme ich an.
Ja, es sollte ein Astronaut involviert sein, um den Blick von Menschen zu haben, die im Weltall gelebt haben.
Sie studierten Luft- und Raumfahrt, unter anderem an der Technischen Universität München. Das Magazin der Hochschule fragte sie einmal nach Ihrem Rat für die Studenten. Sie sagten: ›Lernt nicht um des Lernens Willen, setzt euch ein Ziel und formuliert eine Idee davon, was Ihr mit eurem Leben anstellen wollt; nehmt euch die Zeit und entwickelt eine Vision, auf die ihr hinarbeiten könnt.‹ Hat sich mit Ihrem Aufenthalt im All Ihre persönliche Vision erfüllt?
(Lacht) Natürlich, nach der Zeit im All verspürte ich Freude und Erleichterung zugleich. Ich hatte einen Traum und durfte ihn erfüllen.
Wie lebt es sich mit einer erfüllten Vision?
Ich spüre heute keine Leere, wenn Sie das meinen. Ich hatte nach meiner Rückkehr Zeit, ein Kind zu bekommen, eine Familie zu gründen, ein Buch zu schreiben. Diese Dinge und natürlich meine aktuelle Arbeit haben mich beschäftigt und erfüllen mich. Wahrscheinlich darf ich ja auch noch mal für eine zweite Mission zur ISS.
Es mag kontraintuitiv klingen, aber: Durch mein Beinahe-Scheitern konnte ich mir die Erlaubnis geben, alles andere zu vergessen und mich nur auf diese eine Aufgabe zu fokussieren.
Sie studierten nicht nur, Sie absolvierten in Italien auch eine Ausbildung zur Kampfpilotin. Parallel stiegen Sie in das aufwendige Bewerbungsverfahren der ESA um einen Ausbildungsplatz zur Astronautin ein. In der Zeit fühlte es sich nach Ihren Worten so an, als würden Sie zwei Marathons parallel laufen. Wie haben Sie die viele Arbeit organisiert?
Ich habe einfach sonst nichts anderes gemacht, mein ganzes Leben drehte sich um meine Ausbildung und die Bewerbung. Ich hatte damals keine Familie, niemand litt unter meiner Arbeit, ich konnte mich also mit mir und meinen Träumen beschäftigen. Hinzu kommt, dass ich von Haus aus eine sehr belastbare Person bin. Ich kann sehr viel arbeiten, ohne mich groß auszuruhen.
Sie führten während Ihrer Ausbildung ein tägliches Logbuch. Wurde das zur Grundlage Ihres aktuellen Buchs?
Nicht unbedingt, das Logbuch begann ich 500 Tage vor dem Start, 2013, als ich absehen konnte, wann ich zur ISS fliege. Mein Buch aber beginnt früher, 2008, mit dem Beginn meiner Bewerbung. Die fünf Jahre bis zum Beginn des Logbuchs musste ich deshalb mühsam aus E-Mails rekonstruieren, weil ich leider kein Tagebuch geführt hatte.
Was suchten Sie in den Mails?
Daten, die Abfolge von Fakten. Ich wollte ein Zeitdokument entstehen lassen, wollte aber auch die Emotionen zurückholen: Wie habe ich Freunden und Kollegen was wann erzählt?
Zwei Begriffe fielen mir in Ihrem Buch auf: Hier die Vision und die Sehnsucht, Astronautin zu werden, dort die große Ungewissheit, ob es denn klappt. Wie gingen Sie mit dieser Ambivalenz um?
Ich musste all die Zeit mehr oder weniger davon ausgehen, dass ich Astronautin werde. Anders geht es nicht, alle Arbeit war täglich darauf ausgerichtet, dass es gut geht. Zwar blieb das Gefühl der Ungewissheit in meinem Kopf, ganz hinten – aber es wäre kontraproduktiv gewesen, mich täglich damit zu beschäftigen.
Das intensive Bewerbungsverfahren lenkte Sie immer wieder ab. Sie beschreiben, wie sie während eines Testfluges mit Kollegen im Rahmen eines Lehrgangs bei der Luftwaffe in eine gefährliche Situation gerieten, weil Ihr Kopf woanders war – die Bewerbung beanspruchte Sie und Sie erfuhren von der unheilbaren Krankheit einer Verwandten. Welche Wirkung hatte dieser Tag auf Ihre Arbeit?
Manchmal ist es eine Erleichterung, wenn etwas Unvorhergesehenes oder auch Unangenehmes geschieht und die Prioritäten verschiebt. Nichts trägt stärker zur Mobilisierung der Konzentrationskraft bei als eine drohende Gefahr. Es mag kontraintuitiv klingen, aber: Durch mein Beinahe-Scheitern konnte ich mir die Erlaubnis geben, alles andere zu vergessen und mich nur auf diese eine Aufgabe zu fokussieren.
Während der Ausbildung trainierten Sie auch in der größten Humanzentrifuge der Welt, in der die Beschleunigung während des Starts simuliert wird. Sie nutzten die Atemtechnik aus Ihrer Yogapraxis, um gegen den steigenden Druck auf Ihre Brust anzuatmen. Ihr Fazit: ›In diesem Beruf erweist sich alles, was man in seinem Leben gelernt hat, irgendwann als nützlich.‹
Allerdings. Die Ausbildung geht nicht unbedingt in die Tiefe. Es gibt jede Menge Menschen, die einzelne Teile besser beherrschen als wir Astronauten. Bei uns geht es darum, in der Breite zu lernen, alles ein bisschen zu beherrschen.
Sie schreiben, Astronauten sollten aus keinem Feld herausragen, aber auch keine Anforderung unterschreiten.
Ja, genau so ist es.
Ich hatte durch die Bücher das Gefühl, dass die Welt mir gehört und dass ich der Welt gehöre.
Als Kind und Jugendliche haben Sie viel gelesen. Inwiefern hat die Literatur Ihren Wunsch geprägt, Astronautin zu werden?
Ich wuchs in einem kleinen Dorf in den italienischen Alpen auf. Bei uns in der Familie gab es keine Freunde oder Bekannte, die Wissenschaftler, Ingenieure oder Astronauten gewesen wären. Durch das Lesen entdeckte ich die Welt und die Möglichkeiten, die es da draußen gibt. Ich hatte durch das Lesen immer das Gefühl, dass ich dazugehöre.
Was meinen Sie mit ›dazugehören‹?
In Interviews höre ich häufig die Frage: Wie kommt ein kleines Mädchen aus einem kleinen Dorf in den Bergen auf die Idee, Astronautin zu werden? Meine Antwort lautet: durch das Lesen von Büchern über Marco Polo und viele weitere Entdecker. Ich hatte durch meine Bücher das Gefühl, dass die Welt mir gehört und dass ich der Welt gehöre.
Sie verbinden in Ihrem Buch die Erzählungen aus der Astronautenausbildung immer wieder mit Sentenzen aus der Literatur. Einem Kapitel stellen Sie dieses großartige Zitat aus Antoine de Saint-Exupérys »Flug nach Arras« voran: »Jetzt läuft die Zeit nicht mehr im Leerlauf. Endlich habe ich eine Aufgabe. Ich schaue nicht mehr in eine gesichtslose Zukunft. … Sie setzt sich nun aus meinen Handlungen zusammen.«
An der Stelle ging eine Phase des Wartens zu Ende und endlich, endlich begann die Ausbildung. Es fühlte sich so gut an, dass ich an der Zukunft arbeiten durfte, von der ich immer nur geträumt hatte – Stein für Stein etwas aufbauen, weitergehen.
Nach Ihren Worten lernten Sie in der Luftwaffe Disziplin, Demut, Resilienz, realistische Selbsteinschätzung, Teamfähigkeit und Leadership. Welche dieser Fähigkeiten war entscheidend?
Eine schwierige Frage. Ich kann kaum sagen, welcher Aspekt besonders wichtig ist, weil die einzelnen Punkte zueinander in einer Balance stehen. Nehme ich eine Komponente raus, kippt der Rest. Technisch sehr begabte Astronauten, die nicht teamfähig sind, lassen sich nicht in einer Crew einsetzen. Gleiches gilt für teamfähige Astronauten ohne Technikkenntnisse.
Sie benötigen als Astronautin also nicht die eine, hervorragende Fähigkeit, es geht um das Set?
Deswegen werden wir so sorgfältig ausgewählt: Wir sind nicht die Besten, wir sind die am besten Geeigneten für diesen Job.
Manchmal aber muss ich etwas riskieren; manchmal ist es gut, auf eine Möglichkeit zu wetten, deren Realisierbarkeit oder Nützlichkeit ich nur ungefähr abschätzen kann.
Sie haben eine lange Reise hinter sich, womöglich die spannendste, die ein Mensch erleben kann. Welchen Rat geben Sie jenen, die gerade vor einem Neuanfang stehen, die gerade ihren Abschluss in der Tasche haben, die sich wie Sie 2008 auf den Weg machen?
Frag nicht gleich, was dir eine Arbeit bringt, sei vielmehr großzügig mit deinem Engagement und auch mit dir selbst. Sieht ein Projekt zumindest vielversprechend aus? Dann sei spontan und großzügig und fang einfach an. Nicht alles wird etwas bringen, nicht jeder Moment und jede Begegnung werden nützlich sein. Aber du lernst und wirst stärker, fähiger.
Das ist eine interessante Sichtweise.
Ich habe den Eindruck, vielen Menschen mangelt es an Großzügigkeit mit sich selbst: Sie fragen schnell nach dem Blueprint, nach der Blaupause für effizientes Arbeiten, sie suchen nach einer Abkürzung. Manchmal aber muss ich etwas riskieren; manchmal ist es gut, auf eine Möglichkeit zu wetten, deren Realisierbarkeit oder Nützlichkeit ich nur ungefähr abschätzen kann.
Wann wurde Ihnen bewusst, dass Sie selbst mit sich so großzügig sein können?
Ich bin vermutlich mit dieser Einstellung aufgewachsen. Dass Großzügigkeit im Umgang mit den eigenen Ideen und Absichten hilfreich sein kann, ist mir allerdings erst irgendwann in der Rückschau bewusst geworden. Zum Beispiel verbrachte ich mein letztes Studienjahr in Russland. Fachlich entpuppte sich der Stoff dort als nicht so relevant, er war auch nicht besonders spannend. Kommilitonen warnten mich sogar, dass mir der Aufenthalt für eine mögliche Bewerbung in westeuropäischen Unternehmen wenig bringen würde. Trotzdem zog ich nach Moskau und ich hatte durchaus auch Schwierigkeiten, in die neue Kultur zu finden. Aber: Ich lernte gut Russisch. Als ich zum Ende der Grundausbildung der Astronauten ins »Sternenstädtchen« nördlich von Moskau zog – dort wurden wir unter anderem in die Betriebsabläufe des Sojus-Raumschiffs eingeführt – gehörte ich sofort dazu: Ich sprach die Sprache und die Menschen nahmen mich sofort anders wahr. Dieses Jahr in Russland, zehn Jahre vorher, kam mir rückblickend wie eine Wette vor: Ich wettete damals unbewusst darauf, dass sich dieser Trip lohnen könnte. Und er lohnte sich, wenn auch erst zehn Jahre später.
Sie dürfen sehr wahrscheinlich ein zweites Mal ins All. Kennen Sie schon das Datum der Reise?
Ich weiß es nicht genau, aber um 2022 herum könnte es wieder so weit sein.
Freuen Sie sich darauf?
Und wie!
»Die Lange Reise: Tagebuch einer Astronautin« erschien bei Penguin.
Fotos: Gerald von Foris